# taz.de -- Elektronik-Größen über ihre neuen Alben: „Ich frage mich oft, … | |
> Jan St. Werner von Mouse on Mars und Stefan Goldmann über Tonsysteme, | |
> Künstliche Intelligenz und revolutionäre Technik. | |
Bild: Keine Angst vor Künstlicher Intelligenz: Stefan Goldmann schaut nicht zu… | |
taz: Jan St. Werner, der Titel Ihres neuen Albums „Glottal Wolpertinger“ | |
erschließt sich nur bayerischen Kollegen sofort. Davon abgesehen, dass man | |
glottale Laute – also Laute, die durch die Stimmritze im Kehlkopf erzeugt | |
werden – in den Tracks vergeblich sucht, fragt man sich außerhalb Bayerns, | |
was es mit dem Fabelwesen Wolpertinger auf sich hat? | |
Jan St. Werner: Diese mythologische Figur, zusammengesetzt aus | |
verschiedenen Tieren, passt gut zu dem, was bei meiner Musik passiert. Auch | |
die Artefakte, die im Verborgenen des Rachenraums entstehen. Ich brauchte | |
etwas, dass auf intuitiver Ebene vermittelt, wie es klingt und was da | |
passiert. Wir reden über ein weites Feld, mir fehlen dabei oft | |
Bezeichnungen für Abläufe. So wird ein Titel wie eine komprimierte | |
Übersetzung, eine eigene neue Arbeit. | |
Was ist die konzeptuelle Idee dahinter? | |
Werner: Auf Einladung des Documenta-Kurators Paolo Thorsen-Nagel | |
konzipierte ich eine Komposition, die aus mehreren Teilen, „Bändern“, | |
bestand, die als eigene Stücke über verschiedene Radiosender ausgestrahlt | |
und dann in Athen zum Konzert verdichtet wurden. Dazu kamen Gitarren der | |
US-Künstler Aaron und Bryce Dessner (von der Band The National, Anm. d. | |
Red.). Die Grundidee basiert auf einem Software-Patch, das ich mit Dietrich | |
Pank entwickelt habe. Es ermöglicht spektrales, obertonreiches, präzises | |
und atonales Feedback, das bewusst nicht auf stabilen Wellenformen und | |
Tonalitäten basiert. Die verschiedenen Feedbacks haben ihren Weg aus dem | |
Rechner übers Radio, ins Konzert und schließlich aufs Album gefunden. Auch | |
so eine Kette von Mutationen. | |
Bei Ihnen, Stefan Goldmann, ist ein wenig greifbarer, was Ihr Albumtitel | |
bedeutet. Mit Lateinkenntnissen entdeckt man hinter „Tacit Script“: ein | |
stilles Skript. | |
Stefan Goldmann: Still oder implizit. Bei mir gibt es auch eine | |
Vorgeschichte. Ich habe für das MaerzMusik-Festival in Berlin an einem | |
Konzertexperiment mitgewirkt. Die Künstlerin Chiharu Shiota hat eine | |
Installation geschaffen, Samir Odeh-Tamimi und ich haben dafür Musik | |
gestaltet. Das Projekt hieß „alif“ und basiert auf einer Geschichte über | |
das Erlernen des ersten Buchstabens im arabischen Alphabet, der aus nur | |
einem Strich besteht. Ich habe mich gefragt, wie man generell lernt: durch | |
Wiederholung und Kategorisierung. Bei Musik ist es ähnlich, wir nutzen | |
Wiederholung, um identifizierbare, akustische Objekte zu schaffen. Der | |
Vorgang wird statistisches Lernen genannt. | |
Ihre Übersetzung davon … | |
Goldmann: … ist die Frage, was man durch Wiederholung erreichen kann. Wann | |
lässt sich ein Zugang zu einer Sache schaffen, die erst mal nicht fassbar | |
ist? Aufhänger ist in diesem Fall, dass ich mir Stimmsysteme angeschaut | |
habe. Wir wachsen mit einer bestimmten Vorstellung von Tonalität auf. Die | |
steckt bereits in Instrumenten wie Klavier und Gitarre, die spezifisch | |
gestimmt sind. Dabei kennen andere Kulturen andere Systeme. Ich habe eigene | |
Systeme entwickelt, die sich durch Streckung oder Verkürzung der Abstände | |
von unserer bekannten Tonreihe unterscheiden und durch konsequente | |
Wiederholung irgendwann vertraut erscheinen. | |
Werner: Das ist der Entstehung von „Glottal Wolpertinger“ nicht unähnlich. | |
Nur, dass es weniger systematisch war. Ich finde es auf jeden Fall toll, | |
wenn mittlerweile häufiger mit atonalen oder mikrotonalen Systemen | |
gearbeitet wird. | |
Die Begriffe Atonalität und Mikrotonalität liegen derzeit im Trend. In der | |
arabischen Musik spielt man ja schon immer mikrotonal. | |
Goldmann: Das ist ein Missverständnis. Der Begriff Mikrotonalität | |
