# taz.de -- Freiberufler und Coronakrise: Berlins Prekariat ist krisenerprobt | |
> Gut gelaunt in den Abgrund: Freiberufler sind besonders von der Pandemie | |
> betroffen – und bleiben dank schneller Hilfe dennoch optimistisch. | |
Bild: Dirty Doering legt sein Set am Holzmarkt auf und macht legal Corona-Party… | |
Das Berliner Prekariat ist krisenerprobt. Viele sind zu einer Zeit in die | |
Stadt gekommen, als die Mieten noch das kleinere Problem waren. Sie sind | |
nach Berlin gegangen, weil sie sich hier mehr als irgendwo anders auf der | |
Welt in Projekte stürzen konnten, für die man nicht unbedingt ausgefuchste | |
Businesspläne parat haben musste. | |
Wenn man sich mit einigen von Berlins rund 200.000 Freiberuflern unterhält, | |
bekommt man viele Einblicke: etwa, dass sie Probleme mit dem Finanzamt | |
haben, weil ihre Unternehmen zwar seit 20 oder 25 Jahren bestehen, aber | |
eigentlich Liebhaberei seien. Verwunderte Beamte hätten gefragt, wie man | |
denn von diesen Beträgen leben könne. | |
Andere erzählten, wie sie nie aufhören konnten, immer mal wieder alles aus | |
dem Geldautomaten zu ziehen, was der Dispo hergibt, um die nächste | |
weltverändernde Idee zu realisieren. Dann aber habe leider ganz plötzlich | |
das unverzichtbare Telefon wegen unbezahlter Rechnungen nicht mehr | |
funktioniert. Und man habe sich am Monatsende regelmäßig die Frage | |
gestellt, warum die Monate immer so schnell vorbeigehen und woher um alles | |
in der Welt die Miete kommen soll. | |
Es ist immer schwieriger in Berlin, das längst nicht mehr so arm und sexy | |
ist wie in den Neunzigern und am Anfang des Jahrtausends, diesen | |
unbesorgten Lebensstil aufrechtzuerhalten. Aber viele Existenzen operieren | |
noch am Rande des Machbaren. Sie bauen auf ihren alten und darum günstigen | |
Mietvertrag, machen einen Nebenjob, der nicht allzu wehtut, um sich die | |
eigentliche Leidenschaft querzufinanzieren. | |
Sie kommen hoch erhobenen Hauptes mit weniger als dem Existenzminimum | |
durch, kleiden sich bei Humana ein, halten Kaffee zum Mitnehmen wegen | |
seines Preises für verzichtbaren Schnickschnack, holen sich Bücher in der | |
Tauschstation und machen beim Flohmarkt mit. Sie kultivieren Hand- und | |
Spanndienste im Bekanntenkreis, geben Kindern in der Nachbarschaft | |
Nachhilfe und lassen sich von deren Eltern am Monatsende zum Abendessen | |
einladen. | |
Diese Leute machen Berlin in normalen Zeiten noch immer so lebens- wie | |
liebenswert. Und sie machen jenen Mut, die es nicht ganz so wild treiben | |
und ihre Bilanzen ordentlicher führen, die aber in einer anderen Stadt | |
vielleicht eher ein Leben mit Festanstellung gewählt hätten. | |
Für diese Leute ist die Coronakrise einerseits eine Bedrohung wie für alle | |
anderen auch. Sie finden es ebenso seltsam, nicht zu wissen, was nächsten | |
Monat ist, und fragen sich, wann wir wieder zu jener Normalität | |
zurückkehren werden können, die wir jetzt schon schmerzlich vermissen. | |
Natürlich sind sie die Ersten, denen jetzt die Puste ausgehen würde, wenn | |
die Krise länger dauern und die finanzielle Unterstützung ausbleiben würde. | |
Und trotzdem nehmen sie es relativ gelassen. Viele sagen immer wieder, sie | |
hätten schon Schlimmeres erlebt und oft viel näher am Abgrund gestanden. | |
Sie nehmen diese Zeit vielleicht sogar leichter als andere, weil es endlich | |
einmal nicht nur ihnen so geht. Und weil ihnen der Urlaub, den sie sich | |
sonst nie leisten konnten, nun zwangsverordnet wurde. Plötzlich ist auch | |
