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# taz.de -- Opfer der Colonia Dignidad in Chile: Maas soll Betroffenen helfen
> Die ehemalige Colonia Dignidad verzögert Entschädigungen an Betroffene
> von sexualisierter Gewalt. Diese pochen auf die Verantwortung
> Deutschlands.
Bild: Cristóbal Parada, der in der Colonia vergewaltigt wurde, mit seiner Mutt…
Berlin taz | Über eine Million Euro Entschädigungsleistungen stehen
Chilenen zu, die in den 1990er Jahren in der ehemaligen Colonia Dignidad
sexualisierter Gewalt unterworfen waren. Doch seit Jahren werden sie von
der Führung der deutschen Siedlung in Südchile hingehalten und haben bisher
keine Zahlungen bekommen. Sie erinnern an die historische [1][Verantwortung
der deutschen Botschaft] und fordern, die deutsche Regierung solle aktiv
werden.
Sie kommen aus oftmals armen Familien aus der ländlichen Umgebung der 1961
gegründeten deutschen Sektensiedlung, in der Zwangsarbeit und sexualisierte
Gewalt an der Tagesordnung waren und wo während der Pinochet-Diktatur ab
1973 Oppositionelle gefoltert und ermordet wurden. Behandlungen im
Krankenhaus, Ferienfreizeiten oder der Besuch eines sogenannten
„Intensiv-Internats“ brachten diese Chilenen Mitte der 1990er Jahren in die
Siedlung, die sich seit 1988 Villa Baviera nennt.
Eine wirkliche Schule haben die damals zwischen acht und 16 Jahre alten
Jungen dort nie besucht. Stattdessen mussten sie arbeiten und wurden von
Sektenchef Paul Schäfer über Monate und Jahre vergewaltigt und misshandelt.
So erging es auch Cristóbal Parada. Als zwölf Jahre alter Junge wurde er
1996 mehrere Monate in der Villa Baviera festgehalten. „Überall wurden wir
überwacht“, sagt er, „nur auf dem Klo war es so eng, da passte niemand
zusätzlich mit mir hinein“. Dort kritzelte er auf einen Zettel: „Der ‚ew…
Onkel‘ steckt ihn mir rein“.
## Sektenchef Paul Schäfer, der „ewige Onkel“
Der „Onkel“, der „ewige Onkel“, oder auch „O“, das waren Bezeichnun…
denen Sektenchef Paul Schäfer sich anreden ließ. Dessen wirklichen Namen
kannte Cristóbal nicht. Den hektisch geschriebenen Brief gab er einem
anderen chilenischen Jungen mit, der abends wieder nach Hause gehen konnte:
er sollte ihn Cristobals Mutter, Jacqueline Pacheco, bringen.
Jacqueline Pacheco verstand die Nachricht sofort und schaffte es, ihren
Sohn unter einem Vorwand für einige Tage aus der deutschen Siedlung
herauszuholen. Sie wusste, dass die Polizei im weiten Umkreis sich der
Villa Baviera eng verbunden fühlte. Deshalb erstattete sie Anzeige bei
einer als unbestechlich geltenden Polizeieinheit in Santiago.
Es kam zu Ermittlungen und Durchsuchungen auf dem 17.000 Hektar großen
Gelände. Die anderen dort festgehaltenen chilenischen Jungen wurden nach
und nach befreit. Nach Strafanzeigen der chilenischen Familien wurden
langwierige Strafprozesse eingeleitet und Haftbefehle gegen mehrere
Führungspersonen der Villa Baviera ausgestellt.
Sektenchef Paul Schäfer floh 1997 nach Argentinien. 2005 wurde er dort
verhaftet und an Chile überstellt, wo er bis zu seinem Tod 2010 im
Gefängnis saß.
## Der frühere Leiter des Krankenhauses lebt straflos in Krefeld
Erst 2013 fällte der Oberste Gerichtshof Chiles sein endgültiges Urteil in
dem Prozess wegen sexualisierter Gewalt gegen die chilenischen Jungen. 21
Personen wurden wegen Beihilfe oder Unterstützung von Vergewaltigung und
systematischem Missbrauch zu Haftstrafen und zu Entschädigungszahlungen
verurteilt, unter ihnen auch [2][Hartmut Hopp]: der frühere Leiter des
Krankenhauses der Siedlung entzog sich dieser Strafe jedoch durch Flucht
nach Deutschland und lebt seit 2011 straflos in Krefeld.
Die Entschädigungen in Höhe von etwa 1,25 Millionen Euro wurden jedoch
durch zahlreiche juristische Interventionen immer wieder hinausgezögert.
„Bis heute haben wir keinen Peso von der ‚Colonia‘ bekommen“, sagt
Cristóbal Parada.
„Dabei verdanken auch diejenigen, die den Opfern bis heute die
Entschädigungszahlungen verweigern, ihre eigene Freiheit den Anzeigen der
chilenischen Familien“, ergänzt Hernán Fernández, der diese Familien seit
1996 als Rechtsanwalt vertritt. „Denn es war der Mut dieser chilenischen
Kinder und ihrer Familien, die das System der Colonia Dignidad zu Fall
brachten. Wir haben die Arbeit gemacht, die der deutsche und der
chilenische Staat hätten machen müssen, aber nicht getan haben“, erklärt
der Anwalt.
