# taz.de -- Gewaltdarstellung im Journalismus: Die Grenzen des Sehbaren | |
> Explizite Videos haben Debatten über Polizeigewalt und Gewalt gegen | |
> Schwarze Menschen ausgelöst. Doch was ist mit der Würde der Opfer? | |
Bild: Bilder werden gemacht – hier von den Protesten gegen Polizeigewalt in K… | |
Erst gab es das Video von Ahmaud Arbery, in dem er von zwei Männern in | |
ihrem Auto gejagt und schließlich erschossen wird. Dann kamen die Bilder | |
von George Floyd, von dessen Festnahme und den Minuten seines Todeskampfes, | |
in denen er noch „I can’t breathe“ und „Mama“ stöhnt, während ein P… | |
auf seinem Nacken kniet und andere ihn fixieren. Und seit einigen Tagen | |
sieht man in den sozialen Medien nun die Aufnahme von Jacob Blake aus | |
Kenosha, wie ihm, sich im Schritttempo wegbewegend, sieben Mal von | |
Polizisten aus nächster Nähe in den Rücken geschossen wird. | |
Das alles sind Fälle aus den USA, und das Rassismusproblem der US-Polizei | |
ist kein neues, zuvor gab es schon Videos von den Festnahmen oder dem Tod | |
von Eric Garner, Tamir Rice, Sandra Bland, Philando Castile – und Dutzende | |
mehr. In Deutschland tauchen derzeit ebenfalls Aufnahmen von Polizeigewalt | |
auf, [1][zuletzt das Video eines 15-Jährigen, der in Düsseldorf von | |
Polizist:innen zu Boden gedrückt wird,] einer kniet auf seinem Nacken, | |
ähnlich wie es bei Floyd getan wurde. Auch hier kein ganz neues Phänomen. | |
Diese Videos sind im Netz zu finden, man muss sie nicht suchen, denn sie | |
werden häufig und fast beiläufig verbreitet. Sie finden einen, weil | |
Freunde, Familie und Leute, denen man auf Twitter folgt, sie teilen. | |
Nachrichtenseiten binden sie in ihre Berichte ein. [2][Manchmal steht eine | |
Content Note vor einem Video] – eine Warnung vor dem, was man gleich sehen | |
wird. Oft aber fehlt diese Warnung; und wer in seinem Account das | |
automatische Abspielen von Videos aktiviert hat, sieht vieles ohne aktives | |
Zutun. | |
Es sind Bilder, die gleichermaßen wichtig und verstörend sind. Bilder, die | |
kaum zu ertragen sind, die aufwühlen und zu Tränen rühren sollten. Und die | |
im Nachgang stets auch Fragen aufwerfen, die über die grundsätzliche Frage, | |
warum eine Tat überhaupt geschehen ist und kann, hinausgehen. | |
## Mit eigenen Augen | |
Denn während es einerseits beeindruckend ist, welche politische Kraft | |
solche Aufnahmen entfalten können, ist es doch auch angebracht zu | |
thematisieren, welchen Schaden sie unter Umständen anrichten und ob es | |
vertretbar ist, diese Videos zu verbreiten – als Privatperson, aber auch | |
als Nachrichtenmedium. Eine eindeutige Antwort darauf wird es nicht geben, | |
aber es gibt Abwägungen, die man vornehmen kann und sollte. | |
Für Privatpersonen haben diese Videos den großen Vorteil, dass sie eine | |
niedrigschwellige Möglichkeit bieten, anhaltende Missstände aufzuzeigen und | |
Ereignisse zu belegen. Man ist in der Lage, Dinge mit eigenen Augen zu | |
sehen. Niemand wird heute noch in Frage stellen, ob ein Polizist auf George | |
Floyds Nacken kniete, während ein Passant ihn darauf hinwies, dass er ihn | |
gerade umbringt. | |
Die Reichweite, die diese Aufnahmen zudem in sozialen Medien bekommen | |
können, ist enorm, zuletzt gut erkennbar durch die von Floyds Tod | |
ausgelösten, weltweiten „Black Lives Matter“-Proteste. Diese Aufnahmen sind | |
ein Weg, um die Politik zum Handeln zu zwingen, um Konsequenzen | |
einzufordern, die in anderen Fällen ohne bildliche Aufnahmen unter | |
Umständen viel schwerer zu erreichen sind. | |
Andererseits zeigen Videos immer nur einen Ausschnitt der Realität. Und ein | |
Teil der Diskussion verschiebt sich stets auf die Frage, was nicht zu sehen | |
war, was davor und danach passiert. Das kann man ohne weitere Aufnahmen | |
nicht wissen. Und dann stellen sich weitere Fragen: Was muss im Vorfeld | |
passiert sein, um eine Tat zu rechtfertigen? Brauchen wir noch mehr dieser | |
Videos? Wer braucht sie? Bei welchen Ereignissen wollen wir wissen, was | |
vorher geschehen ist und bei welchen nicht? Wie viele Kameraperspektiven | |
werden verlangt, um zu glauben, was man sieht? | |
