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# taz.de -- Neues Album von Elektronikduo Autechre: Was die Ordnung verwirrt
> Starke Zeichen: Das nordenglische Elektronikduo Autechre bringt auf
> seinem neuen Album „Sign“ die Computer mit abstrahiertem Pop zum Singen.
Bild: Programmier das mal: Autechre im Serverraum
Autechre sind ein Enigma. Seit fast 30 Jahren produziert das britische
Elektronikduo Album um Album und all jene Werke kreisen ausschließlich um
sich selbst. Autechre [1][sind Autechre sind Autechre] – und dafür werden
sie geliebt. Von allen Künstler:innen, die in den 1990er Jahren als
„intelligente“ Alternative zum Dancefloor-Techno gehandelt wurden, sind
Autechre diejenigen mit den treuesten Fans.
Im Internet wird auch die kleinste Klangverschiebung ausgiebig diskutiert,
es kursieren grobkörnige Fotos ihrer Studio-Setups, und Hunderte Künstler –
die männliche Form ist Absicht – sind durch die beiden dazu motiviert
worden, selbst einen Laptop in die Hand zu nehmen. Viele klingen wie
Autechre, aber Autechre klingen wie niemand sonst.
Dabei hüten Autechre ihr Geheimnis nicht durch eine elaborierte Form von
Privatmythologie, sondern dadurch, dass sie als Personen maximal
unauffällig sind. So wie vor drei Jahren, als sie nach einem umjubelten
Auftritt in Berlin mit einem Bier an der Wand des Kellerclubs Ohm gelehnt
dem Set eines Detroiter Electro-DJs zugehört haben, während auf der
Tanzfläche die angereisten Touristen versuchten, ihre Version eines typisch
ekstatischen Berlin-Wochenendes auszuleben. Autechre sind Anti-Stars,
gerade das macht sie interessant.
## Inhumane Collagen
Zusammengefunden haben Rob Brown und Sean Booth Ende Achtziger als Teenager
in [2][Nordengland] über die gemeinsame Liebe zu HipHop-Mixtapes. Anfangs
experimentieren beide mit billigen Drumcomputern und Keyboards und
entwickeln so ihre eigene Variante von HipHop: eine Collage aus
elektronischen Beats und Melodiefragmenten, die so niemals von einem
Menschen gespielt werden könnte. Aber der HipHop von Autechre speist sich
nicht aus dem Fundus des [3][Black Atlantic,] der langen Geschichte
Schwarzer Musik von Sklavengesängen bis Trap, sondern aus ihrem
Maschinenpark, den sie anfangs noch mit Lötzinn bearbeitet haben und
inzwischen mit Code.
Im Zentrum der Musik von Autechre lebt eine Musiksoftware namens Max/MSP.
Seit Jahren schon produzieren Sean Booth und Rob Brown damit ihre Stücke,
indem sie sich Code-Fragmente per E-Mail zusenden. Anstatt einzelne Sounds
erst zu modellieren und anschließend hintereinander zum fertigen Track zu
arrangieren, fließt das Generieren von Sequenzen und Sounds in Max/MSP
ineinander.
Die Musiker geben Parameter vor, den Rest erledigt die Software. In den
letzten Jahren führte das vor allem zu Superlativen: Ihr letztes reguläres
Album „Elseq 1-5“ (2016) bestand aus über acht Stunden abstrakter Musik.
Seitdem haben sie ein achtstündiges Boxset mit Liveaufnahmen fürs Radio
veröffentlicht sowie die Mitschnitte von 35 Konzerten, bei denen sie an den
Laptops improvisiert haben.
## Ein richtig gutes Popalbum
Ihr neues Album „Sign“ ist dagegen – ja, wirklich – ein Popalbum: elf
Stücke, rund eine Dreiviertelstunde lang. Und wie jedes gute Popalbum ist
es ein Erlebnis, das kaum zu beschreiben ist. Sprache wirkt schnell
unbeholfen, sobald es darum geht, die Musik auf „Sign“ zu übersetzen. Die
Abstraktion der Autechre-Soundcollagen legt ebenso abstrakte Metaphern
nahe: geometrische Formen, die sich zu Fraktalen ent- und dann wieder
zusammenfalten. Oder so ähnlich. Aber all das lässt nur erahnen, wie sich
„Sign“ anhört. Dieses Album evoziert eine Euphorie des Ungehörten. Sie
speist sich vor allem aus Widersprüchlichkeiten, die ihren Ursprung im
Sounddesign von Autechre haben.
Sie beginnen das Album mit den metallischen Kratzsounds von „M4 Lema“.
Innerhalb weniger Takte werden diese von warmen Synthesizerflächen umgarnt,
während sich von hinten ein Kopfnickerbeat anschmiegt, als wäre er eine
Katze auf der Suche nach Körperkontakt. Was aber soll man dabei fühlen?
Freude? Melancholie? Ich weiß es nicht – aber keins der acht Stücke auf
„Sign“ lässt mich kalt.
Autechre veruneindeutigen auf „Sign“ die affektiven Konventionen, die
sich in den letzten 40 Jahren elektronischer Popmusik eingeschliffen haben.
„F7“ beschwört die Peak-Time herauf, den Moment, wenn im Club alle die
Hände in die Höhe reißen, weil der DJ die Musik lange stehen lässt. Nur
dass Autechre dafür nicht die Bassdrum aussetzen, sondern sie gar nicht
erst einführen.
„Schmefd“ nimmt die Melodiefragmente von HipHop-Instrumentals auf, ersetzt
die gesampelten Instrumente jedoch durch digitale Sounds, die ihre
Künstlichkeit offen ausstellen. Und „gr4“ ist ein Ambient-Track, der seine
Wärme nicht aus warmen, ozeanischen Soundflächen zieht, sondern aus der
minimalistischen Wiederholung eines schroff verzehrten „Sign“, das die
Ordnung der Zeichen verwirrt. Egal, wie und wo man mit dem Hören des neuen
Autechre-Albums anfängt: Am Ende ist man nicht die Person, die man am
Anfang gewesen ist
19 Oct 2020
## LINKS
[1] /Neues-Album-von-Autechre/!5311710/
[2] /Nordengland-vor-dem-Brexit/!5581561/
[3] /Geschichtsbuch-Die-vielkoepfige-Hydra/!5174581/
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
Ambient
Elektronik
England
Warp Records
Musik
Warp Records
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