mal Zeit, innezuhalten, das eigene Leben zu sortieren und mal wieder | |
darüber nachzudenken, ob es nicht der gesamten Menschheit ganz guttäte, | |
wenn sie auch nur ein kleines bisschen mehr so ticken würde wie sie selbst. | |
Nicht zuletzt aber sind diese Leute auch trotz allem gerade recht gut | |
gelaunt, weil ihnen oft zum allerersten Mal der Staat unter die Arme | |
greift. „Ich hatte noch nie so viel Geld auf einmal auf dem Konto“, meint | |
einer der Soloselbständigen, die die taz befragt hat. Ein anderer: „Ich | |
habe es damals verpennt, einen Gründerkredit zu beantragen, insofern fühlt | |
sich das jetzt umso toller an.“ | |
## Der Ladenbesitzer | |
Im Moment habe ich noch keine Angst, eher genieße ich die Ruhe. Seit 23 | |
Jahren habe ich nun meinen Spielzeugladen für Neues und Recyceltes. Jetzt | |
habe ich endlich mal Zeit, mich um Dinge zu kümmern, die sich angesammelt | |
haben. Sortieren, aufarbeiten – und richtig ausmisten! Und ich habe viel | |
Zeit für meine Kinder. | |
Vor meiner Haustür habe ich so eine Art Selbstbedienungs-Flohmarkt | |
aufgebaut. Es gibt Preisschilder und eine Pappe mit meiner | |
Paypal-Verbindung. Hier in der Vorstadt läuft das natürlich nicht | |
besonders, aber vielleicht mache ich das bald auch vor meinem Laden in | |
Prenzlauer Berg. Bisher habe ich dort eine „Warenausgabe“ eingerichtet, in | |
der man samstags wie bei der Notapotheke bestelltes Spielzeug abholen kann. | |
Verkäufe über das Internet sind nicht so meine Welt, ich bin kein | |
Computermensch. Meine Webseite habe ich vor 20 Jahren mal selbst gemacht, | |
und sie wurde vor zwei Jahren von einem netten Nachbarn neu gebaut, weil | |
ich nicht mal ein Impressum drin hatte. Und bei den sozialen Medien | |
scheitere ich schon am Passwort. Natürlich rächt es sich jetzt, keinen | |
Web-Shop zu haben, weil die Umsätze plötzlich komplett fehlen – das geht | |
nicht lange gut. | |
Aber ich denke auch oft an die Worte aus der Bibel: „Sehet die Vögel unter | |
dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die | |
Scheunen und euer himmlischer Vater nährt sie doch.“ Ich sorge mich weniger | |
um mich, ich bin familiär gut eingebettet, mein Vater hält mich für einen | |
„Lebenskünstler“ und war immer der größte Unterstützer dieser Kunst. | |
Und wir haben zum Glück den Rettungsschirm des Staates. Der hat mich in 23 | |
Jahren Selbstständigkeit, in der ich durch dick und dünn ging, noch nie | |
unterstützt. Ich finde, es ist jetzt also mal höchste Zeit. Wenn ich | |
tatsächlich die Soforthilfe bekomme, kann ich die dringendsten Rechnungen | |
bezahlen. | |
Aber ich sehe die Coronakrise auch als Riesenchance: Die Leute halten mal | |
inne, und die Natur holt Luft – weltweit! Man muss endlich mal über diesen | |
übertriebenen Konsum nachdenken. Und es finden sich unheimlich viele gute | |
Ansätze für ganz neue Solidarität. | |
Sorgen mache ich mir weniger um uns in Deutschland. Eher um die Menschen in | |
den Flüchtlingslagern rund um Syrien oder in den Slums in Indien, wo es | |
nicht mal fließendes Wasser gibt. Ich wünsche mir, dass die Welt etwas aus | |
der Krise lernt und nicht so weitermacht wie vorher. | |
Philipp Schünemann, 50, Inhaber von „Onkel Philipp’s Spielzeugwerkstatt“… | |
der Choriner Straße in Prenzlauer Berg | |
## Die Musikerin | |
Ich habe klassisches Klavier studiert und gebe drei Tage in der Woche | |
Klavierunterricht. Außerdem bin ich Sängerin. Beim Hamburger Label | |
Audiolith Records veröffentliche ich unter dem Namen Ira Atari Elektropop | |