Die inzwischen etwa 35 Jahre alten Männer und ihre Anwälte beklagen die
gezielte Verzögerung der Entschädigungszahlungen und in deren Folge ihre
fortwährende Retraumatisierung. Bereits Ende Mai wandten sie sich mit einem
Brief an Außenminister Heiko Maas (SPD) und an Bundestagsabgeordnete. Sie
fordern, die Bundesregierung solle bei der Leitung der als Firmenholding
strukturierten Villa Baviera Druck machen, damit diese die Entschädigungen
zahle.
## Appell an die Verantwortung der Bundesregierung
Dabei appellieren sie an die Verantwortung der Bundesregierung. Denn 2009
sei „unter dem Schirm der deutschen Botschaft“ ein Vergleich ausgehandelt
worden, den die Villa Baviera heute nicht einhalte, erklärt Winfried
Hempel. Er ist selbst in der Colonia Dignidad aufgewachsen, vertritt aber
seit vielen Jahren Opfer der Siedlung als Rechtsanwalt.
Unter Vermittlung namentlich genannter Mitarbeiter der deutschen Botschaft
in Santiago hätten Cerro Florido und Abratec, zwei Firmen aus der Holding
der Villa Baviera, sowie Vertreter des chilenischen Staates 2009 eine
Vereinbarung ausgehandelt und unterzeichnet, betont der Rechtsanwalt.
In dieser verpflichteten sich die Firmen zur Zahlung von Entschädigungen an
Opfer der Colonia Dignidad, für die bis zum 31.12.2017 ein rechtskräftiges
Urteil gesprochen sei. Im Gegenzug wurde die Aufhebung der Beschlagnahmung
aller Güter der Villa Baviera vereinbart.
1996 hatte die chilenische Justiz die Beschlagnahmung von Grundstücken und
Sachwerten der Villa Baviera verhängt. Ziel war die Absicherung von
Ansprüchen aus Verfahren wegen betrügerischer Übertragung von
Vermögenswerten im Zusammenhang mit der Gründung der Firmen der Villa
Baviera. Dadurch war die wirtschaftliche Aktivität der Firmen der Villa
Baviera eingeschränkt.
## Die Holding hat bis heute keine Entschädigungen gezahlt
Erst 2009, nach der Aufhebung der Beschlagnahmung, wurde die Firmenholding
wieder liquide. Ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Opfern
sexualisierter Gewalt nach dem rechtskräftigen Urteilsspruch des Obersten
Gerichtshof Chiles von 2013 kam sie allerdings bis heute nicht nach.
„Wir verlangen nicht, dass der deutsche Staat sich in die Rechtsprechung
eines anderen Staates einmischt“, so Rechtsanwalt Hempel, „aber wir
verlangen vom deutschen Staat, die ‚Kolonie‘ unter Druck zu setzen, damit
sie das erfüllt, was unter Vermittlung der Botschaft 2009 unterzeichnet
wurde“.
Die Firmen der Villa Baviera müssten die Entschädigungen endlich ohne
weitere Verzögerung zahlen, fordert Hempel. Er kritisiert, die deutsche
Botschaft kümmere sich nicht um die Umsetzung des von ihr vermittelten
Vergleichs, sondern unterhalte weiterhin „gute Beziehungen zur Führung der
‚Kolonie‘“ und gehe mit ihr so um, „als sei nie etwas gewesen“.
Keinesfalls dürften diejenigen, die für die Verweigerung der
Entschädigungszahlungen verantwortlich seien, Leistungen aus dem Hilfsfonds
der Bundesregierung für Opfer der Colonia Dignidad erhalten, fordern die
Missbrauchsopfer in ihrem Brief an Außenminister Maas und die Abgeordneten.
Stattdessen müsse die intransparente Vermögenssituation der Firmen der
Villa Baviera aufgeklärt werden.
## Straetmanns (Die Linke): Aufklärung vorantreiben
Das Firmengeflecht der Villa Baviera zu durchleuchten, fordert auch der
Justiziar der Linksfraktion im Bundestag, Friedrich Straetmanns. Eine dazu
in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie der Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit (GIZ) hält die Bundesregierung unter Verschluss, um den
Firmen der Villa Baviera Vertraulichkeit zu gewähren.
Insgesamt kritisiert Straetmanns, „Aufklärung und Erinnerung müssen
vorangetrieben werden“, er sei „nicht zufrieden mit dem Tempo“ der
Bundesregierung bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad,
die der deutsche Bundestag 2017 in einem einstimmigen Beschluss gefordert
hatte.
Die Chilenen, die als Kinder in der Colonia Dignidad Opfer sexualisierter
Gewalt wurden, und ihre Anwälte warten noch immer: „Am 23. Mai haben wir
unseren Brief an den deutschen Außenminister und an Abgeordnete geschickt“,
sagt Rechtsanwalt Fernández, „aber bis heute haben wir keine Antwort
erhalten“. Weder aus dem Auswärtigen Amt noch von den Firmen der Villa
Baviera war eine Stellungnahme zu dem Thema zu erhalten.
12 Aug 2021
## LINKS
[1] /Staatsminister-ueber-Colonia-Dignidad/!5783548
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## AUTOREN
Ute Löhning
## TAGS
Chile
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