beschreibt im Westen artifiziell geschaffene Tonsysteme. Das bezieht sich | |
selten auf historisch gewachsene Systeme, die man überall auf der Welt | |
findet, sondern auf Abweichungen innerhalb einer Kultur. Dadurch, dass mit | |
vielen herkömmlichen Instrumenten oft nur eine einzige Stimmung zuverlässig | |
reproduziert wird, ist die Idee der gestalteten Mikrotonalität | |
elektronischer Musik wie auf den Leib geschneidert. | |
Ist das ein Angriff auf althergebrachte musikalische Vorgaben? | |
Goldmann: Musik arbeitet häufig mit unreflektierten Gewohnheiten. Das geht | |
soweit, dass viele Plug-ins für den Computer simulierte Drehregler haben, | |
obwohl es sich gar nicht anbietet, mit einer Maus einen Kreis zu | |
beschreiben. Nur, weil die analogen Vorbilder Drehregler hatten. Viele | |
Möglichkeiten liegen darin, solche Vorgaben zu identifizieren und dann zu | |
sehen, was passiert, wenn man dort Dinge einfach verändert. Das ist oft | |
Ausgangspunkt für meine Musik. | |
Elektronische Tanzmusik gibt eine Rasterung vor, die Tanzbarkeit. Die fehlt | |
bei Ihnen, Jan St. Werner. Beim Studieren Ihrer Alben treten dennoch | |
Phänomene zutage. Während „Broca“ der Auftakt von Stefan Goldmanns „Tac… | |
Script“ uferlos wirkt, trotz Raster, mag man bei „Glottal Wolpertinger“ | |
immer Strukturen erkennen, wo keine sein sollten. | |
Werner: Ich gehe intuitiv an Musik. Gleichwohl frage mich oft, was Musik | |
überhaupt ist. Für mich ergibt sich da ein Vexierbild. Man mag manchmal | |
glauben, Formen zu erkennen, ein andermal kommen Zweifel auf, dann zerfällt | |
das vor einem. Ich erforsche gern, wann und wieso man ein akustisches | |
Signal als Musik wahrnimmt. | |
Goldmann: Mich beschäftigt die Frage nach dem Vorhandensein von Struktur. | |
Ich glaube, dass eine Struktur bereits vorhanden ist, wenn man sie | |
wahrnimmt. Die Gegenannahme wäre, dass Physik und Wahrnehmung zu hundert | |
Prozent deckungsgleich sind. Das ist nicht so. Neben der Übertragung von | |
Schall in psychologische Einheiten spielt vor allem Erlerntes eine zentrale | |
Rolle. Was wir als Dur/Moll-Differenz wahrnehmen, ist in anderen Regionen | |
der Welt nicht als solche erkennbar. Ich versuche, bei „Tacit Script“ | |
Strukturen aufzutun, die im Material angelegt sind. | |
Ihre Alben leben auch von ihren durchdachten Konzepten. Ein Phänomen, das | |
zumindest im Bereich der avantgardistischeren Musik, immer prominenter | |
wird. Da stellt sich die Frage, ob wir am Ende der Musik angekommen sind, | |
oder ob es da noch Neues gibt? | |
Werner: Das ist eine wunderbare Frage. Denn seitdem der Mensch vom Baum | |
gestiegen ist, hat er sich gefragt, was denn noch Aufregendes kommen könne. | |
Goldmann: Das „wirklich Neue“ ist dadurch charakterisiert, dass es niemand | |
kommen sieht. Wäre es heute vorhersagbar, wäre es morgen nicht neu. | |
Werner: Vielleicht ist es längst da, nur, wir hören es nicht. | |
Goldmann: Man nimmt immer den eigenen Erfahrungshorizont zum Maßstab. Man | |
ist an den aktuellen Bestand gefesselt und kann sich deswegen Entwicklungen | |
nicht vorstellen, die sich darüber hinwegsetzen. Viele setzen sich eine | |
Referenz und halten alles weitere für irrelevant. | |
Fehlen uns neue, revolutionäre Instrumente, die Umbrüche beschleunigen, wie | |
etwa nach Einführung von E-Gitarre und Synthesizer? | |
Goldmann: Es gibt eine gewisse Stagnation der radikalen technischen | |
Innovation, das stimmt. Neue „Spielzeuge“ brachten eine je eigene Grammatik | |
mit sich, die erschlossen werden wollte. Wahrscheinlich war der | |
Gesangseffekt Auto-Tune die letzte große technische Neuerung; seit rund 20 | |
Jahren ist wenig ähnlich Bedeutendes nachgekommen. | |
Werner: Erwähnenswert ist das französische Elektronikduo Justice, das in | |
den Nullerjahren zuerst mit der Kompressionstechnik Side-Chaining | |
hantierte, um eine bessere Balance von Bass und Drums zu erzielen. Gerade | |
sind wir in der Mikrotonalität. Objektiv betrachtet, ist das in dem Umfang | |
