# taz.de -- Verbrechen der Colonia Dignidad: Ein Gedenkort fehlt bis heute | |
> In der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile wurden | |
> schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen. Wie steht es um die | |
> Aufarbeitung? | |
Bild: Keller in der Colonia Dignidad, seit 1988 nennt sich die Siedlung offizie… | |
BERLIN taz | Fünf Jahre ist es her, dass Bundespräsident Frank Walter | |
Steinmeier – damals als deutscher Außenminister – eine selbstkritische Rede | |
über den Umgang des Auswärtigen Amtes mit der Colonia Dignidad hielt. Nun | |
drängen Betroffene, Expert*innen und Abgeordnete, bald eine Gedenk- und | |
Dokumentationsstätte auf dem Gelände der früheren deutschen Sektensiedlung | |
in Cile einzurichten. | |
„Von den sechziger bis in die achtziger Jahre haben deutsche Diplomaten | |
bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz | |
ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan“, sagte Steinmeier am 26. April | |
2016 im Weltsaal des Auswärtigen Amtes. Damit räumte er eine moralische | |
Mitverantwortung der Bundesregierung dafür ein, dass in der Colonia | |
Dignidad jahrzehntelang schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen | |
werden konnten. | |
In der 1961 in Chile gegründeten deutschen Sektensiedlung waren die meisten | |
Bewohner*innen bis Mitte der 2000er Jahre ihrer Freiheit beraubt und | |
unbezahlter Zwangsarbeit unterworfen. Deutsche Bewohner*innen wie auch | |
chilenische Kinder aus oftmals armen Familien aus der Umgebung waren der | |
sexualisierten Gewalt des Sektenchefs Paul Schäfer ausgesetzt und wurden | |
teils unter Zwang adoptiert. Obwohl der Bundesregierung diese Verhältnisse | |
bekannt waren, schritt sie nicht dagegen ein. | |
Die Sektenführung um Paul Schäfer war in Waffenhandel und -produktion | |
involviert und kooperierte ab 1973 eng mit der Pinochet-Diktatur. Deren | |
Geheimdienst DINA errichtete ein Folterlager auf dem Gelände der Siedlung | |
und misshandelte – mit Unterstützung von Sektenangehörigen – Hunderte | |
Oppositionelle. Dutzende wurden ermordet, ihre Leichen sind bis heute nicht | |
gefunden. | |
## Bundespräsident wollte Aufklärung | |
Ab 1976 veröffentlichten die UNO und Amnesty International Berichte von | |
Überlebenden dieser Folter. Doch die deutsche Botschaft in Chile stellte | |
sich schützend vor die Colonia Dignidad und beschrieb sie als „ordentlich | |
und sauber – bis zu den Schweineställen“. | |
Auswärtiges Amt und Botschaft hätten „die Orientierung verloren“ beim | |
Abwägen des Interesses an „guten Beziehungen zum Gastland“ Chile und an der | |
Wahrung von Menschenrechten, sagte Steinmeier 2016 und tat mit seiner Rede | |
jedenfalls verbal einen großer Schritt. Initiativen von Abgeordneten | |
folgten und gut ein Jahr später [1][forderte der Deutsche Bundestag | |
einstimmig] die Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad. | |
Angehörige der Verschwundenen [2][fordern Aufklärung] und einen Gedenkort. | |
Auch frühere Bewohner*innen der Colonia Dignidad, wie Doris Gert, die | |
heute außerhalb der Siedlung lebt, drängen darauf, dass Deutschland und | |
Chile sich endlich „überwinden“ sollten, eine Gedenkstätte zu erstellen. | |
Ein vierköpfiges deutsch-chilenischen Expert*innen-Team hat im Auftrag | |
einer Gemischten Kommission mit Vertreter*innen beider Regierungen ein | |
Konzept zur Errichtung einer Gedenkstätte entwickelt. Eine Sprecherin des | |
Auswärtigen Amtes erklärte, aktuell stünden Beratungen mit der chilenischen | |
Seite darüber an. Diesem Entwurf zufolge soll auf dem Gelände der Villa | |
Baviera – wie sich die Siedlung seit 1988 offiziell nennt – die Geschichte | |
der verschiedenen Opfergruppen an jeweils spezifischen Orten aufgezeigt | |
werden. | |
## Bundestag beschließt finanzielle Entschädigung | |
Am 19. April stellten die [3][Leiterin der Stiftung niedersächsische | |
Gedenkstätten, Elke Gryglewski], und der Leiter der Stiftung Gedenkstätten | |
Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, dieses Konzept vor | |
einer Gemeinsamen Kommission von Bundestag und Regierung vor. | |
