# taz.de -- Ex-Ermittler zu Colonia Dignidad: „Die Verbrechen waren ein Tabu�… | |
> Luis Henríquez Seguel leitete einst die Ermittlungen gegen die deutsche | |
> Sekte Colonia Dignidad in Chile und überführte die Täter. Nun kommt er | |
> nach Berlin. | |
Bild: Luis Henríquez Seguel gehörte 1973 zur Wache des sozialistischen Präsi… | |
taz: Herr Henríquez, Sie haben ab 1996 die Ermittlungen gegen [1][die | |
deutsche Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile] geleitet und | |
entscheidenden Anteil daran, dass Paul Schäfers Regime von sexualisierter | |
Gewalt und Zwangsarbeit gestoppt wurde. Wie sah zuvor Ihre Arbeit bei der | |
chilenischen Kriminalpolizei aus? | |
Luis Henríquez Seguel: Nach dem Ende der [2][Pinochet-Diktatur] 1990 | |
arbeitete ich bei der Policía de Investigaciones (PDI) in Santiago in einer | |
Abteilung für Innere Angelegenheiten. Unsere Aufgabe war es, gegen | |
Korruption in der eigenen Institution vorzugehen und belastete Personen zu | |
entfernen. Die PDI war unabhängig von den Carabineros, die Teil der | |
Militärjunta waren. Wir haben auch Menschenrechtsverletzungen während der | |
Diktatur untersucht. Wir hatten wenig Mittel, waren aber ein engagiertes | |
Team, haben Militärs und Zivilisten identifiziert, die für die | |
Repressionsorgane gearbeitet hatten, und konnten einige verhaften. | |
Warum begannen die Ermittlungen gegen die Colonia Dignidad, von der schon | |
früh Straftaten bekannt waren, erst so spät? | |
Nach meinem Eindruck wollte die Regierung, dass wir ermitteln – aber bitte | |
nicht zu schnell, denn Pinochet hatte die Macht gerade erst übergeben, die | |
politische Situation war sehr labil. Die Verbrechen der Colonia Dignidad | |
waren ein Tabu. Es war uns bis 1996 nicht gelungen, dieses Thema | |
anzufassen. Die Siedlung hatte die besten Anwälte und genossen | |
Unterstützung von einem Netzwerk vieler wichtiger Personen. Es gab | |
Untersuchungen wegen Berichten von Folter und Verschwindenlassen in der | |
Colonia Dignidad. Doch es war unmöglich, das Privatgelände zu betreten. Wir | |
konnten am Eingangstor Fragen stellen und wurden oft wieder abgewiesen, | |
auch mit der Begründung, die Bewohner würden kein Spanisch verstehen. | |
Daher rührt auch der Ausspruch „La Colonia siempre gana“ – „Die Kolonie | |
gewinnt immer“. Wie kam es, dass Sie ab 1996 doch effizienter gegen die | |
Colonia Dignidad vorgehen konnten? | |
Im Juni 1996 kam Jacqueline Pacheco zu uns, die Mutter eines 12-jährigen | |
Jungen, der von Sektenchef Paul Schäfer in der Siedlung sexuell missbraucht | |
worden war. Ursprünglich war sie der Villa Baviera – so hieß die Siedlung | |
damals offiziell – gegenüber positiv eingestellt. Ihr Sohn lebte mehrere | |
Monate dort, um ein sogenanntes Intensivinternat zu besuchen. Er konnte die | |
streng abgeriegelte Siedlung nicht verlassen. Es gelang ihm aber, eine | |
Nachricht an seine Familie herauszuschleusen, dass Schäfer ihn | |
vergewaltigte. | |
Aber warum erstattete Pacheco Anzeige bei Ihnen? | |
Sie befürchtete Repressalien, wenn in der Colonia Dignidad bekannt würde, | |
dass sie Anzeige erstattet hatte. Sie vertraute den Behörden aus den | |
umliegenden Orten nicht. Denn sie wusste, dass auch Politiker und Militärs, | |
Polizisten und Richter zu Feierlichkeiten in die Colonia Dignidad | |
eingeladen wurden und Geschenke bekamen. Die chilenische | |
Menschenrechtskommission hat Pacheco zu uns geschickt, wohl weil wir als | |
unbestechlich galten. Wir haben den Richter Jorge Norambuena in Parral, der | |
nächstgrößeren Stadt zur Colonia Dignidad, persönlich informiert und er hat | |
die Akte unter Verschluss gehalten. So haben wir zwei, drei Monate Zeit für | |