## Was ist mit sexualisierter Gewalt? | |
Während diese Videos an sich wertvoll sein können, als Beleg dafür, dass | |
etwas passiert ist, stellt sich bei ihrer Verbreitung die Frage, ob diese | |
nicht noch mehr Schaden anrichtet. Denn diese Bilder sind für viele | |
Menschen traumatisierend. Für Schwarze Menschen und People of Color (BPoC) | |
ist es psychisch belastend, überall Videos davon zu sehen, wie Personen, | |
die ihre Mutter, ihre Geschwister, ihre Kinder oder sie selbst sein | |
könnten, brutal gejagt und ermordet werden. Das kann psychische Beschwerden | |
hervorrufen oder verstärken. Man würde Frauen auch nicht zumuten wollen, | |
sich in sozialen Medien explizite Aufnahmen sexualisierter Gewalt | |
anzusehen. Wieso mutet man es BpoC zu? | |
Insgesamt kann es für eine Gesellschaft nur ungesund sein, derart grausame | |
Bilder im derzeitigen Umfang zu konsumieren. Und gleichzeitig stellt sich | |
die Frage nach der Notwendigkeit: Ist tatsächlich ein derart brutales Video | |
nötig, damit Menschen anfangen, sich für diese Vorgänge zu interessieren? | |
Und entwickelt sich daraus eine Art Teufelskreis: Man glaubt Brutalität nur | |
noch, wenn man sie auf Videos gesehen hat? | |
Wer so ein Video teilt, will meist schlicht sagen: „Sieh her, was hier | |
Schlimmes passiert“ – und das ist im Grunde durchaus nachzuvollziehen. Aber | |
jeder Einzelne sollte sich fragen, ob das der richtige und einzige Weg ist, | |
um die nötige Aufmerksamkeit zu erreichen. Ob es nicht andere Möglichkeiten | |
gibt – Initiativen, die man teilen kann, Berichte ohne bebilderte | |
Gewaltdarstellung, Spendenaufrufe, politische Forderungen, die man an | |
zuständige Stellen richten kann. Jeder sollte sich fragen, ob wir noch mehr | |
von diesen Videos brauchen und natürlich, ob man sie auch teilen würde, | |
wenn darauf eine weiße Person gequält und ermordet werden würde. | |
## Die Würde des Opfers | |
Aus journalistischer Sicht sind darüber hinaus bei der Frage, ob Bilder | |
oder Videos von Gewalt weiter verbreitet werden sollen, auch mehrere | |
medienethische Überlegungen relevant. Einerseits hat Journalismus einen | |
dokumentarischen Anspruch: Er soll zeigen, was geschieht, damit die | |
Öffentlichkeit sich ein Bild darüber machen kann. In diesem Sinne wäre es | |
auch wichtig, Bilder und Bewegtbilder von Gewalt gegen Menschen zu zeigen. | |
Dennoch landen derlei Bilder so gut wie nie ungefiltert in journalistischen | |
Medien. Denn es gibt noch weitere medienethisch relevante Prinzipien. | |
Zum einen ist da der Schutz des Opfers. Jemanden in einer Situation von | |
Hilflosigkeit oder sogar im Moment des Ablebens zu zeigen, verletzt die | |
Würde dieses Menschen. Der dokumentarische Wert eines solchen Videos oder | |
Bildes ist zwar hoch anzusetzen – da er zum Beispiel als Beweis eines | |
Missstandes dienen kann und das Verbreiten dafür sorgen könnte, dass die | |
gesamte Öffentlichkeit diesen Missstand mitbekommt. Allerdings wird bei | |
dieser Argumentation die Menschenwürde des Opfers zum Nutzen eines „höheren | |
Guts“ funktionalisiert, was ethisch nicht vertretbar ist. | |
Das Herausfiltern von expliziter Gewalt in journalistischen | |
Darstellungsformen schützt das Publikum. Zwar stellt Journalismus in der | |
Regel ohnehin eher die negativen, niederschmetternden und katastrophalen | |
Seiten der Realität dar, allerdings in der Regel nicht unmittelbar, sondern | |
moderiert. Durch Umschreibung, Einfassung in Formate und gegebenenfalls | |
angekündigt, so dass sich das Publikum auf das einstellen kann, was kommt. | |
## Menschen in Newsrooms | |
Eine ungefilterte Wiedergabe von gewaltvollen Bildern am Anfang eines | |
TV-Beitrags oder als Webvideo, das sich von alleine abspielt, wäre | |
übergriffig gegenüber den Zuschauenden. Im Fall des Handyvideos aus | |
Kenosha, das zeigt, wie Einsatzkräfte mehrere Schüsse auf den unbewaffneten | |
Jacob Blake abfeuern, haben sich einige Medien für einen Zwischenweg | |
entschieden: Sie spielten das Video bis kurz vor dem Moment der Schüsse ab, | |
hielten dann das Bild an und ließen nur das Audio weiterlaufen. Auf diese | |