und gebe Konzerte. Am 29. Mai wäre das Release-Konzert meiner neuen Single | |
„Berlin Berlin“, die am 17. April erscheint, gewesen. Das wird nun | |
wahrscheinlich abgesagt – so wie alle Konzerte. | |
Natürlich ist mit Schließung der Schulen auch sofort mein Klavierunterricht | |
hinfällig geworden. Im Moment bekomme ich die Monatsbeiträge zwar noch | |
gezahlt, aber niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Schulen wieder | |
öffnen und der Unterricht wieder stattfinden kann. Ich bin sehr froh, dass | |
ich einige Schüler habe, die mir mitgeteilt haben, dass sie weiterhin ihre | |
Beiträge zahlen werden, egal was passiert. Das gab mir ein sehr gutes | |
Gefühl und ließ mich besser schlafen. | |
Vor ein paar Tagen habe ich erstmals online Klavierunterricht gegeben. Es | |
war sehr anstrengend. Manchmal hört man gar nichts, manchmal kommt alles | |
zeitverzögert an. Man muss viel präzisere Anweisungen geben. Dennoch bin | |
ich froh, dass es einigermaßen funktioniert und ich meine Schüler einmal | |
pro Woche sehen kann. | |
Den April werde ich finanziell noch überstehen, rechne aber ab Mai mit | |
Einkommenseinbußen. Insofern bin ich sehr froh, dass die Politik – | |
insbesondere die Stadt Berlin – meiner Berufsgruppe so viel Aufmerksamkeit | |
schenkt. 5.000 Euro Soforthilfe sind zwar kein hoher Betrag, aber | |
kurzfristig hilft es auf jeden Fall weiter. Einen Kredit würde ich eher | |
nicht aufnehmen, wovon sollte ich den auch zurückzahlen? Ich gehöre mit | |
meinen Einkünften eher zur unteren Mittelschicht. Deshalb bin ich sehr froh | |
und dankbar, dass dieser unbürokratische Antrag für Soforthilfe bewilligt | |
und wahnsinnig schnell abgewickelt wurde. Die dazu passende Textzeile aus | |
meinem Song: „Berlin Berlin, you make me feel like a Queen.“ | |
Ira Göbel, 42, freie Musikerin und Klavierlehrerin | |
## Der Konzertveranstalter | |
Corona bedeutet wirtschaftlich für mich, innerhalb eines Tages alle meine | |
Einnahmen zu verlieren. Ausrufezeichen! Ich bin einerseits Künstler, | |
Musiker, Klangkünstler, aber auch einer von den Tausenden Leuten in Berlin, | |
die im Hintergrund arbeiten. Als Konzertveranstalter, Künstlerbetreuer, als | |
Organisator – also in den Bereichen der Branche, die unsichtbar sind. Man | |
redet die ganze Zeit nur von den Künstlern und Kreativen. | |
Die Leute, die dafür sorgen, dass jemand auf der Bühne steht, sieht man ja | |
meistens gar nicht. Bei einem Konzert, zu dem 1.000 Leute kommen, arbeiten | |
ja alleine am Abend zur Durchführung schon 60 Leute im Hintergrund, und die | |
sind meistens Freiberufler, Aufstocker oder Minijobber. Das fängt beim | |
Catering an, geht über die Künstlerbetreuung, Security, Fahrer. Auch bei | |
den Agenturen gibt es noch viele Freelancer, die zuarbeiten, ebenso bei den | |
Festivals, für die ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, wie die | |
Fusion oder das Melt. | |
Durch die Krise kommt jetzt endlich mal raus, was schon lange falsch läuft | |
– vor allem in der Kultur- und Konzertbranche. Dass es nur Hungerlöhne gibt | |
für sehr viele Leute, dass alles immer weiter runtergeschraubt wird. Das | |
ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie es sonst in der Gesellschaft läuft: | |
Es gibt nur noch die da oben mit Geld und die unten ohne – dazwischen wird | |
es immer weniger. | |
Gerade in Berlin, wo jeder mitmachen will, partizipieren, teilhaben an | |
diesem System – auf Teufel komm raus. Vernünftige Rücklagen zu schaffen ist | |
in diesem System so gut wie unmöglich. Die meisten kommen gerade so über | |
