# taz.de -- Skizzenbuch von Jo Zimmermann: Kompost des fossilen Rauschens | |
> Der Kölner Illustrator Jo Zimmermann veröffentlicht ein Buch aus | |
> Kalenderblättern. Darauf malt er mit Tusche Collagen von dürren | |
> Fabelwesen. | |
Bild: Ausschnitt aus der Zeichnung „Corona Inn“ | |
Der Schlammpeitzger ist ein nachtaktiver Fisch, der zur Gattung der | |
Steinbeißer gehört. Er kommt in zahlreichen europäischen Flüssen und | |
kleineren Bächen vor, steht dort meist am schlammigen Grund und wartet auf | |
Beute. „Wenn seine Gewässer austrocknen, kann er von Kiemen- auf Darmatmung | |
umschalten und kurze Landwanderungen unternehmen: ein perfekter | |
Überlebenskünstler und absolutes Vorbild für mich“, erklärt der Kölner | |
Musiker und Illustrator Jo Zimmermann. | |
Nach dem langen, dünnen Urviech mit dem runden Maul und der breiten | |
Schwanzflosse nennt sich Zimmermann Schlammpeitziger: In Zimmermanns | |
elektronischem Pop als Schlammpeitziger ist das fossile Rauschen des | |
Universums immer zu hören. Früher spielte der Kölner seine Songs oftmals | |
auf einem billigen Casio-Synthesizer ein, inzwischen setzen digitale | |
Musikprogramme das i-Tüpfelchen auf den Schlammpeitziger-Sound. Seine Musik | |
hat prominente Fans, etwa die britische Band Depeche Mode, die von ihrem | |
Song [1][„Freelove“] einen Remix bei Zimmermann in Auftrag gegeben hat. | |
Der schlauchartige Schlammpeitzger passt auch zu den Zeichnungen, die Jo | |
Zimmermann fertigt. In seinen Tuschebildern, gemalt auf Kalenderblätter und | |
karierte Einzelseiten von Rechenpapierblöcken, tauchen immer wieder lange, | |
dürre Fabelwesen auf. Ihre Extremitäten hat der Künstler vervielfacht, was | |
zu monströsen, oft unförmigen Anatomien führt. Nun lassen sich die | |
Zeichnungen erstmals gebündelt in Buchform begutachten in dem im | |
DIN-A5-Format veröffentlichten Band „Die Pute nascht am Berg der | |
Erkenntnis“. | |
Ein Wasserkopfwesen, halb Karlsson vom Dach, halb Comicfigur, bevölkert so | |
ein Bild von Zimmermann, das „In Ruhe die Gelassenheit des Kosmos | |
betrachten“ heißt. An einer Stelle des Kopfs wächst ein weiterer, kleinerer | |
Schädel, statt Ober- und Unterkörper bildet ein Phallus mit Hoden den | |
Torso. Die Psychoanalyse hat bei Zimmermanns Zeichensystem gut zu tun. | |
## Gelassenheit des Kosmos | |
Gemälde und Songs betitelt der 55-Jährige mit betont kindlicher Rundschrift | |
und Fantasiewortgirlanden wie „Augenwischwaldmoppgeflöte“ oder | |
„Schmuckhafte Nachtsichthaube mit stark orientierungsloser Ausrichtung“. | |
Zeichnungen, [2][Musik] und Worte ergeben „Parallelwellenkunst“, bilanziert | |
sein Musikerkollege Jan St. Werner. Wie St. Werner und die Band Mouse On | |
Mars gehört auch Schlammpeitziger zum erweiterten Kreis um den Kölner | |
Plattenladen A-Musik, bei dem elektronische Musik auch jenseits des | |
Dancefloors gedacht wird als Labor von Ideen und Experimenten, ein nie | |
endender Strom von Entdeckungen und grenzübergreifenden Projekten. | |
„Bevor ich Musik gemacht habe, gab es schon Zeichnungen. Kleinformatige | |
Bilder mit langen Titeln. Das ist mein persönlicher Kosmos. Es geht dabei | |
ums Erfinden, das Bild wird nur lebendig, wenn es etwas beschreibt“, | |
schreibt Schlammpeitziger der taz. Scheinbar unbeabsichtigt verschiebt und | |
erweitert Jo Zimmermann in seinen Zeichnungen Kulissen des Alltags, wirft | |
Begriffe aus der Waren- und Arbeitswelt in die Natur, schiebt | |
Naturphänomene in Logistik und Mode und baut die menschliche Existenz in | |
ein Perpetuum Mobile ein. Infantile Alliterationen, schmutzige Fantasien | |
und Mediengebrabbel werden gewinnbringend kompostiert. | |
## Parkplatz für Pflanzen | |
Wie in der Zeichnung „Wuthaltebucht“, in der auf einer Straße statt | |
Fahrzeugen Pusteblume und Rauke unterwegs sind und an einer Parkzone | |
vorbeifliegen. Hält man die Zeichnung weiter von sich weg, werden aus | |
Straße und Haltebucht die Umrisse eines Baumstamms mit einem abgestorbenen | |
Ast. | |
Zimmermanns Bilderwelten beugen einer „Realitätsverstopfung“ vor, erklärt | |
sein Musikerkollege Jan St. Werner im Vorwort. Der Buchtitel „Die Pute | |
nascht am Berg der Erkenntnis“ ist denn auch eine raffinierte Abwandlung | |
der Systemtheorie der beiden chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana | |
und Francisco Varela. In ihrem Hauptwerk „Der Baum der Erkenntnis“ (1984), | |
definierten sie die Selbstständigkeit in der Evolution biologischer | |
Systeme als „Autopoiesis“. Dieser unabhängige und radikale Forschergeist | |
spricht auch aus der Bilderwelt von Jo Zimmermann. | |
In dem Bild „Denkpause“ thront ein Kopf auf einem Servierwagengestell. | |
Statt Rädern hat es vier Hände. Auf dem Schädel ist ein Trichter, dessen | |
Schlund nach oben zeigt. Das Hirn wird von zwei weiteren Händen als Pedale | |
angetrieben. Das Gesetz der Schwerkraft, in Zimmermanns Werk hat es keine | |
Bedeutung. Ständig kommt etwas ins Rutschen, läuft aus, steht kopf oder | |
fickt sich selbst ins Knie und ist dennoch quicklebendig. | |
24 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=INR2NNmu70I | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=YwAwD4ie2-c | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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