Weise wurde die Situation, nämlich dass Blake unbewaffnet und nicht | |
aggressiv war, klar, der Moment der Schüsse wurde allerdings nicht zulasten | |
des Opfers bildlich dargestellt, sondern in beschreibenden Worten | |
zusammengefasst. | |
Um Entscheidungen treffen zu können, welche Bilder ans Publikum | |
weitergereicht werden, müssen Journalist*innen das Bildmaterial zuerst | |
vollständig sichten. Für Menschen, die in Newsrooms arbeiten, ergibt sich | |
daraus die Situation, dass sie sehr oft mit verstörendem Bildmaterial | |
konfrontiert sind. Über die Frage, wie viel solchen Materials einzelnen | |
Journalist*innen als Teil ihres Jobs zugemutet werden kann und sollte, | |
wird bisher leider zu wenig debattiert. Auch wenn das Konsumieren von | |
Gewaltvideos im journalistischen Arbeitsalltag unvermeidbar ist, sollte | |
also beachtet werden, dass auch die Nachrichtenredakteur*innen zu | |
schützen sind. | |
27 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Vorfall-bei-Polizeieinsatz-in-Duesseldorf/!5707538 | |
[2] https://www.lexico.com/en/definition/content_note | |
## AUTOREN | |
Saskia Hödl | |
Peter Weissenburger | |
## TAGS | |
Gewalt | |
People of Color | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Black Lives Matter | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Sklaverei | |
Schwerpunkt Rassismus | |
TV-Krimi | |
Schwerpunkt US-Präsidentschaftswahl 2020 | |
Wisconsin | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
Identität | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
US-Prozess um Tod von Ahmaud Arbery: „Wir schießen dir den Kopf weg!“ | |
Im US-Bundesstaat Georgia wird die Tötung des Schwarzen Ahmaud Arbery | |
verhandelt. Angeklagt sind drei weiße Männer, fast alle Geschworenen sind | |
weiß. | |
Nach faschistischem Angriff in Erfurt: Mediale Lehren | |
Das Teilen von Videos rassistischer Gewalt kann Diskriminierung sichtbar | |
machen. Doch Opferschutz sollte an erster Stelle stehen. | |
Kulturwissenschaftlerin über Sklaverei: „Philosophen waren selbst Täter“ | |
Iris Därmann hat sich mit der Geschichte des Widerstands Schwarzer Menschen | |
gegen Sklaverei befasst. Und mit der Haltung der westlichen Denker. | |
Anwalt vertritt Opfer von Rassismus: „Wäre das einer weißen Person passiert… | |
Blaise Francis El Mourabit ist Anwalt. Er vertritt Menschen, die | |
rassistische Gewalt und Racial Profiling erfahren haben – pro bono. | |
ARD-Krimi „Der Kommissar und die Alpen“: Das Raubein | |
Rocco Schiavone hat eine ausgezeichnete Spürnase. Er ist aber auch ein | |
kettenrauchender, niemals lächelnder Kotzbrocken. | |
Antirassismus-Kundgebung in Washington: „Wir werden diesen Traum erfüllen“ | |
57 Jahre nach Martin Luther King Jr. gingen am Freitag Zehntausende bei | |
einem neuen „March on Washington“ gegen Rassismus in den USA auf die | |
Straße. | |
US-Wahlkampf nach Kenosha: Welche Botschaft kommt besser an? | |
Während die Republikaner*innen die Gewaltanwendung weißer Milizen | |
gutheißen, grenzt sich US-Demokrat Joe Biden von der Gewalt der | |
Protestierenden ab. | |
Festnahme in US-Stadt Kenosha: Kindergesicht mit Knarre | |
Am Dienstag wurden bei Protesten im US-Bundesstaat Wisconsin zwei Menschen | |
erschossen. Jetzt wurde ein 17-jähriger Waffenfan festgenommen. | |
Tödliche Schüsse in Wisconsin: Eskalation mit Ansage | |
Bei Protesten gegen Polizeigewalt werden in Kenosha zwei Menschen | |
erschossen. Zuvor hatte eine Miliz aufgerufen, bewaffnet auf die Straße zu | |
gehen. | |
Polizeigewalt in Wisconsin: Zwei Tote bei Protesten | |
Bei Ausschreitungen in der US-Stadt Kenosha sind zwei Menschen ums Leben | |
gekommen. Wisconsins Gouverneur Tony Evers rief den Notstand aus. | |
Debatte um „Cancel Culture“: Diskursive Sackgassen | |
Bei der Diskussion um „Cancel Culture“ scheinen die Fronten klar. Um über | |
Aufgeregtheiten hinauszukommen, müssen wir die Macht der Sprache bedenken. | |
Merkels Schwächeanfall in den Medien: Das große Zittern | |
Warum sehen Hunderttausende so gern zu, wenn es einer älteren Frau | |
blümerant wird? Über den Nachrichtenwert von Unpässlichkeiten. |