die Runden. Aber auch nur wenn man das Glück hat, einen alten Mietvertrag | |
zu haben. Darum muss ich jetzt auch Schulden machen, indem ich meinen Dispo | |
überziehe. | |
Natürlich habe ich verfolgt, wie Bundesregierung und Senat vollmundige | |
Versprechungen gemacht haben, wem alles geholfen werden soll – aber ich bin | |
da langfristig eher pessimistisch, wer davon was abkriegt. Auch wenn der | |
Berliner Senat in einem immensen Kraftakt die Corona-Zuschüsse von 5.000 | |
Euro für Soloselbstständige auf den Weg gebracht hat und diese wirklich | |
erstaunlich unbürokratisch ausgezahlt werden, bin ich mir nicht sicher, ob | |
die Kulturszene der Stadt das überlebt. | |
Das System ist einfach nicht ausgelegt für Patchwork-Biografien, wie sie in | |
der Kulturbranche sehr häufig vorkommen. Am Ende werden die, die als | |
„systemrelevant“ gelten, unterstützt, aber all die kleinen Selbstständigen | |
werden wahrscheinlich durchs Raster fallen und Hartz IV anmelden müssen. | |
Bestimmt werden sie noch nachbessern bei den Hilfen, aber dennoch werden | |
viele davon nicht wirklich profitieren können, da bin ich sicher. | |
Immerhin haben sie die Hürden bei Hartz IV gesenkt, diesen Weg werden jetzt | |
viele erst mal gehen müssen, ich wohl auch. Und vor allem: Wenn die Krise | |
vorbei ist, wird der Kultursektor nie mehr so sein, wie er einmal war. Die | |
Stadt wird eine andere sein. Viele Läden werden eingehen. Ich meine jetzt | |
nicht den Tresor oder das Berghain. Aber all die anderen, kleineren, die | |
sonst gerade so über die Runden kommen: Wo sollen die das Geld hernehmen, | |
wenn Wochen oder gar Monate alles dicht ist? Die ganze Subkultur basiert ja | |
auf dem Von-der-Hand-in-den-Mund-Prinzip und von Leuten, die dieses | |
schlecht bezahlte Leben leben wollen. | |
Das ist ja eine Entscheidung, zu sagen, ich möchte etwas Kreatives machen, | |
für andere Leute, brauche nicht so viel Geld, aber dafür mache ich etwas, | |
das mir und anderen Leuten Spaß macht. Sonst würde man ja Jura studieren | |
oder BWL. Aber genau diese Leute werden jetzt noch mehr verdrängt aus der | |
Stadt. Alles verschärft sich in dieser Krise. | |
Marc Weiser, 53, arbeitet seit den 90ern als Konzertveranstalter und | |
Musiker. Er war Mitgründer des CTM-Festivals und kuratierte das | |
Musikprogramm des Roten Salons der Volksbühne Berlin. | |
## Der Kneipenwirt | |
Ich habe die Soforthilfe am Dienstag beantragt, am Mittwoch wurde sie dem | |
Konto gutgeschrieben. Außerdem habe ich Gelder vom Bund bekommen, sodass | |
ich erst mal zwei Monate überbrücken kann. Toll, extrem unbürokratisch! | |
Ich war mir aber auch sicher, dass die Gelder fließen werden, denn gleich | |
nach der Schließung der Bar musste ich ja Kurzarbeitergeld für meine | |
Mitarbeiter beantragen, das war ebenfalls alles schnell durch. Auch das | |
Crowdfunding für die Tomsky Bar, das ein paar Gäste für uns ins Leben | |
gerufen haben, läuft sehr gut. Gerade sind wir bei 6.000 Euro, das erste | |
Etappenziel wäre am 20. April erreicht. Allerdings wird das Geld erst nach | |
Ablauf der Kampagne frei. | |
Trotz Zuzug leben immer noch viele nette Leute in Prenzlauer Berg, die | |
Durchmischung in der Bar ist also in Ordnung. In normalen Zeiten läuft das | |
Tomsky gut, obwohl die monatlichen Ausgaben schon hoch sind: Miete, | |
Umsatzsteuer und Gehälter. Ich hoffe, dass ich die Steuer stunden kann. | |
Aber das ist relativ, denn irgendwann wird sie so oder so fällig. | |
Das Haus, in dem sich die Bar befindet, war eines der ersten, die in der | |
