# taz.de -- Internetnutzung 2020 und Medienkompetenz: Leben in der medialen Ges… | |
> Die Grenzen zwischen uns und unserem medialen Abbild lösen sich immer | |
> weiter auf. Umso wichtiger wird die Medienkompetenz. | |
Bild: Viele kamen in der Pandemie auf den Geschmack von Videotelefonie | |
Neulich veröffentlichte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung | |
eine [1][Studie über die Internetnutzung von Jugendlichen]. Die Umfrage war | |
2019 durchgeführt worden und kam zu dem scheinbar entsetzlichen Ergebnis, | |
dass ein Drittel der Teenies latent internetsüchtig ist. | |
Aber zum Glück haben wir 2020. Internetsucht ist kein Grund zur Sorge mehr. | |
Oder nennen wir uns etwa süchtig nach Atemluft, nur weil wir ständig welche | |
brauchen? Sind wir süchtig nach Erdboden? Nach Buchstaben? Natürlich gibt | |
es problematische Formen der Internetnutzung – es stellt sich zum Beispiel | |
die Frage, was dort konsumiert wird. Oder ob sich jemand zu wenig bewegt | |
und vor dem Endgerät zu krumm hält. | |
Darum ging es aber nicht. Stattdessen befragte man die 12- bis 25-Jährigen | |
nach einem simplen An/Aus-Prinzip. „Wie häufig setzen Sie Ihren | |
Internetgebrauch fort, obwohl Sie eigentlich aufhören wollten?“ Oder: „Wie | |
häufig denken Sie darüber nach, dass Sie weniger Zeit im Internet | |
verbringen sollten?“ | |
Diese Fragen sind mal in den 2000ern entwickelt worden mit dem Ziel, ein | |
gestörtes Internetverhalten zu ermitteln. Sie sind aus der Suchtforschung | |
entlehnt. Sie erinnern sich, damals sprach man noch von „Surfen“, dieser | |
klar abgegrenzten Tätigkeit, von der man sich hie und da mal ein paar | |
Stunden gestattete, bevor man ins echte Leben zurückkehrte. | |
2020 wechselte die Welt ins Netz | |
Das ist heute albern. War es schon 2019 – und ist es Ende 2020 erst recht, | |
dem Jahr, in dem die Welt und das Leben für alle ins Netz gewechselt ist. | |
Die letzten Grenzen zwischen Medium und echtem Leben hat die Pandemie | |
abgeräumt. Unsere Gesellschaft ist digital-medial. | |
Laut Institut der deutschen Wirtschaft kam es in der ersten Lockdownphase | |
im Frühling bereits zu [2][einem gewaltigen Anstieg der Nutzung digitaler | |
Medien]. Die Zahl der Menschen, die digitale Zeitungen lesen, stieg um fast | |
ein Drittel. Etwa um ein Viertel stieg die Zahl beim Streaming und bei | |
kostenpflichtigen Online-Newsseiten. | |
Zwei von drei Internetnutzer*innen waren nach dem ersten Lockdown häufiger | |
als zuvor in sozialen Medien unterwegs, [3][vermeldet der Digitalverband | |
Bitkom]. Sogar bei den über 65-Jährigen trifft das auf ein Drittel zu. Und | |
das ist nur der Bereich Freizeit – vom Erwerbsarbeiten im Homeoffice haben | |
wir noch gar nicht angefangen. | |
Die gute Nachricht ist also: Wir sind alle süchtig. Nach den Vorstellungen | |
der Jahrtausendwende jedenfalls. Vorstellungen, nach denen das wahre Leben | |
offline passiert und das Netz bloß Tand ist, der in den Augen brennt. Für | |
Loser und niedere Angestellte. Ende 2020 sind wir Netzwesen. Cyborgs, die | |
in Suchbegriffen denken und in Twitter-Steno sprechen. tmw du merkst dass | |
die dystopie schon da ist und du sie liebst. Willkommen in der medialen | |
Gesellschaft! | |
Ereignis und Netzdebatte bilden Einheit | |
Mediale Gesellschaft bedeutet, dass die Trennung verschwindet zwischen uns | |
und unserem medialen Abbild. Gesellschaft findet im Medium selbst statt. Es | |
