| # taz.de -- Soziologe über Silvester vor einem Jahr: „Die Diskussion ist ver… | |
| > Damals schien eine Fantasie von Rechten wahrgeworden zu sein. Armin | |
| > Nassehi erklärt, warum diese Nacht mehr beeindruckt hat als | |
| > Terroranschläge. | |
| Bild: Vom Dom auf den Hauptbahnhof geblickt: Wie wird Silvester diesmal werden? | |
| taz.am wochenende: Herr Nassehi, die Silvesternacht von Köln ist ein Jahr | |
| her. Seitdem gab es Anschläge in Würzburg, Ansbach und zuletzt in Berlin. | |
| Sticht Köln unter diesen Ereignissen noch heraus? | |
| Armin Nassehi: Ja, denn die Terrorattacken waren stets Taten konkreter | |
| einzelner Personen, die sich letztlich von der Masse der Flüchtlinge | |
| unterschieden haben. Köln dagegen wirkte wie eine Massenerscheinung. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Da ist ein Bild lebendig geworden, ein Klischee fast. Fremde, denen man | |
| sonst normal in der Stadt begegnet, werden plötzlich zu einer kollektiven | |
| Bedrohung. Die Täter in Köln wurden oft als amorphe Masse von Menschen | |
| beschrieben, die alle gleich wild sind, gleich gefährlich. Selbst wenn man | |
| das nicht selbst gesehen hat, konnte man es sich plastisch vorstellen. | |
| Wie aus einer Pegida-Fantasie entsprungen. | |
| Ja. Inzwischen wissen wir, dass etwa die Hälfte der Leute damals | |
| Flüchtlinge waren und die andere Hälfte Menschen mit Migrationshintergrund, | |
| die schon länger in Deutschland sind und aus zum Teil sehr problematischen, | |
| ethnisch segregierten Milieus stammen. Diese haben sich perfiderweise im | |
| Windschatten einer großen Zahl von Flüchtlingen bewegt. Von außen sah dies | |
| aber für die angegriffenen Frauen und noch mehr für die öffentliche | |
| Diskussion wie eine homogene Gruppe aus. | |
| Hat diese Männer etwas verbunden? | |
| Als Wissenschaftler bringe ich meinen Studenten bei, dass das Reden über | |
| Kulturen und über Großgruppen viel mehr Identität produziert, als | |
| eigentlich da ist. Gruppen, die wir von außen klar identifizieren, sind in | |
| sich sehr heterogen. Auf der anderen Seite hat an diesem Silvesterabend | |
| auch ein kultureller Clash stattgefunden. Das waren Männer aus | |
| autoritäreren Erziehungszusammenhängen, als die meisten sie in Deutschland | |
| kennen. Menschen aus Gesellschaften, in denen traditionale Herrschaft eine | |
| große Rolle spielt, insbesondere in solchen Ländern, aus denen die Täter | |
| vor allem stammten. | |
| Sie fühlen sich sichtlich unwohl, wenn Sie das sagen. | |
| Es ist ein Dilemma. Benutze ich gerade ein pauschalisierendes | |
| kulturalisierendes Argument? Oder bringe ich als Wissenschaftler angemessen | |
| zum Ausdruck, dass es kein Zufall ist, dass diese Männer aus bestimmten | |
| Familienstrukturen kommen, in denen Ehre, Bindung an die eigene Familie, | |
| Religion als Identitätsressource und die Orientierung an patriarchalen | |
| Peergroups eine starke Rolle spielen? Das Dilemma beginnt aber schon bei | |
| der Identifizierung solchen kulturellen Eigensinns, weil dieser eben nicht | |
| alles erklärt, ganz abgesehen davon, dass die Sozialstruktur in Banden, die | |
| rechte Gewalttaten begehen, sehr ähnlich ist. Letztlich ist die gesamte | |
| Kommunikation über diese Fragen vergiftet, weil jeder zu starke | |
| Kollektivbegriff ebenso falsch ist wie die Leugnung dieser Migrations- und | |
| Fluchtfolgen. Köln war der sichtbarste Kulminationspunkt dieses Dilemmas, | |
| auch wenn all das nur für einen verschwindend kleinen Anteil an der | |
| migrantischen Bevölkerung gilt. | |
| Inzwischen wurden einige der Täter wegen Diebstahls verurteilt, zwei wegen | |
| sexueller Belästigung. Kann es eine angemessene Aufarbeitung geben? | |
| Kaum. Die Nacht von Köln hat inzwischen fast etwas Mythisches. Die Leute | |