Friedrich Straetmanns, rechtspolitischer Sprecher der Linken im Bundestag, | |
steht dem Konzept positiv gegenüber und sagt, er erlebe eine „große | |
Einigkeit über Fraktionsgrenzen hinweg (…), dass eine solche Gedenkstätte | |
auf dem Gelände der Colonia Dignidad entstehen soll“. | |
„Das richtige Signal an die Opfer wäre, wenn noch in diesem Herbst der | |
Spatenstich für die Gedenkstätte erfolgt“, erklärt Straetmanns, der „das | |
Thema in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen“ möchte. Dazu solle | |
die deutsche Regierung auch durch Auftreten des Ministers gegenüber der | |
chilenischen Seite auf die Bedeutung des Themas hinweisen. | |
Die Grünen-Abgeordnete Renate Künast betont, die Regierungen und Parlamente | |
beider Staaten müssten signalisieren, dass sie diesen Weg gehen wollen: | |
„Diese Willensbekundung braucht es.“ Außerdem fordert sie, die Gemeinsame | |
Kommission aus Abgeordneten und Regierungsvertreter*innen in der | |
kommenden Legislaturperiode sofort wieder einzusetzen. „So wir denn | |
Koalitionsverhandlungen führen,“, sagt sie, „gehört das auch da rein.“ … | |
vieles sei noch lange nicht aufgearbeitet und sie ergänzt mit Blick auf das | |
Auswärtige Amt: „Ohne Druck geht da gar nichts“. | |
## „Ohne Druck geht da gar nichts“, so Künast | |
In Chile drängt die Suche nach den verschwundenen, mutmaßlich in der | |
Colonia Dignidad ermordeten Oppositionellen. Die zuständige | |
Ermittlungsrichterin Paola Plaza vernahm ab 21. bis 23. April zwölf | |
Personen in diesem Zusammenhang. | |
In Deutschland blieb die juristische Aufarbeitung ohne jedes Ergebnis: | |
keine Anklage, kein Urteil. Im prominenten Fall des in Chile rechtskräftig | |
verurteilten Ex-Sektenarztes Hartmut Hopp waren die Ermittlungen wegen | |
Beihilfe zu Mord und zu sexuellem Missbrauch sowie wegen medizinisch nicht | |
angezeigter Vergabe von Psychopharmaka bereits 2019 eingestellt worden. | |
Anfang April lehnte das Oberlandesgericht Düsseldorf einen Antrag auf | |
Klageerzwingung ab. | |
Opferanwältin Petra Schlagenhauf kritisiert, die Ermittlungen seien „nie | |
mit der notwendigen Tiefe und Energie geführt worden, dass sie überhaupt | |
eine Entscheidung ermöglichen, ob am Schluss eine Anklage gerechtfertigt | |
ist“. Das Menschenrechtszentrum ECCHR reichte im Januar Aufsichtsbeschwerde | |
beim nordrhein-westfälischen Justizministerium ein und fordert, dieses | |
solle erneute Ermittlungen anordnen. Eine Antwort des Justizministers steht | |
noch aus. | |
Auf Antrag der Grünen-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag | |
berichtete das Justizministerium am 21. April im Rechtsausschuss über die | |
Ermittlungen gegen Hartmut Hopp. Da die Diskussion im nichtöffentlichen | |
Teil geführt wurde, sind weitere Informationen dazu nicht bekannt. | |
## Finanzielle Hilfen stehen teilweise noch aus | |
Im Rahmen eines Hilfskonzepts leistet die Bundesregierung seit 2020 | |
individuelle Hilfszahlungen an Opfer der Colonia Dignidad. Konkret geht es | |
um Summen von 7.000 bis zu 10.000 Euro, die nach Angaben von Betroffenen | |
bisher an gut 90 Personen gezahlt wurden beziehungsweise noch ausstehen. | |
Nach Angaben einer Sprecherin des Auswärtigen Amtes finanziert die | |
Bundesregierung auch „psychosoziale Maßnahmen und Fachpersonal der Alten- | |
und Pflegestation“ in der Villa Baviera. Ein beschlossener Fonds „Pflege | |
und Alter“ zur Unterstützung der Personen, die heute außerhalb der Siedlung | |
leben, ist bisher allerdings nicht umgesetzt. Viele derjenigen, die | |
jahrzehntelang weder Lohn noch Sozialabsicherung erhielten, sorgen sich um | |
ihr Auskommen im Alter. Sie fordern die Untersuchung der Besitzverteilung | |
in der Villa Baviera, denn alle Vermögenswerte der Siedlung konzentrierten | |
sich bei der heutigen Führungsgruppe. | |
26 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Hilfen-fuer-Opfer-von-Colonia-Dignidad/!5596297 | |
[2] /Verbrechen-der-Colonia-Dignidad-in-Chile/!5737402 | |
[3] /Elke-Gryglewski-ueber-Shoah-Gedenken/!5705762 | |
## AUTOREN | |
Ute Löhning | |
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