eine Neuerung, die sich auch in Synthesizern mit Mikrotuning-Möglichkeiten | |
widerspiegelt. Wenn man ständig auf das eine Mauseloch starrt, aus dem mal | |
was rauskam, bemerkt man das Neue halt nicht, wenn es plötzlich aus einer | |
anderen Ritze sprießt. | |
Bekommt man es nicht mit, weil es am „anderen Ende der Welt“ passiert? | |
Werner: Wir bekommen sehr wohl mit, was woanders passiert. Sowohl | |
geografisch als auch in anderen Bereichen der Kultur. Doch anstatt sich zu | |
öffnen, wird wieder mehr abgegrenzt. Es wird versucht die „eigene | |
Identität“ zu verteidigen. Das ist ein Thema unserer Zeit: Anstatt eine | |
Koexistenz zu erschaffen, die Neues willkommen heißt, wird das andere als | |
Spinnerei abgetan; es wird auf die angeblichen Grenzen des Verstands, des | |
Körpers, der Kultur oder der Welt verwiesen. | |
Darf man denn gespannt sein auf die Möglichkeiten, die | |
Künstliche-Intelligenz-gestützte Kreativität beim Musikmachen mit sich | |
bringen wird? | |
Werner: KI ist derzeit ein Schlagwort, und dabei ist sie zugleich Metapher | |
für das menschliche Denken als solches. Dahinter verbirgt sich nicht das | |
Fremde oder das Extraterrestrische. Neu ist es auch nicht. Mit künstlicher | |
Intelligenz wird im kulturellen Feld schon länger gearbeitet. | |
Goldmann: Technologie ist alles, was in die Welt gekommen ist, nachdem ich | |
geboren wurde. Nur weil KI noch nicht vollends im Alltag angekommen ist, | |
wirkt sie bedrohlicher als etwa ein Kühlschrank. | |
3 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
## TAGS | |
Avantgarde | |
Musikproduzent | |
elektronische Musik | |
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
Elektro | |
Elektronik | |
MaerzMusik-Festival | |
Zeichnung | |
Musikgeschäft Berlin | |
Berliner Volksbühne | |
Warp Records | |
Moers Festival | |
Popmusik | |
Neues Album | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Komponist Georg Katzer: Seismisches Gespür | |
„Es ist gleich zwölf, kein Gott uns helf“: Eine Erinnerung an den Zeuthener | |
Komponisten und DDR-Elektronikpionier Georg Katzer zum 90. Geburtstag. | |
Festival für Neue Musik: Es ist wieder an der Zeit | |
Am Freitag startet die MaerzMusik. Dabei werden in dem „Festival für | |
Zeitfragen“ auch liegen gebliebene Fäden vom vergangenen Jahr aufgenommen. | |
Skizzenbuch von Jo Zimmermann: Kompost des fossilen Rauschens | |
Der Kölner Illustrator Jo Zimmermann veröffentlicht ein Buch aus | |
Kalenderblättern. Darauf malt er mit Tusche Collagen von dürren Fabelwesen. | |
Einzelhändler über Corona-Krise: „Schwindende Überlebenschancen“ | |
Georg Odijk und Frank Dommert vom Kölner Plattenladen A-Musik über | |
Auswirkungen des Coronavirus aufs Geschäft und staatliche Hilfen in | |
Krisenzeiten. | |
Ein Miteinander in der Musik: Auf Montage | |
Neue Musik und Nahöstliches, am Tag der Deutschen Einheit: das Match Cut | |
Festival in der Volksbühne mit Zafraan Ensemble und Babylon Orchestra. | |
30 Jahre Warp Records: Das Medium sendet eine Message | |
Gut, dass es Radio gibt: Das britische Elektroniklabel Warp gönnt sich zum | |
Jubiläum eine 60-stündige Nonstop-Sendung beim Internetradio NTS. | |
Jazz beim mœrs-Festival: Die Alten erschrecken | |
In Moers fand an Pfingsten das Jazzfestival statt. Sein Konzept ist | |
runderneuert, seine Jazz-Definition erweitert. Der Experimentierwillen ist | |
groß. | |
Neues Album von Mouse on Mars: Auf ihrem eigenen Planeten | |
Jan St. Werner und Andi Toma sind Mouse on Mars. „Dimensional People“ heißt | |
ihr neues Werk. Es ist das überzeugendste seit Langem. | |
Stefan Goldmanns Klanginstallation „alif“: Wiederholung macht Hoffnung | |
Stefan Goldmann ist der reflektierteste Techno-Produzent Deutschlands. | |
Seine Klanginstallation „alif“ wird im Berliner Radialsystem aufgeführt. | |
Neues Album von Mouse on Mars: Koketterie der Klangforscher | |
Clevere Quälgeister zwischen Avantgarde, Dancefloor und Pop: Mouse on Mars | |
gönnen sich zum 21. Jahrestag das Doppelalbum „21 Again“. |