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# taz.de -- Experte über Studie zu sexualisierter Gewalt: „Wir Erwachsenen m…
> Fast ein Viertel der Mädchen hat Vergewaltigungsversuche erlebt. Bei
> diversgeschlechtlichen Jugendlichen sind es noch mehr, sagt der
> Sexualforscher Heinz-Jürgen Voß.
Bild: Fast ein Viertel der Mädchen hat schon mal einen Vergewaltigungsversuch …
taz: Herr Voß, Sie haben rund 860 Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren
[1][zu sexueller Bildung und sexualisierter Gewalt] befragt. Was waren die
zentralen Ergebnisse?
Heinz-Jürgen Voß: Mädchen und junge Menschen mit diverser
Geschlechtsidentität haben sich zu nahezu 100 Prozent schon belästigt
gefühlt, zum Beispiel durch [2][Cat Calling]. Fast ein Viertel der Mädchen
hat schon mal einen Vergewaltigungsversuch erlebt, bei
diversgeschlechtlichen Jugendlichen sind es sogar fast 40 Prozent. Damit
wird klar, wie relevant das Thema gesellschaftlich ist.
Waren Sie angesichts dieser alarmierenden Werte überrascht?
Die Zahlen sind deutlich, aber nicht gänzlich überraschend. Dass die
Belästigungserfahrung recht ausgeprägt ist, ist in der Wissenschaft
bekannt. In Bezug auf Vergewaltigungen und Vergewaltigungsversuche sind die
Zahlen ein Stück weit höher als in anderen Studien. Das hat mit der Art und
Weise zu tun, wie wir fragen. Wir wollten nicht wissen, ob die Jugendlichen
schon mal vergewaltigt wurden, sondern wir haben gefragt: Wurden Sie schon
mal zum Sex gezwungen?
Was macht das für einen Unterschied?
Damit entsteht eine größere Offenheit, es anzugeben. Der Begriff
„Vergewaltigung“ ist sehr aufgeladen. Viele stellen sich einen Fremdtäter
vor, der ihnen auflauert. Wenige denken an ihr nahes Beziehungserleben.
Warum?
Das hat damit zu tun, wie Vergewaltigung in Deutschland lange gehandhabt
wurde. Erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe zum Straftatbestand. Wenn
man sich damalige Urteilsbegründungen ansieht, in denen steht,
Geschlechtsverkehr gehöre eben zu den ehelichen Pflichten, auch wenn er
gegen den Willen von Frauen ist, zieht es einem heute die Schuhe aus.
Mittlerweile gerät auch der Nahbereich in den Blick, und so fragen wir
auch. Aber wir haben natürlich denselben Straftatbestand vor Augen.
Was läuft schief, wenn es derart hohe Betroffenheitsquoten gibt?
Gesellschaftlich sind wir im Moment dabei, uns stärker mit
Grenzverletzungen und Übergriffen zu beschäftigen. Lange Zeit galt es als
Kavaliersdelikt, wenn Mädchen und diversgeschlechtliche Menschen belästigt,
zum Beispiel auf dem Weg zur Kneipentoilette begrapscht wurden. Wir müssen
an massiver Männerdominanz und Sexismus in der Gesellschaft arbeiten. Und
das passiert ja auch gerade, Debatten wie #aufschrei oder #MeToo tragen
viel dazu bei.
Trotzdem zeigt Ihre Studie auch, dass kaum jemand die Übergriffe anzeigt.
Warum nicht?
Wir hatten gerade eine Masterarbeit, die das Anzeigeverhalten unter
Erwachsenen auswertet, was sich in weiten Teilen auf Jugendliche übertragen
lässt. Ein zentraler Aspekt ist, dass erst mal die eigene Mitverantwortung
wahrgenommen wird. Die Leute fragen sich – irrtümlich –, ob sie
entschlossen genug Nein gesagt haben. Zweitens herrscht viel Unwissenheit
über die Handlungsoptionen. Und drittens misstrauen die Menschen den
Institutionen. Sie gehen davon aus, dass ihnen weder geglaubt noch geholfen
wird. Dazu kommt noch, dass Betroffene häufig stigmatisiert werden. Sie
werden auf den Opferstatus festgelegt.