die Ermittlungen gewonnen und konnten diese auch mit anderen Fällen von | |
Folter und Verschwindenlassen in der Colonia Dignidad verbinden. | |
Wie hat Ihr Team diese Ermittlungen geleistet? | |
Wir hatten sehr wenige Mittel, aber viel Engagement. Ich habe ein kleines | |
Team zusammengestellt mit meist jungen Menschen, die Erfahrungen in der | |
Arbeit zu sexueller Gewalt hatten und gut mit den traumatisierten Kindern | |
und deren Familien umgehen konnten. Zusammen mit Jacqueline Pacheco und | |
dem Anwalt Hernán Fernández haben wir weitere chilenische Familien | |
ausfindig gemacht, deren Kinder in der Villa Baviera missbraucht wurden. | |
Monate später kam es zu Durchsuchungen in der Siedlung. Warum konnten Sie | |
Schäfer nicht verhaften? | |
Wir waren mit bis zu 100 Personen vor Ort, auch mit Einheiten der | |
Carabineros. Das war auch nötig, denn wir wussten, dass viele in dieser | |
angeblich wohltätigen Vereinigung Schusswaffen hatten. Allein auf den Namen | |
des Sektenarztes Hartmut Hopp waren drei Pistolen angemeldet. Schäfer wurde | |
die Information vorab zugespielt, wir konnten ihn nicht finden. Wie sich | |
später herausstellte, hatte er sich in einem Bunker versteckt. Um Schäfer | |
zu verhaften, mussten wir das Gelände kennenlernen und in Erfahrung | |
bringen, wo Gefangene gefoltert oder ermordet wurden. Das wurde uns | |
erschwert: Die Bewohner veränderten Wege und Häuser, sogar den Teich haben | |
sie verlegt. | |
1997 floh Schäfer mit einigen Unterstützer:innen nach Argentinien, | |
lebte in der Nähe von Buenos Aires. Er wurde erst 2005 entdeckt, verhaftet | |
und zu 20 Jahren Haft verurteilt. 2010 starb er im Gefängnis in Santiago. | |
Deutschland und Chile schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu den | |
Verbrechen in der Siedlung zu. | |
Was in den Jahrzehnten der Colonia Dignidad geschehen ist, war schrecklich, | |
auch für die vielen deutschen Opfer, die in der Siedlung gelitten haben. | |
Natürlich ist Chile verantwortlich, weil diese Dinge auf chilenischem Boden | |
geschehen sind. Aber auch die deutsche Botschaft in Chile kannte die | |
Berichte derjenigen, die aus der Siedlung fliehen konnten wie Wolfgang | |
Kneese 1966. Deutsche Behörden sagten immer, Chile sei zuständig. | |
Chilenische Behörden meinten, sie seien nicht zuständig, weil es um | |
deutsche Staatsangehörige ging. | |
In den 1990er und 2000er Jahren waren Sie als stellvertretender Direktor | |
der PDI und im Auftrag der Vereinten Nationen als Ausbilder für | |
menschenrechtliche Standards bei der Polizei auch in anderen Ländern im | |
Einsatz. Wie sind Sie eigentlich ursprünglich zur Polizei gekommen? | |
Ich wollte immer Polizist werden. Mit 18 Jahren habe ich einen | |
Ausbildungskurs bei der Polizei angefangen. Ich habe damals bei der Polizei | |
auch Regelverstöße und Machtmissbrauch gesehen und konnte nichts dagegen | |
tun. Eine Zeit lang habe ich überlegt, den Beruf zu wechseln. Während eines | |
Krankenhausaufenthalts habe ich einem Priester davon erzählt und er | |
antwortete mir: „Junger Mann, Sie irren sich. Wenn Sie etwas verändern | |
wollen, müssen Sie in der Institution bleiben und irgendwann einen | |
wichtigen Posten erreichen, auf dem Sie Entscheidungen treffen können.“ Der | |
Priester hatte recht! | |
Sie waren Anhänger des Sozialisten Salvador Allende, der 1970 als Anführer | |
des Linksbündnisses Unidad Popular zum Präsidenten gewählt wurde. | |
Als Allende gewählt wurde, habe ich gefeiert. Aber für mich alleine. Ich | |
konnte das nicht offen mit meinen Kollegen tun. Die meisten waren für einen | |