vergeht mittlerweile so wenig Zeit zwischen Ereignis und Netzdebatte, dass | |
man beides getrost als Einheit begreifen kann. Das zeigen erschreckende | |
Momente wie Terroranschläge, über die bereits verhandelt wird, während die | |
Bedrohung vor Ort noch real ist – und die von den Tätern ohnehin zweifellos | |
als Medienereignis gedacht sind. | |
Aber auch wichtige und progressive soziale Bewegungen sind medial – Black | |
Lives Matter wäre ohne virale Videos ebenso undenkbar wie #MeToo ohne | |
Hashtags. Einen Arabischen Frühling hätte es ohne soziale Netzwerke so | |
nicht gegeben. | |
Als wir noch weniger digitalisiert waren, hatten Ereignisse eine gewisse | |
Zeit, sich offline zu entwickeln, bevor sie erst zu Nachrichten und später | |
zu Debatten wurden. Die Abbildenden waren Fachleute: Presse und PR. Und die | |
konnten sich sortieren und sammeln, ehe sie aus dem Geschehenen Text und | |
Bild schnitzten. Kampagnen und Medienereignisse gab es natürlich auch schon | |
früher, aber sie waren bemerkenswerte Ausnahmen. Und selbst bei erhitzten | |
Debatten lag zwischen These und Gegenthese in der Regel ein | |
journalistischer Arbeitstag. | |
Der Wandel begann vor knapp 15 Jahren, als erschwingliches technisches | |
Equipment auf den Markt kam – Smartphones – und immer mehr Menschen es sich | |
leisten konnten, selber zu senden, anstatt bloß zu empfangen. Aus den | |
unschuldigen Digital-Familienalben Facebook und [4][Youtube] wurden | |
plötzlich globale Marktplätze von Wort und Bild. Seither verläuft das | |
Senden nicht nur in viele Richtungen, alles passiert auch gleichzeitig: | |
Ereignis, Abbild, Aktion, Reaktion, alles im selben Moment. | |
Debatte über Cancel Culture | |
Schon außer Atem? Freuen Sie sich nicht gerade, dass Sie einen Text lesen, | |
der linear verläuft, der einen Anfang und ein Ende hat und wo das eine auf | |
das andere folgt? Austausch in der medialen Gesellschaft verläuft in der | |
Regel nicht so. Vergangenes wird als gegenwärtig wahrgenommen. Nehmen wir | |
die Kabarettistin Lisa Eckhardt, deren antisemitischer Witz bereits zwei | |
Jahre alt war, als das Video davon zu einer Debatte über Cancel Culture | |
wurde. | |
In jener geht es darum, ob man diskriminierende Äußerungen und diejenigen, | |
die sie äußern, boykottieren darf oder ob das gegen eine offene | |
Debattenkultur geht. Es wird also übers Streiten gestritten – und das gerät | |
zu so einer Art Matrjoschka-Puppe des öffentlichen Diskurses, [5][wie der | |
Kollege Volkan Ağar schon im Sommer hier festgestellt hat]. | |
Auch das gehört zu den neuen Erfahrungen einer medialen Gesellschaft. | |
Mediennutzung ist nicht mehr privat und auch nicht mehr neutral. Die | |
unmittelbaren Konsequenzen des Sendens in die Öffentlichkeit sind eine | |
Erfahrung, die mittlerweile die meisten Menschen gemacht haben dürften. Ob | |
man nun für Zoff im Eltern-Gruppenchat gesorgt hat oder für einen | |
unsensiblen Facebook-Post angefeindet worden ist. So etwas tut weh, und | |
darum fällt die Identifikation mit Promis leicht, die einen Shitstorm | |
bekommen. | |
Widerspruch erreicht uns heute wesentlich schneller und massiver. Moment, | |
wirklich? Hieß es nicht, wir lebten in Filterblasen aus Milch und Honig, wo | |
alle ständig „Genau!“ sagen? Die These von den Filterblasen ist in | |
vielerlei Hinsicht irreführend. Meist wird sie zu pauschal verstanden, | |