| sagen „Köln“ oder „Domplatte“, und jeder weiß, was gemeint ist. Zugle… | |
| können wir immer noch nicht wirklich sagen, was genau passiert ist. Die | |
| Beweise waren schwer zu sichern, die Polizei überfordert. Der Rechtsstaat | |
| kann den Betroffenen keinen erlösenden Abschluss geben. Er kann nur | |
| bestrafen, was beweisbar ist. Das ist übrigens ein Zeichen dafür, dass er | |
| wirklich nach rechtsstaatlichen Kriterien funktioniert. Gleichzeitig muss | |
| das für viele der betroffenen Frauen zynisch klingen. | |
| Rechte haben für dieses Ereignis sofort eine Sprache gefunden. Viele Linke | |
| taten sich schwer. Warum? | |
| Es gibt in der Kommunikation eine Hypersensibilität, womöglich rassistisch | |
| zu sein, wenn überhaupt auf Differenzen hingewiesen wird. Das ist übrigens | |
| auch Ausdruck einer gewissen Verlogenheit in linken | |
| Argumentationsstrukturen, die der Herkunft und der kulturellen | |
| Zugehörigkeit damit auch zu viel Aufmerksamkeit schenken – und nun kreuzt | |
| sich diese manchmal etwas neurotische Sensibilität mit dem Vorwurf des | |
| Sexismus. Welches Anliegen wiegt schwerer? Einige haben versucht, dem zu | |
| entkommen, indem sie relativiert haben. So etwas würde es auch auf dem | |
| Oktoberfest geben. Das aber wurde auch als Verhöhnung der Opfer empfunden. | |
| Warum verhöhnt man jemanden, wenn man sagt: Ein solches Benehmen kommt mir | |
| von Festen in Deutschland bekannt vor. | |
| Es wurde als Verhöhnung empfunden, denn dieses Verhalten in Köln war in | |
| seiner Konzentration und Dynamik schon einmalig. Die Aufrechnung wirkte wie | |
| ein Beweis dafür, dass linke und feministische Gruppen für negative Flucht- | |
| und Migrationsfolgen völlig unsensibel sind, selbst wenn es sich nur um | |
| einen Bruchteil der migrantischen Bevölkerung handelt. Deshalb konnte sich | |
| diese Nacht auch zum Symbol für die gescheiterte multikulturelle | |
| Gesellschaft entwickeln. Jeder relativierende Satz klingt nach einem | |
| Wunsch, die Ereignisse zu verfälschen, weil man sie gern anders hätte. Das | |
| zeigt auch, dass wir in Deutschland keine Übung darin haben, kontrovers | |
| über Migrationsfolgen zu diskutieren. | |
| Diskutieren wir nicht ständig? | |
| Aber wir drücken uns vor Unbequemem. Schauen Sie mal, wie schwierig es für | |
| Linke oft ist, über die Herkunft der Männer in Köln zu diskutieren. Dabei | |
| ist es ein Grundsatz linken Denkens, dass konkrete Lebenslagen uns prägen. | |
| Also auch kulturelle Prägungen. Man muss schlicht zur Kenntnis nehmen, dass | |
| manche Standards und Erfahrungen in den öffentlichen und privaten | |
| Institutionen vieler Herkunftsländer zum Teil nicht kompatibel sind mit den | |
| europäischen. Das ist kein kulturalisierendes Argument. Davor die Augen zu | |
| verschließen, verharmlost die Dimension mancher Ereignisse. Und dass es | |
| solche inkompatiblen Gruppen auch in Europa selbst gibt, etwa in | |
| gewaltbereiten rechten Peergroups, macht die Sache nicht besser. Die Zahl | |
| der Übergriffe von rechts auf Flüchtlinge und Migranten spricht da eine | |
| deutliche Sprache. Zugleich muss soziologisch betont werden, dass | |
| Beschreibungen wie „die Nordafrikaner“, „die Schwarzen“, „die Frauen�… | |
| empirisch kaum haltbar sind, weil die Unterschiede innerhalb dieser Gruppen | |
| groß sind. Trotzdem gibt es kulturelle Differenz, trotzdem gibt es | |
| kulturelle Konflikte. Auch wenn es unbequem ist, müssen gerade die | |
| Wohlmeinenden ernsthafter über diese Dinge nachdenken. Wir können das nicht | |
| denen überlassen, die sagen: Ich hab es doch schon immer gewusst. | |
| Nach dem Berliner Anschlag wurde schnell die mögliche Herkunft des Täters | |
| genannt. War die Diskussion angemessener als nach Köln? | |