anderen Kandidaten. Anders als die Rechte in unserem Land es darstellten, | |
war Allende ein überzeugter Demokrat, der über Wahlen und auf | |
demokratischem Weg zum Sozialismus kommen wollte. | |
Eine ihrer Aufgaben war damals auch die Observation der rechtsextremen | |
paramilitärischen Organisation Patria y Libertad, Vaterland und Freiheit. | |
Meine erste Aufgabe war es, den Anwalt Pablo Rodríguez Grez zu beschatten. | |
Er war das öffentliche Gesicht von Patria y Libertad. Während unserer | |
Observationen stellten wir fest, dass die Organisation mehrere | |
Trainingslager betrieb, eines in der Colonia Dignidad. Dabei wurde der | |
Umgang mit Waffen geübt, wurden Anschläge und Straßenblockaden trainiert | |
und der Tanquetazo vorbereitet, der erste Putschversuch von Militärs und | |
Patria y Libertad, der am 29. Juni 1973 scheiterte. Danach löste sich | |
Patria y Libertad auf. Die Angehörigen der Organisation gliederten sich in | |
den Geheimdienst Dina oder andere Repressionsorgane ein. | |
Den dann erfolgreichen Putsch am 11. September 1973 haben Sie selbst im | |
Regierungspalast La Moneda erlebt, später berichteten Sie in einem Buch | |
darüber. | |
Ich gehörte damals zu der Polizeiwache von Präsident Allende. Wir waren 17 | |
Kriminalbeamte der PDI. Am 11. September 1973 waren wir alle in der Moneda | |
und haben die Angriffe mit Artilleriebeschuss und die Bombardierungen aus | |
der Luft erlebt. Als klar wurde, dass wir keine Chance mehr hatten, hat der | |
Präsident jedem Einzelnen von uns die Hand gegeben und sich bei uns mit | |
„gracias, compañero“ bedankt. Dann hat er sich im Saal Toesa erschossen. | |
Sie wurden verhaftet. Wie und warum haben Sie überlebt? | |
55 Personen wurden noch am Nachmittag verhaftet – Minister, politische | |
Berater, Ärzte, Mitglieder der politischen Wacheinheit Allendes aus der | |
Sozialistischen Partei und unsere Einheit. Wir lagen mit verbundenen Händen | |
auf der Straße und wurden dann in das Artillerieregiment Tacna gebracht, | |
dort verhört und misshandelt. Die meisten wurden erschossen, von vielen | |
wussten wir über Monate nicht, was mit ihnen geschehen war. Aber wir von | |
der PDI wurden, nach 28 Stunden ohne Nahrung und Wasser, unter Auflagen | |
freigelassen, weil wir zuvor keine politische Funktion hatten. Unser | |
Vorgesetzter ging ins Exil, wir anderen wurden auf andere PDI-Einheiten | |
verteilt und standen unter Beobachtung. Ich glaube auch, dass wir überleben | |
sollten, weil wir Zeugen von Allendes Selbstmord waren und darüber | |
berichten sollten. | |
Was hat diese Erfahrung mit Ihnen gemacht? | |
Als ich am Abend des 12. September nach Hause kam, konnte ich kaum glauben, | |
dass ich überlebt hatte. Seitdem hat sich meine Lebensphilosophie | |
verändert. Ich lebe mein Leben und jeden Tag intensiver. | |
Was haben Sie in den 17 Jahren der Diktatur bis 1990 gemacht? Waren Sie in | |
die politische Repression der Diktatur verwickelt? | |
Einige meiner Kollegen wurden zu den Repressionsorganen Dina oder CNI | |
geschickt. Ich habe so etwas nie getan. Zum einen weil ich in der Polizei | |
als Linker bekannt war und niemand mir vertraute. Zum anderen hatte ich | |
meine Haltung, dass ich die Dinge korrekt mache – und das wussten alle. Oft | |
habe ich an den Priester gedacht, der mir sagte, dass ich bei der Polizei | |
bleiben und eines Tages Entscheidungen treffen sollte. Tatsächlich denke | |
ich, dass ich meinen bescheidenen Anteil beigetragen habe. Ich habe meine | |
Pflicht getan und das, was ich konnte für etwas mehr Gerechtigkeit. | |
15 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ute Löhning | |
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