Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte um „Cancel Culture“: Diskursive Sackgassen
> Bei der Diskussion um „Cancel Culture“ scheinen die Fronten klar. Um über
> Aufgeregtheiten hinauszukommen, müssen wir die Macht der Sprache
> bedenken.
Bild: Theodor W. Adorno wusste, wo es hakt bei der Aufklärung
Was passiert eigentlich, wenn eine Debatte darüber ausbricht, dass Debatten
nicht mehr funktionieren? Die Debatte über die Debatte scheitert, und am
Ende werden altbekannte Standpunkte in die Welt getwittert. Es wird sich
seiner selbst vergewissert. Hat man dann noch Realitätsbezug genug übrig,
findet man sich in einer Sackgasse wieder, aus der auch nicht Reden
raushilft. Und alle fragen sich: Wie konnte es nur so weit kommen?
Für die einen ist die Antwort klar: „Cancel Culture“, ein digitaler Mob von
moralisch sich auf der richtigen Seite wähnenden Accounts, die sich auf
eine Person stürzen, die irgendetwas gesagt oder getan hat. Der Begriff ist
ein transatlantischer Import wie viele andere Trendbegriffe der
intellektuell-tagespolitischen Auseinandersetzung. Die Geschichte des
Phänomens [1][haben die Journalisten Michael Barbaro und Jonah Bromwich
kürzlich im NYT-Podcast The Daily nachgezeichnet.]
Seinen Ursprung habe der Begriff in einer Folge der Webserie „Joanne the
Scammer“ vom Jahr 2016, in der die Titelfigur vergeblich versucht, einen
Espressokocher zu bedienen und dass Vorhaben dann „canceled“; im Frühling
2018 nutzt Rapper Kanye West die Bezeichnung, um seine Befürchtung
auszudrücken, dass er „canceled“ werden könnte, weil er Trump nicht
„canceled“; im Herbst 2019 macht sich Barack Obama vor Aktivist:innen
kritische Gedanken über eine „Call-out-Culture“, die man synonym zu „Can…
Culture“ verstehen kann; wenige Monate später greift Trump die Bezeichnung
in einer Kampfansage gegen die „politisch Korrekten“ im Land auf; und
Anfang Juli 2020 [2][veröffentlichen Intellektuelle wie J. K Rowling, Noam
Chomsky und Francis Fukuyama einen „Letter on Justice and Open Debate]“,
in dem sie ihre Sorge um die offene Debatte und die Meinungsfreiheit
kundtun, ohne das Reizwort selbst zu benutzen.
In Deutschland verhilft dem Konzept daraufhin die Kontroverse um [3][die
Kabarettistin Lisa Eckhart] zum Durchbruch. Nun freuen sich die einen, ein
inländisches Beispiel für den Sittenwächtervorwurf gefunden zu haben. Die
anderen weisen den Vorwurf zurück und enttarnen ihn als rechte Strategie,
um berechtigte Kritik zu delegitimieren.
## Wer immer gehört wird
„Cancel Culture“ ist sehr wohl eine liberale Denkfigur, ein Kampfkonzept.
Eines das blind ist für Machtverhältnisse, weil es davon ausgeht, dass sich
Menschen im Debattenring mit gleichen Voraussetzungen gegenüberstehen.
Dabei bleibt vielen Menschen der Eintritt in den Ring überhaupt erst
verwehrt. Das liberale Weltverständnis verwechselt den gesellschaftlichen
Ist-Zustand mit dem von der Aufklärung formulierten Idealzustand. Es geht
davon aus, dass alle Menschen grundsätzlich gleiche Lebenschancen hätten.
Der moderne Staat stellt tatsächlich alle Staatsbürger:innen
juristisch-formal gleich, die rechtliche Gleichheit bedeutet aber nicht,
dass die Menschen auch gleiche Lebenschancen haben.
Weil Liberale stur an diesem Dogma festhalten, verstehen sie das Unbehagen
jener nicht, denen ökonomische, politische und kulturelle Ressourcen
versagt bleiben. Die Erfahrung von Widerspruch fühlt sich für sie dann an,
als käme die Freiheit an sich in Gefahr, wobei nur ihre Freiheit, die sie
den anderen vorenthalten, infrage gestellt wird. Francis Fukuyama, J. K.
Rowling oder Lisa Eckhart müssen nicht fürchten, dass sie nicht gehört
werden. Sie brauchen nicht zu schreien, um gehört zu werden. Sie werden
selbst dann gehört, wenn sie flüstern. Bestimmten Personen Öffentlichkeit
entziehen oder sie unter Druck setzen können effektiv nur jene, die mächtig
sind.