| Es gab zwei Phasen. In der ersten haben die einen gehofft, dass es kein | |
| Flüchtling ist, ich auch. Ich hatte Sorge, dass danach gar keine | |
| vernünftige Diskussion mehr über die Folgen von Einwanderung und Flucht | |
| möglich ist. Die anderen haben gehofft, dass es einer ist, weil es ihrer | |
| Politik dient. In der zweiten Phase wurde dann vergleichsweise | |
| differenziert über den Täter gesprochen, auch über die Strategie des | |
| „Islamischen Staates“. | |
| Glauben Sie, es spielt für viele Deutsche tatsächlich eine Rolle, welchen | |
| Status der Täter hatte, ob er Flüchtling oder sonstiger Einwanderer war? | |
| Nein, für viele Leute wohl nicht. Aber der Ton in der Debatte war moderat. | |
| Die AfD und die Identitären konnten für ihre Demonstrationen kurz nach den | |
| Anschlägen nicht viele Leute mobilisieren. Dafür waren viele Muslime auf | |
| den Straßen zu sehen, die gegen diese Gewalt demonstriert und Trauer | |
| gezeigt haben. Das war beeindruckend. | |
| Ist das der Anfang eines neuen Wir, das sich gegen die Angststrategie von | |
| IS und AfD gleichermaßen richtet? | |
| Manche wollen es dazu machen, aber ich halte nichts davon, zumal solche | |
| Bekenntnisse zu einem Wir recht wohlfeil sind. Die Stimmung nach einem | |
| Anschlag hat etwas Charismatisches: Alle stehen zusammen, machen sich Mut, | |
| zeigen den anderen, dass es weitergeht. Das ähnelt sehr der Funktion von | |
| Trauerritualen, wie wir sie aus den Religionen kennen. Aber dieses Charisma | |
| hält nur kurze Zeit. Auch dieses charismatische Wir ist nicht haltbar. Es | |
| bedient das Bedürfnis nach starken Sätzen und moralischer Wohlgenährtheit, | |
| ist aber politisch letztlich bedeutungslos. | |
| Befürchten Sie, dieses Wir könnte von Politikern instrumentalisiert werden? | |
| Das würde dann vielleicht „Leitkultur“ heißen. In modernen, liberalen | |
| Gesellschaften sollte es schlicht so wenig Wir wie möglich geben, denn | |
| Integration – aller Gruppen der Bevölkerung – ist kein Bekenntnisproblem, | |
| sondern eine Frage der Praxis. Integration heißt, sich gegenseitig | |
| auszuhalten und den Anstand zu haben, dem anderen nicht auf die Pelle zu | |
| rücken. Die Frage ist dann, unter welchen Bedingungen das möglich ist. | |
| Stark segregierte, patriarchal dominierte Communitys von Migranten stehen | |
| dem ebenso entgegen wie der kleinbürgerliche Generalverdacht auf alles | |
| andere. | |
| Derzeit wirkt der öffentliche Diskurs obszön. Linke freuen sich in sozialen | |
| Netzwerken, weil der Mann, der eine Frau in Berlin eine Treppe | |
| hinuntergetreten hat, ein christlicher Bulgare ist und kein Syrer. Die | |
| Jugendlichen, die einen Wohnungslosen in Berlin anzünden wollten, sind | |
| Flüchtlinge, da jubeln die Rechten. | |
| Viele empfinden diese Zeit als unübersichtlich, Linke wie Rechte. Es greift | |
| so etwas wie ein wahrnehmungstechnisches Grundgesetz: Werden Dinge | |
| kompliziert, hält man sich an Sichtbarkeiten. Nichts erzeugt mehr | |
| Aufmerksamkeit und Ordnung als: Herkunft, Hautfarbe, Religion, Sprache. | |
| Natürlich bedeuten diese Merkmale etwas, aber eben nicht alles. Was all | |
| diesen Abweichungen gemein ist, ist, dass es sich um stark männlich | |
| dominierte Peergroups handelt, in denen die Übertretung von Regeln kein | |
| abweichendes Verhalten ist, sondern die konforme Bedingung, dazugehören zu | |
| können. | |
| Ein linker Leipziger Club hat kürzlich in einem offenen Brief geschrieben, | |
| dass es Probleme mit sexuellen Übergriffen durch Gäste gab, die Flüchtlinge | |
| waren. | |
| Ich bin gelernter Pädagoge, und eine der Erfahrungen, die man in diesem | |
| Beruf macht, ist, dass die Menschen, für die man sich einsetzt, durchaus | |
| Arschlöcher sein können. Diese Leute in Leipzig waren klug genug, sich | |