Straße saniert wurden, und die Bar ist der einzige Mieter, der die | |
Sanierung überlebt hat. Es war nach der Wende von einem Westberliner | |
Baulöwen gekauft worden. Freitags war während der Sanierung immer der Strom | |
weg. Oder plötzlich waren Löcher in der Decke, wenn die Gäste kamen. | |
Anschließend wurde das Haus scheibchenweise verkauft. | |
Mit unserem heutigen Vermieter kann man reden, er ist im Augenblick sehr | |
entgegenkommend. Aber wir zahlen jetzt trotzdem bruttowarm etwa 4.000 Euro | |
im Monat. Man muss viel Bier verkaufen, um das zu erwirtschaften. Auf | |
Restaurant dürfen wir nicht nicht machen, weil unsere Küche zwei | |
Quadratmeter zu klein ist – und weil wir eine Raucherbar sein wollen. Im | |
Moment besonders blöd, weil wir nicht wie Restaurants Essen zum Mitnehmen | |
anbieten können. | |
Aber der Staat wird das Tomsky schon noch ein Weilchen über Wasser halten. | |
Ich versuche, entspannt zu bleiben und mir nicht zu viele Gedanken zu | |
machen. Aber ich sorge mich um alle, die dranhängen, wie die Minijobber, | |
die im Tomsky immer viel Trinkgeld bekommen haben. Und ich fürchte, dass | |
die Hilfsbereitschaft abnehmen würde, wenn die Krise länger als drei Monate | |
dauert. Der Staat funktioniert ja auch nur wie ein Unternehmen. | |
Martin Kaltenmaier, 52, Betreiber der Tomsky Bar in der Winsstraße in | |
Prenzlauer Berg | |
## Die Fitnesstrainerin | |
Ich bin froh und sehr dankbar, das es mit der Soforthilfe so unkompliziert | |
und sehr schnell geklappt hat. Ich habe mich erst am Sonntag in der | |
Warteschlange angestellt, weil ich mir schon gedacht habe, dass der Ansturm | |
groß sein würde. Aber dann hatte ich immer noch ungefähr 130.000 Wartende | |
vor mir. Die Warteschlange konnte man im Internet auf der Seite verfolgen | |
und es ging erstaunlich schnell vorwärts. Nach nicht einmal zwei Tagen kam | |
die Bestätigung des Antrags und das Geld war auf dem Konto. Großes Lob an | |
die Investitionsbank! | |
Ich arbeite als Fitness- und Gesundheitstrainerin und als | |
Bewegungstherapeutin in verschiedenen Fitnessstudios und | |
Pflegeeinrichtungen. Das heißt: Ich arbeite viel mit Senioren im | |
Reha-Sport. Das wird von den Krankenkassen bezahlt und über einen Verein | |
gesteuert. Ich mache das vor allem deshalb, weil man ja nicht täglich acht | |
Stunden Fitnesstrainerin von jüngeren Leuten sein kann. Das schafft man | |
einfach körperlich nicht. Mehr als 24 bis 26 Stunden kann ich aber auch auf | |
diese Art nicht arbeiten – und das, obwohl ich körperlich noch sehr fit | |
bin. | |
Als Fitnesstrainer kann man dementsprechend nur begrenzt verdienen. Ich | |
denke, dass ich ungefähr 2.300 brutto im Monat verdiene. Das ist ein gutes | |
Auskommen, was auch daran liegt, dass ich breiter aufgestellt bin als | |
andere. Ich habe einen soliden Lebenswandel und eine kleine Reserve, | |
weshalb in meinem Fall die 5.000 Euro reichen, um zwei bis drei Monate zu | |
überbrücken. | |
Auf das Internet werde ich eher nicht ausweichen können. Das Netz ist voll | |
mit kostenlosen Übungsangeboten. Als Personal Trainer würde es vielleicht | |
noch gehen, aber als Trainerin von größeren Gruppen ist es wichtig, | |
persönlich präsent zu sein, Leute motivieren und korrigieren zu können. | |
Gerade im Pflegeheim kann man das nicht ersetzen, wenn Leute von draußen | |
reinkommen und Spaß und Abwechslung in den Alltag bringen. | |
Ich hatte noch nie so viel Urlaub wie jetzt – ich bin in 16 Jahren einmal | |
einen Tag lang krank gewesen. Das ist schon seltsam. Aber im Moment mache | |