Der Comedian Aurel Mertz hat im öffentlich-rechtlichen Jugendangebot „Funk“
ein [4][Satirevideo zum Thema Racial Profilig] veröffentlicht, in dem ein
schwarzer Mann von Polizisten verdächtigt und erschossen wird, als er sein
Fahrrad aufschließen möchte. Die Innenminister von Baden-Württemberg und
Nordrhein-Westfalen kritisierten die Satire daraufhin scharf, ein
Innenpolitiker der CDU nannte sie „staatszersetzenden Schund“. [5][Auch die
Debatte um die sogenannte Polizei-Kolumne der taz] ließe sich als Beispiel
nennen. Es macht einen Unterschied, ob Satire Mächtige oder Marginalisierte
bearbeitet, und es macht auch einen Unterschied, ob sie Innenminister zum
Gegner hat oder ein paar Twitter-Accounts.
## Selbstjustiz ist gefährlich
Der Begriff „Cancel Culture“ sei nur eine neue Bezeichnung für „Identity
Politics“ oder „Political Correctness“, [6][hieß es in der Diskussion um
Eckhart immer wieder.] Für manche Hysterische scheint sich tatsächlich der
Begriff, aber nicht die Funktion geändert zu haben: Schaut her, diese
Redeverbote, diese totalitäre Stimmung, diese Gefahr für unsere Demokratie.
Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied, eine Entwicklung, die sich
auch sprachlich niederschlägt: Die sozial und politisch Ausgeschlossenen
kämpfen heute so selbstbewusst wie noch nie um genannte Ressourcen. Während
„Political Correctness“ und „Identity Politics“ noch auf Betroffenheit
hinweisen, geht das Phänomen, das unter „Cancel Culture“ subsumiert wird,
einen Schritt weiter: Diejenigen, die Ungerechtigkeit beklagen, fordern
nicht mehr Gerechtigkeit, sie holen sich Gerechtigkeit.
Weil der Glaube an universelle Justiz verbraucht ist, greifen sie
kommunikativ zu Selbstjustiz: Wer sich rassistisch und misogyn äußert oder
soziale Ausbeutung zum Normalzustand erklärt, soll nicht einfach damit
weitermachen. Aber Selbstjustiz ist gefährlich. Sie kann ein Zurückfallen
hinter Rechtsstaatlichkeit bedeuten, Willkür ermöglichen.
Zugleich wird Selbstjustiz aber zur Notwehr, wenn die bestehende Ordnung
nicht alle Menschen gleich behandelt. Wenn die etablierte Vernunft immerzu
ausgrenzt und diese Ausgrenzung auch noch permanent leugnet, also sozusagen
den Diskurs darüber „canceled“, dann kann sich bei den Ausgegrenzten die
Wut gegen diese Vernunft durchsetzen.
## Adorno und die Ambivalenz der Sprache
Die Debatte um „Cancel Culture“ zeigt aber auch, dass ein modernes Dilemma
eine neue Qualität erreicht hat: die Beschränktheit der Sprache, die sich
in den sozialen Medien noch mal potenziert, weil hier Kommunikation
knapper, schneller, unmittelbarer stattfindet. Sprache ist Voraussetzung
für zivilisatorischen Fortschritt und komplexe gesellschaftliche
Arbeitsteilung. Sprache ist aber auch Gewalt, weil sie menschliche und
gesellschaftliche Realität nie ganz erfassen kann, immer einen Teil dieser
abschneidet.
Immer wenn Sprache diese Realität in ihre Form zwängt, tut sie ihr Gewalt
an, auch indem sie sich der Uneindeutigkeiten und Widersprüche der Realität
entledigt. Sprache ermöglicht deshalb Fortschritt und Herrschaft zugleich.
Diese Ambivalenz hat Theodor W. Adorno als fundamentales Dilemma der
Aufklärung beschrieben.
Mediale Revolutionen verschärfen dieses Dilemma nun, weil sie die Form der
Kommunikation ändern und die Grenzen der Sprache noch enger ziehen. Die
egalitären Effekte der soziale Medien sind unbestreitbar: Arabischer
Frühling, Gezi, Hongkong, #MeToo. Die kontraproduktiven Tendenzen sind aber
ebenso bekannt: der Zwang zur Zuspitzung, Verkürzung, bedingt durch eine
Aufmerksamkeitsökonomie, die eher den größten Reiz belohnt als den Gehalt
und sozialen Effekt des Kommunizierten.
## Destruktive Tendenzen bei Twitter
Auf Twitter und Co. kommunizieren wir nicht mehr, um uns zu verstehen. Wir
verstehen uns falsch, um nicht mehr kommunizieren zu müssen. Sprache
verkommt zum Taler auf dem digitalen Aufmerksamkeitsmarkt, verliert
zunehmend ihren aufklärerischen Kern. Soziale Medien haben zwar weniger
hierarchische Räume der Kommunikation geschaffen, der gegenwärtige Modus
der Kommunikation erschwert aber Differenzierung. Weil sie sich auf eine
allgemeine Tendenz bezieht, die über politische Lager hinausgeht, hat die
Debatte über „Cancel Culture“ einen wahren Kern – obwohl der Begriff mit
rechtsliberalen Motiven in Umlauf gebracht wurde. Es wäre kindisch, diese
destruktive Tendenz zu ignorieren, nur weil politisch Andersdenkende eine
Debatte eskaliert haben.