| nicht wegzustehlen und auch nicht einfach die Seiten zu wechseln, sondern | |
| zuzugeben, dass sie in einem Dilemma stecken. | |
| Einige Linke meinten, man hätte das lieber unter sich regeln sollen. | |
| Zum Glück haben sie das nicht getan. Wir sollten über jeden froh sein, der | |
| zugeben kann, in einem Dilemma zu stecken. Unser politischer Diskurs krankt | |
| daran, dass zu wenige Menschen den Mut dazu haben. Das gilt nicht nur für | |
| Linke. | |
| Dilemmata zu äußern ist unattraktiv. Der Satz, dass die Welt kompliziert | |
| ist, lässt Politiker nicht gerade stark erscheinen. | |
| Stimmt, Wahlen werden derzeit eher mit Simplifizierungen gewonnen. Aber wo | |
| es um glaubwürdige Entscheidungen geht, kommt die Simplifizierung schnell | |
| an ihr Ende. Hätte Merkels „Wir schaffen das“ die zugehörigen Dilemmata | |
| wenigstens angedeutet, hätten es die hasserfüllten Kampagnen gegen die | |
| Flüchtlingspolitik womöglich schwerer gehabt. | |
| Wer ein Dilemma zugibt, muss damit rechnen, Beifall von der falschen Seite | |
| zu bekommen … | |
| … sonst wäre es kein Dilemma. Diese Angst vor der Reaktion ist ein | |
| Kennzeichen der tribalisierten Verhältnisse, in denen wir leben. „Tribe“ | |
| ist das englische Wort für Stamm. Wir fühlen uns dem eigenen Lager | |
| zugehörig und sollen möglichst nichts tun, was dem anderen Lager gefallen | |
| könnte. Ich habe in einer Rede einmal die operative Integrationspolitik der | |
| CSU gelobt. Die geht, sieht man von dem Leitkultur-Unsinn und den | |
| populistischen semantischen Überschüssen ab, in Bayern wirklich in die | |
| richtige Richtung. Dafür habe ich erhebliche Kritik einstecken müssen. Auch | |
| dafür, dass ich sechs Wochen vor Köln darüber geschrieben habe, dass junge, | |
| unterbeschäftigte Männer im öffentlichen Raum Probleme produzieren könnten. | |
| Warum? Aus Kriminalitätsstatistiken geht hervor, dass junge Männer eine | |
| gefährliche Gruppe sind. Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen und musste | |
| lernen, solchen Gruppen auszuweichen. | |
| Viele Wohlmeinende hätten kein Problem, das über rechtsextreme, | |
| gewaltbereite männliche Peergroups in Ostdeutschland zu sagen, aber bei | |
| Flüchtlingen hat man Angst, als rassistisch zu gelten. So simpel sind die | |
| semantischen Verhältnisse manchmal. Gut und böse, schwarz und weiß, statt | |
| empirisch genauer hinzusehen. | |
| Manches an den Flüchtlingsdebatten erinnert an Diskussionen in Ländern, in | |
| denen Krieg herrscht. In der Ukraine etwa wird Menschen mit anderer Meinung | |
| öfter vorgeworfen, sie würden dem Feind helfen. | |
| Es gibt eine Ähnlichkeit. Was wir seit einigen Jahren erleben, ist ein | |
| erbitterter werdender Kulturkampf darüber, wer die narrative Autorität hat, | |
| darüber zu entscheiden, was sagbare Sätze sind, was als „normal“ gilt. | |
| Nicht aus Zufall sind Themen wie die Familienpolitik, die | |
| Geschlechterrollen, die sexuelle Orientierung und die Frage der Migration | |
| die entscheidenden Trigger für diesen Kulturkampf. | |
| Sind das die Marginalisierten und Abgehängten, von denen gerade oft die | |
| Rede ist? | |
| Es gibt ganz ohne Zweifel ein Problem mit der ökonomischen Prekarisierung | |
| mancher Bevölkerungsgruppen, aber damit lässt sich der Erfolg | |
| rechtspopulistischen, fremdenfeindlichen und reaktionären Denkens nicht | |
| erklären. Diese rein ökonomische These klingt manchmal fast wie das linke | |
| Äquivalent zu der unterkomplexen AfD-Geschichte der angeblichen | |
| Überfremdung als Erklärung für fast alles. Es gibt inzwischen eine | |
| Prekarität in den wohlsituierten Schichten. Diese sind | |
| Modernisierungsverlierer in dem Sinn, dass sie die Autorität verloren | |
