| # taz.de -- 30 Jahre Warp Records: Das Medium sendet eine Message | |
| > Gut, dass es Radio gibt: Das britische Elektroniklabel Warp gönnt sich | |
| > zum Jubiläum eine 60-stündige Nonstop-Sendung beim Internetradio NTS. | |
| Bild: Teil von Warp: Boards of Canada aus Schottland | |
| Auf Albert Einsteins Konto gehen unzählige Aphorismen, manches Bonmot wird | |
| dem Ulmer Physikgenie auch fälschlicherweise zugeordnet. Wahr ist | |
| jedenfalls, neben seiner Annahme, dass Gott nicht würfle, sprach Einstein | |
| sich 1935 auch gegen „spukhafte Fernwirkung“ aus, weil er nicht wahrhaben | |
| wollte, dass die Welt so seltsam und kontingent sei, wie sie es eben ist. | |
| Obwohl, man muss sich gar nicht in die weite Welt der Quantenmechanik | |
| begeben, um physikalische Phänomene zu beobachten, die man gemeinhin als | |
| „spukhaft“ bezeichnen darf. Radiowellen wären da auch als Beispiel zu | |
| nennen; so wichtig die Weltempfänger in der ersten Hälfte des 20. | |
| Jahrhunderts waren, werden damals wie heute die wenigsten eingestiegen sein | |
| in die physikalischen Details von Telekommunikation. | |
| Heute, so wissen mittlerweile nicht nurDigital Natives, verlagert sich der | |
| Radiobetrieb immer stärker in den virtuellen Raum des Internets, nicht nur | |
| öffentlich-rechtliche, sondern auch unabhängige Radiostationen senden | |
| inzwischen von dort. Auch Musikprogramme erfreuen sich in ihrer digitalen | |
| Inkarnation größer werdender Beliebtheit. | |
| ## Wichtig für die Geschmacksbildung | |
| Zu einer sicheren Geschmacksbildung trägt etwa der britische Internetsender | |
| NTS maßgeblich bei. Aus einem kleinen Kiosk in London senden die Größen des | |
| Underground-Pop regelmäßig ihre Sendungen, und Moderatoren wie Charlie | |
| Bones sägen allmählich am Thron ehemaliger Rundfunk-Legenden; John Peel, | |
| Säulenheiliger und Prototyp des modernen Radio-DJs in Ehren. | |
| Mindestens so bedeutsam wie John Peels DJ-Tätigkeit ist die Wühlarbeit des | |
| britischen Elektronik-Labels Warp Records. In den vergangenen 30 Jahren hat | |
| das Label aus Sheffield mit verschiedenen Arten von Dancefloorsound, aber | |
| auch mit sogenannter Intelligent Dance Music (IDM) von Künstlern wie Aphex | |
| Twin gepunktet. Verschrobener Pop unterschiedlichster Couleur hat bei Warp | |
| Unterschlupf gefunden. | |
| Pünktlich zum 30. Jubiläum hat vergangenes Wochenende das Internetradio NTS | |
| mit Warp zusammengespannt. Markiert als „Radio-Festival“, durfte man von | |
| Freitagmittag bis Montagnacht bei einer freundlichen Übernahme durchgehend | |
| Künstler*innen des Labels beim Mixen und beim Live-Spielen zuhören. Alles | |
| unter dem Namen „wxaxrxp“, was als „Warp XXX“ (also 30) gelesen werden | |
| durfte. | |
| ## Liveaufnahmen und liebevolle Reminiszenzen | |
| Das Radiokerngeschäft ist und bleibt es, Musik zu spielen und diese zu | |
| kommentieren und kontextualisieren. Dazu kam es während der rund | |
| 60-stündigen Nonstop- Reise durch den Warp-Katalog aber eher selten. Im | |
| Fokus blieb stets die Musik des Labels – auch wenn man sich mit der Wahl | |
| der Formate erfinderisch zeigte: Ob Live-Sessions aus dem Studio, DJ-Sets, | |
| Archivaufnahmen und eben rare Tracks und andere Besonderheiten aus drei | |
| Dekaden Labelschaffen, wie etwa ein Bootleg des enigmatischen schottischen | |
| Duos Boards of Canada und die hinreißend liebevollen Reminiszenzen und | |
| Erinnerungen an die Verstorbenen, etwa die Sängerin Trish Keenan von der | |
| Band Broadcast und Mark Bell, Begründer des Bleephouse Duos LFO aus Leeds. | |
| „Untermalt“ wurde das ausschweifende, manchmal wankelmütige Programm durch | |
| Lesungen und historische Vorträge: Sowohl John Cage als auch Marcel Duchamp | |
| und Aldous Huxley kamen zu Wort. So spann sich ein imaginäres Netzwerk aus | |
| Einflüssen auf, das den häufig verkopften, aber stets konkreten Ansatz von | |
| Warp Records widerspiegelt: An den Randbereichen von Pop-Musik wird mit der | |
| Avantgarde kokettiert, sich ihrer Mittel angenommen, auch sprödes oder | |
| krachiges Material zugelassen. Doch die Größe, die das Label Warp schon | |
| bald in seiner nun 30-jährigen Geschichte angenommen hat, zeigt bis heute, | |
| dass diese Fabrik stets unterschätzt wurde; die Basis waren und sind | |
| Verkaufszahlen, die selbst so mancher Major neidet. | |
| Denn gerade auf der britischen Insel wird die Mischung aus Bandsound à la | |
| Grizzly Bear und !!! genauso wertgeschätzt wie der verwunschene, | |
| experimentelle Sound von Aphex Twin (vertreten mit einer Live-Aufnahme von | |
| 2012) und unveröffentlichte Tracks des Duos Autechre. Nicht das Medium, | |
| sondern die Musik selbst wurde zur spukhaften Institution. Häufig knisterte | |
| und fiepte es, früher hätte man wohl den Sender nachjustiert – unsicher ob | |
| es kultivierte oder zufällige Störgeräusche sind. | |
| Gerade diese fast drei Tage Dauersendung hat unter Beweis gestellt, was | |
| Radio einst war: eine Plattform, auf der man sich, losgelöst von visuellen | |
| Reizen, tief mit der Materie Klang auseinandersetzen kann. Und der Radio-DJ | |
| ist der bessere Gatekeeper des Geschmacks – verlässlicher als jeder | |
| YouTube-Algorithmus. Ob Radio-Festivals das nächste große Ding werden? | |
| Jedenfalls ist „30 Jahre Warp“ im Programm von NTS ein triftiger Grund, | |
| sich sowohl mit dem Label als auch mit dem Medium Radio wieder intensiver | |
| zu beschäftigen. Es lohnt. | |
| 26 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
| ## TAGS | |
| Warp Records | |
| Internetradio | |
| NTS-London | |
| Ambient | |
| Henrietta Smith-Rolla | |
| Autor | |
| elektronische Musik | |
| künstliche Intelligenz | |
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