Soll die Frustration und Resignation an diesem Problem nicht in
Ressentiment und Isolation münden, dann muss die digitale Sprache über sich
selbst hinauswachsen. Es braucht Wege des Ausdrucks, die engagiert genug
sind, um auch ein andersdenkendes oder unentschiedenes Gegenüber davon zu
überzeugen, sich darauf einzulassen.
Adorno möchte die Aufklärung retten, indem er „über den Begriff durch den
Begriff hinauszugelangen“, also die Grenzen des Begriffs mit dem Begriff
selbst zu überwinden versucht. Auf soziale Medien bezogen könnte das auch
bedeuten, dass man ihre aufklärerischen Möglichkeiten weiter bemüht, ihren
gegenaufklärerischen Versuchungen aber widersteht. Differenzierte
Kommunikation bedeutet nicht Kuscheln mit den Mächtigen. Sie glaubt aber
weiterhin an die Macht des Arguments trotz ungleicher Machtverhältnisse.
Revolutionen ohne „Cancel Culture“ gab es in der Geschichte sicherlich
keine. Aber eine Revolution ist nichts wert, wenn sie nicht genügend
Menschen von sich überzeugt.
25 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.nytimes.com/2020/08/10/podcasts/the-daily/cancel-culture.html
[2] /Offener-Brief-gegen-Cancel-Culture/!5694595
[3] /Lisa-Eckhart-und-der-Antisemitismus/!5679755
[4] https://www.funk.net/channel/aurel-12064/racial-profiling-1701278
[5] /Verteidigung-taz-Kolumne/!5696661
[6] /Roman-von-Kaberettistin-Lisa-Eckhart/!5703212
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
Identität
Soziale Medien
cancel culture
IG
Muslime in Deutschland
Kolumne Nachsitzen
Wissenschaft
Medien
Kolumne Unter Druck
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt #metoo
Hamburg
Gewalt
Knapp überm Boulevard
Schwerpunkt Rassismus
Vielfalt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte um WDR-Moderatorin: Schuldige Lebensläufe
Weil sie früher an einer Al-Kuds-Demo teilnahm, setzte der WDR die
Moderation von Nemi El-Hassan aus. Ihre Biografie erinnert mich an meine
Jugend.
Vielfalt des Diskurses: Neue Welten
Lange Zeit scheute sich unsere Autorin davor Sachbücher zu lesen. Doch nun
erschließen neue Autor:innen das Feld – gegen Widerstände der Mehrheit.
„Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“: Fehlende Empirie
Das Akademiker*innen-Netzwerk ist keine Solidaritätsaktion mit türkischen
Studierenden. Sie fürchten Repression gegen sich.
Internetnutzung 2020 und Medienkompetenz: Leben in der medialen Gesellschaft
Die Grenzen zwischen uns und unserem medialen Abbild lösen sich immer
weiter auf. Umso wichtiger wird die Medienkompetenz.
Appell von Rechten und Konservativen: Was denkt Lisa Eckhart?
Ausgeladene Kabarettisten, zensierte Karikaturisten und verfolgte
Whistleblower: Im Netz kursiert eine Unterschriftenliste voller
Verfolgungswahn.
Shitstorm gegen Comedian Somuncu: Kein doppelter Boden
Kabarettist Serdar Somuncu beleidigt Frauen in einem Podcast vom rbb. Der
Sender entschuldigt sich, verweist aber auf die Satirefreiheit. So einfach?
Blinde Flecken in der Debatte: Cancelt euch doch
Solange die deutsche Diskussion über Cancel Culture ihre Denkfaulheit nicht
aufgibt, kann man sie aufgrund mangelnder Relevanz gerne streichen.
Lesung mit Lisa Eckhart in Hamburg: Ausgeladene liest doch
Nach Protesten hatte das Literaturfestival „Harbour Front“ die
Kabarettistin Lisa Eckhart wieder ausgeladen. Nun las sie anderswo – in
aller Ruhe.
Gewaltdarstellung im Journalismus: Die Grenzen des Sehbaren
Explizite Videos haben Debatten über Polizeigewalt und Gewalt gegen
Schwarze Menschen ausgelöst. Doch was ist mit der Würde der Opfer?
Soziales Phänomen „Cancel Culture“: Dialektik der Absage
Die sogenannte Cancel Culture macht sich breit: Ein Gegner wird geächtet
und ausgegrenzt. Das ist Streitvermeidung statt Auseinandersetzung.
Streit um Kabarettistin Lisa Eckhart: Vergrößern ist nicht spiegeln
Manche behaupten, die Kabarettistin Lisa Eckhart wolle der Gesellschaft
einen Spiegel vorhalten. Das ist Schönrederei, denn ihrer Show fehlt die
Distanz zur Figur.
Offener Brief gegen „Cancel Culture“: Die Vielfalt im Diskurs
In einem offenen Brief monieren rund 150 Prominente eine „Atmosphäre der
Zensur“ in öffentlichen Debatten. Doch ist Widerspruch schon Zensur?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.