| haben, widerspruchsfrei zu sagen, was das richtige Leben sei. | |
| Aber diese Entwicklung gibt es doch schon länger. | |
| Ja, seit drei Jahrzehnten diagnostizieren die Sozialwissenschaften immer | |
| neue Unübersichtlichkeiten – und unterschätzen dabei die Beharrungskräfte | |
| eingespielter Institutionen und Lebensformen. Es entsteht ein Kulturkampf | |
| zwischen Gewinnern und Verlierern im Kampf um die Definitionsmacht und um | |
| das, was sagbar ist. In dieses Kampffeld kommt jetzt der bisher | |
| ausgeschlossene Dritte, der Flüchtling. Mit ihm kann sich die eine Seite | |
| solidarisieren und die andere nicht. Für die, die sich in ihrer | |
| Definitionsmacht abgehängt fühlen, sind die Flüchtlinge der Beweis dafür, | |
| dass hier alles falsch läuft. | |
| Vieles davon klingt nach dem, was die CDU früher auch erzählt hat. | |
| Mindestens bis in die 1970er Jahre, ja. Der Wandel lässt sich an der Union | |
| am deutlichsten ablesen. | |
| Wie grundsätzlich ist der Machtwechsel bei denen, die mitbestimmen, was als | |
| normal gilt? So grundsätzlich wie der Wechsel vom Adel zum Bürgertum als | |
| führende Schicht? | |
| Ich würde nicht von einem wirklichen Epochenwandel sprechen. Ganz im | |
| Gegenteil: Es ist eher so, als würde sich das, was die Aufklärung seit | |
| ihrem Beginn versprochen hat, nun weiter fortsetzen. Es ging immer darum, | |
| neue Sprecher zu etablieren: die unteren Schichten, die konfessionell | |
| anderen, die Frauen, die kulturell und ethnisch anderen, die Homosexuellen. | |
| Es gibt immer weniger Gruppen, die widerspruchsfrei sagen können, wo der | |
| Hammer hängt. Bis vor Kurzem war das noch ein Privileg für gut gebildete | |
| einheimische heterosexuelle Männer mit Karrieren … | |
| … für alte weiße Männer also. | |
| So werden sie despektierlich genannt, als kulturelles Gegensymbol für neue | |
| Ansprüche. An manchen Punkten ist das sicherlich semantisch übertrieben | |
| worden, etwa in universitären Milieus. Aber all das ist ja nur ein Symbol | |
| dafür, dass die Frage der Definitionsmacht über das, was gelten soll, | |
| unübersichtlicher geworden ist. Jedenfalls machen diese Ansprüche die Welt | |
| nicht einfacher, dafür ordnen sie Machtoptionen neu. Der Rechtspopulismus | |
| in ganz Europa hat jedenfalls den Fokus von den Verteilungsfragen auf die | |
| kulturellen Definitionsfragen verlagert. | |
| Was ist die Utopie der AfD? | |
| Die fünfziger Jahre. Deshalb springen sie auf alles an, was damals anders | |
| war. Warum interessiert man sich heute für Geschlechterrollen? Warum | |
| interessiert man sich für Sexualität? Warum redet man über Migration? Weil | |
| es die Zeit des autarken homogenen Nationalstaats war, in dem der Ausländer | |
| wirklich noch der Fremde war. Da war selbst der Franzose ein Fremder. Das | |
| könnte heute allerdings nicht einmal die AfD formulieren, ohne dass es | |
| lächerlich klingt. Die Utopie ist eine weniger unübersichtliche | |
| Gesellschaft. | |
| Und was ist die Gegenutopie: mehr Unübersichtlichkeit? Klingt nicht | |
| unbedingt verlockend. | |
| Die Frage ist, wie wir in einer volatilen Welt abweichungsresistenter | |
| werden können, wie wir das andere besser aushalten können. Da das im Moment | |
| schwierig ist, begnügen sich viele mit sehr einfachen Erklärungen. Das | |
| reicht vom ganzen Arsenal der rechten Kulturkritik bis hin zu der linken | |
| Illusion, es sei alles nur ein Verteilungsproblem. Vielleicht brauchen wir | |
| ein ganz neues Verständnis davon, was moderne Lebenslagen ausmacht, die wir | |
| uns womöglich immer noch viel zu sehr in den Kategorien der Institutionen | |
| der klassischen Industriegesellschaft vorstellen. | |
| 31 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Schulz | |
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