teils grob falsch. „Das Netz“ sperrt uns keineswegs in unserer Komfortzone | |
ein, im Gegenteil: [6][Es konfrontiert uns mit viel mehr Neuem, als uns | |
lieb ist]. | |
Mehr Konflikt als Harmonie | |
Soziale Netzwerke leben von Konflikt eher als von Harmonie. Natürlich ist | |
es möglich, sich ein Umfeld zu schaffen, das die eigenen Grundwerte | |
bestätigt. Aber das galt auch schon in der Offlinewelt. Was in der medialen | |
Gesellschaft hingegen gestiegen ist, ist die Wahrscheinlichkeit, von | |
Dissens und Kritik aus anderen Lagern oder Milieus erreicht zu werden. | |
Und Dissens und Kritik zeigen Wirkung. Verantwortliche ziehen Konsequenzen, | |
Promis, die sich danebenbenehmen, verschwinden aus Entertainmentprodukten – | |
Kevin Spacey, Roseanne Barr, Xavier Naidoo. Ob diese Personen tatsächlich | |
„gecancelt“ sind oder ob bloß die Comebacks auf sich warten lassen, ist | |
ungewiss. Aber für den Moment sind sie weniger präsent in unserer Realität, | |
die ja medial ist. Dadurch kommt es uns so vor, als existierten sie nicht | |
mehr. | |
Eigentlich gibt uns die mediale Gesellschaft, was wir immer wollten. Wir, | |
die wir Leser*innenbriefe schrieben und Postkarten an Promis oder die wir | |
Blogs mit Microsoft FrontPage bastelten: Wir wollten Teilhabe am | |
öffentlichen Diskurs. Die Trennung zwischen Medienkonsumieren und -machen, | |
zwischen Parkett und Bühne, löst sich auf. Der neue Typus der Nutzer*in ist | |
beides oder kann beides sein – auch ungewollt. | |
Macht bleibt Macht | |
Trotz alledem sind Fakten immer noch Fakten, zu denen es keine | |
„Alternativen“ gibt. Journalismus ist immer noch eine Fertigkeit und ein | |
Anspruch, der gelernt und verinnerlicht werden muss. Und natürlich ist auch | |
Macht weiterhin Macht – die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, bleibt | |
ungleich verteilt, auch wenn ihre Neuverteilung viele Stimmen ermächtigt | |
hat. | |
Die mediale Gesellschaft ist nichts per se Gutes oder Schlechtes. Sie ist | |
einfach da. Und es hilft nichts, vor ihr die Augen zu verschließen oder | |
Jugendliche vom Bildschirm wegzuzerren, ohne vorher die ehrliche | |
Anstrengung zu unternehmen, zu verstehen, was sie da eigentlich machen. Wir | |
sind doch selber süchtig nach unseren Black Mirrors, unseren großen und | |
kleinen Bildschirmen. Wir haben längst die Autorität verloren, mit der wir | |
Kindern sagen könnten: „Leg das Ding weg.“ Wir sind Junkies. | |
Dringender als „Digital Detox“ auf der Alm braucht die mediale Gesellschaft | |
Verantwortung und Medienkompetenz. Zentral ist dabei ein Journalismus, der | |
beim Aufräumen hilft und Impulse fürs Gestalten gibt. Das reicht aber | |
nicht. Es braucht bei den Einzelnen ein Bewusstsein dafür, was genau Fakten | |
sind und was eine zuverlässige Quelle ist. Es braucht Bewusstsein dafür, | |
dass jeder Sprechakt Konsequenzen hat. Ob man das nun möchte oder nicht. | |
30 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Studie-ueber-Onlinenutzung-Jugendlicher/!5733847 | |
[2] https://www.iwd.de/artikel/medienkonsum-boomt-in-corona-zeiten-469822/ | |
[3] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Social-Media-Nutzung-steigt… | |
[4] /15-Jahre-YouTube/!5678149 | |
[5] /Debatte-um-Cancel-Culture/!5704284 | |
[6] /Erkenntnisse-ueber-Medienkonsum/!5658246 | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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