ich mir trotzdem Sorgen. Vor allem um meine Infrastruktur, die Vereine und | |
Studios, von denen ich weiß, dass viele kaum Rücklagen haben und keine zwei | |
Monate überstehen würden. | |
Ich würde mir wirklich wünschen, dass die Menschen über ihren Tellerrand | |
schauen und weiter ihre Beiträge zahlen. Viele haben ja sichere Renten, da | |
sind 25 oder 30 Euro im Monat doch gut zu verkraften! Vereine und Studios | |
denken auch darüber nach, dass die Kunden ihre Beiträge hintenran hängen | |
können oder über Vergütungen und Rückerstattungen wiederbekommen, über | |
Sommerfeste und so weiter. | |
Sylvia Beckmann, 56, freie Fitnesstrainerin | |
## Die Coach | |
Mein Geschäftsmodell ruht auf verschiedenen Säulen. Ich biete Rhetorik- und | |
Konfliktmanagement-Seminare bei Bildungsträgern an. Ich berate Teams und | |
Einzelpersonen, bilde Coaches aus, gebe als Bildungsurlaub anerkannte | |
Seminarreisen und vermiete Räume an TrainerInnen und Coaches. Bis auf die | |
Einzelcoachings bricht derzeit alles weg, allerdings finden diese dann | |
digital statt, was die wirkliche Begegnung nicht ersetzen kann. Auch bei | |
den Ausbildungen werden von den Berufsverbänden gerade viele Regeln | |
gelockert, so dürfen einzelne Module derzeit sogar online abgehalten | |
werden. | |
Als vor zwei Wochen die Kontaktsperre beschlossen wurde, ist die | |
Bereichsleitung der Volkshochschulen in meinen laufenden Kurs reingekommen, | |
das war schon heftig. Gerade eben wollte ich meine Seminarreise nach Rügen | |
absagen, aber die Hotelbesitzerin wollte lieber erst noch einmal abwarten. | |
Ist ja logisch, ihr bricht ja auch gerade alles weg. Seit der Kontaktsperre | |
habe ich mit Einzelcoachings noch 300 Euro eingenommen. Normalerweise komme | |
ich auf 5.000 Euro Einnahmen im Monat, habe netto also etwa 2.500 raus. Im | |
April werde ich fast keine Einnahmen haben. | |
Zum Glück habe ich private Rücklagen und mein Partner ist in seinem Beruf | |
noch wenig von der Krise betroffen. Als ich mich letzten Freitag für die | |
Soforthilfe angemeldet habe, war ich in der Warteschlange auf Platz 38.347. | |
Am Samstagabend um 21.27 Uhr erhielt ich eine Mail, dass ich an der Reihe | |
bin, die ich aber leider nicht rechtzeitig gesehen habe. Daher musste ich | |
mich neu anmelden und hatte dann die Nummer 228.956 mit 169.536 Menschen | |
vor mir. Montagmittag konnte ich mich anmelden. | |
Völlig überraschend waren die 5.000 Euro dann tatsächlich am | |
Dienstagnachmittag auf meinen Konto. Davon kann ich zunächst betriebliche | |
Kosten für zwei bis drei Monate decken. Meine privaten Unkosten und | |
Verpflichtungen bleiben hierbei jedoch komplett außen vor. Dennoch bin ich | |
wirklich sehr dankbar für diese unbürokratische Unterstützung in dieser | |
schwierigen Lage. | |
Auch wenn ich noch keine Existenzangst habe, sagen viele KollegInnen, dass | |
sie es trotz Soforthilfe maximal zwei oder drei Monate schaffen. | |
Gleichzeitig kann ich dieser Zeit ehrlicherweise auch etwas abgewinnen: | |
Vieles macht Mut. Ich beobachte mehr Solidarität. In unserer Nachbarschaft | |
bringen einige Älteren Einkäufe mit. Einer Freundin haben sie im | |
Stammsupermarkt Klopapier zurückgelegt. Und die Debatte übers | |
Grundeinkommen hat wieder an Fahrt aufgenommen. Zumindest in meiner kleinen | |
Blase erlebe ich ein großes Zusammenrücken. | |
Sandra Szaldowsky, 48, Coach und Kommunikationstrainerin | |
6 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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