Die Jugendlichen kamen zum größten Teil aus Sachsen-Anhalt. Wie
verallgemeinerbar sind die Studienergebnisse?
Studien zu sexualisierter Gewalt sind grundsätzlich nicht repräsentativ,
weil zunächst immer gut über die Studieninhalte aufgeklärt wird. Wir
erklären, wie wir fragen, dass es um positive und negative Aspekte in Bezug
auf Sexualität geht, welche Vorsichtsmaßnahmen wir treffen. Damit
entscheiden sich Personen bewusst dafür oder dagegen, teilzunehmen. Aber
bei unserer Studie haben wir sowohl Jugendliche aus den alten als auch aus
den neuen Bundesländern dabei und eine gute Verteilung für unterschiedliche
Wohnräume, also Dorf, mittlere Orte, Städte und Großstädte. Insofern sind
die Zahlen für diese Altersgruppe durchaus aussagekräftig.
Sie haben diversgeschlechtliche Jugendliche extra erfasst. Das ist für
Studien zu sexualisierter Gewalt noch immer eher ungewöhnlich, oder?
Ja, den Personenstand gibt es ja noch nicht so lange. Wir machen diese
Studien seit den 1970er Jahren, da können Sie die Entwicklung
nachvollziehen. 1990 wurden nur Mädchen und junge Frauen gefragt, ob sie
schon mal einen Vergewaltigungsversuch erlebt haben. 2013 wurden zum ersten
Mal Männer danach gefragt, und jetzt die Diversen. Man sieht an solchen
Studien, wie sich Sexualwissenschaft und Gesellschaft entwickeln.
Was hat sich denn im Vergleich noch verändert?
Jüngere Personen sind deutlich sensibler für Grenzverletzungen geworden.
Sie suchen sich eher Hilfe. Außerdem hat sich das Anzeigeverhalten in Bezug
auf Kindesmissbrauch deutlich verbessert. Bis vor 15 Jahren sind bei
Kindern bis einschließlich 13. Lebensjahr etwa 5 Prozent der Delikte zur
Anzeige gekommen. Mittlerweile werden 20 Prozent angezeigt. Das ist ein
Fortschritt. In Bezug auf sexualisierte Gewalt gegen Jugendliche haben sich
die Zahlen allerdings leider nicht verbessert.
Was also tun?
Wir müssen das Thema ernst nehmen und die Beratungs- und
Unterstützungsangebote stärken. Sind die zugänglich, zum Beispiel an
Schulen? Werden Sie nachgefragt, ist genügend Vertrauen da? Gute
sexualpädagogische Angebote gehören nicht nur in den Biologieunterricht,
auch alle anderen Fächer eignen sich dafür, auch Mathe und Physik.
Mathe und Physik?
Alan Turing etwa wäre ein bekannter Mathematiker, bei dem man gut die
Folter gegen Homosexuelle, also seine Kastration nachvollziehen und seine
physikalischen Theorien im Zusammenhang mit seiner Biografie betrachten
könnte. Kinder müssen außerdem schon in der Grundschule lernen, dass sie
einen Körper haben, der ihnen gehört. Wir müssen die gesamten Institutionen
unserer Gesellschaft für das Themenfeld sensibilisieren. Und wir müssen als
Erwachsene ausreichend zuhören, wenn Kinder, Jugendliche oder auch andere
Erwachsene uns von ihren Erfahrungen erzählen und ihnen Glauben schenken.
31 Aug 2021
## LINKS
[1] https://www.ifas-home.de/wp-content/uploads/2021/07/Primaerbericht-Gewalt-P…
[2] /Petition-gegen-Catcalling/!5713269
## AUTOREN
Patricia Hecht
## TAGS
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