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# taz.de -- Buch über 1977: Als das Selbst zum Projekt wurde
> Die Reise zu sich selbst: Psychoboom und Neoliberalismus treffen auf
> linke und rechte Identitätspolitik in Philipp Sarasins Buch über das Jahr
> 1977.
Bild: „I wanna be me“, sang Johnny Rotten. Seit den 1970ern will das Ich au…
„I'm a street walking cheetah with a heart full of napalm. I'm a runaway
son of the nuclear A-bomb. I am a world's forgotten boy. The one who
searches and destroys“, singt Iggy Pop auf dem 1973 erschienenen Album „Raw
Power“ seiner Band The Stooges. Ein Herz voller Napalm hat der Junge, der
in diesem Song von sich erzählt und sich außerdem als Sohn der Atombombe
und als verlorenes Kind bezeichnet. Hoffnungsfroh und der Zukunft zugewandt
zu sein klingt anders.
1973 wird gemeinhin für das Jahr gehalten, in dem eine Epoche endete. Für
Eric Hobsbawm leben wir seither in einer Welt, die ihre Orientierung
verloren hat. Das System von Bretton-Woods mit seinen fixen Wechselkursen
wurde abgeschafft. Die Weltwirtschaft litt unter Ölpreisschock und
Stagflation. Die Ära des Fordismus neigte sich dem Ende zu; die Ära
flexibler Akkumulation, wie David Harvey sie genannt hat, begann.
Die neuen Verhältnisse haben sich 1977 so weit konsolidiert, dass man sie
leichter unters historische Mikroskop legen kann. Insofern hat [1][Philipp
Sarasin das Jahr gut gewählt,] das er als „Umschlags- oder
Durchschlagspunkt der verschlungenen geschichtlichen Pfade hin zur
Gegenwart der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts“ darzustellen versucht.
## Hauch des Willkürlichen
„1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ heißt seine Studie, die für d…
Bayerischen Buchpreis nominiert ist. In fünf großen Kapiteln steckt der
Schweizer Historiker Felder des Neuen ab. Er versucht dabei die
Rückwärtsprojektionen, die der Historiographie unvermeidlich eigen sind,
durch einen Kunstgriff zu minimieren: In „1977“ kommen nur Ereignisse zur
Sprache, die den Zeitgenossinnen bekannt gewesen sein können. Was später
passiert, bleibt außen vor. Nur im Nachwort nimmt sich der Historiker das
Recht, konkrete Verbindungen ins 21. Jahrhundert aufzuzeigen.
Jeder historischen Studie, die sich auf ein Jahr kapriziert, haftet der
Hauch des Willkürlichen an. Sarasin weiß das, mittels eines Kunstgriffs
versucht er einen größeren Bogen zu schlagen: Er stellt jedem Kapitel einen
Nekrolog voran. Jeweils eine Person, die im Jahr 1977 starb, steht für eine
Entwicklung, die nun wirkmächtig geworden ist.
## Kampf der Afroamerikaner
Die Protagonistinnen dieser Nekrologe sind klug gewählt: Bei [2][Ernst
Bloch]s Tod hat die Linke Abschied vom Glauben an die Möglichkeit der
Revolution genommen (was sich paradoxerweise gut an den Ereignissen des
„Deutschen Herbsts“ ablesen lässt). Als das Leben Anais Nins endet, ist Sex
etwas, über das man sprechen soll. Das Selbst ist zum Projekt geworden, das
gewissenhaft zu verfolgen ist, um sich dereinst auf dem Totenbett nicht
sagen zu müssen, man habe das eigene Leben verfehlt.
Im Todesjahr der Menschenrechtsaktivistin Fanny Lou Hamer ist der Kampf der
Afroamerikaner zum prototypischen emanzipatorischen Projekt der Anerkennung
von Minderheiten avanciert.
Und als Jacques Prévert, der Erfinder des surrealistischen cadavre exquis,
am 11. April 1977 stirbt, beginnt die Ära von Microsoft und Apple.
## Soziale Marktwirtschaft?
Das letzte Kapitel seiner Studie, deren vielfältige Stränge hier nur
kursorisch beschrieben werden können, beginnt Sarasin mit einem Nekrolog
auf Ludwig Erhard, dessen ordo-liberale Programmatik auch Margaret
Thatchers Politik prägte. Erhard war nicht erbaut darüber, dass er als
Architekt der „sozialen Marktwirtschaft“ galt. Mit dem sozialdemokratischen
Projekt des Wohlfahrtsstaats hatte er nichts am Hut. Der erschien ihm als
Ort, an dem „jeder die Hand in der Tasche des anderen“ habe. Soziale
Marktwirtschaft, ein Begriff, der bereits in den Nachkriegsplanungen von
NS-Ökonomen formuliert wurde, bedeutete für ihn lediglich, den Bürgern
Konsumfreiheit zu geben.
Am Ende seines Buchs zitiert Sarasin den Religionssoziologen Roy Wallis,
der vom neuen Typus des „epistemologischen Individualismus“ schrieb. Um das
Neue auf den Punkt zu bringen, ist das der richtige Move. Denn Sarasin
zeigt einmal mehr, dass es der Einzelne ist, der im Zentrum unserer Zeit
steht.
## Die eigene Unterdrückung
Wie der Fokus auf Einzelne, die nun als Exemplare von
Gruppenzugehörigkeiten gedacht werden, das Politikverständnis nachhaltig
verändert, macht Sarasin anhand der Urszene der Politik von Identität und
Differenz deutlich, die im 1977 veröffentlichten Statement des
feministischen Combahee River Collectives zu finden ist. Dort ist erstmals
von „identity politics“ die Rede, womit gemeint ist, sich auf die „eigene
Unterdrückung“ als schwarze lesbische Frauen zu konzentrieren – und womit
bereits Kimberlé Crenshaws Begriff der Intersektionalität vorbereitet wird.
Sarasin sieht darin ein politisches Paradox. Stelle sich doch die Frage,
wie klein oder groß der Radius einer „Identität“ vorstellbar sei, „die …
noch mit ‚Solidarität‘ vertrug“? Er hält aber auch fest, dass das Anlie…
der schwarzen lesbischen Frauen berechtigt und nachvollziehbar ist: „Hatte
sich das ‚Allgemeine‘, das ‚Gesetz‘, für die Schwarzen in den
innerstädtischen Ghettos der USA denn nicht in Gestalt einer notorisch
rassistischen und gewaltbereiten Polizei gezeigt und sich daher als bloß
noch Partikulares längst schon vollständig delegitimiert?“
Aber nicht nur ausgeschlossene Minderheiten entdeckten nun den Begriff der
Identität. Henning Eichberg, Theoretiker der völkischen Rechten,
postulierte „Authentizität“ als Kampfbegriff des Eigenen, in der „Heimat…
Verorteten: „Im Volk liegt unsere Identität.“
## Patchwork aus Singularitäten
Gegenwart definiert Sarasin als „Geflecht von Gleichzeitigkeiten und
unzähliger, disparater Ereignisse“. Er will die in ihnen sichtbar werdenden
Muster herausarbeiten. So kann er im Fall des Combahee River Collectives
auf ein ebenfalls im Jahr 1977 bei Merve erschienenes Buch von
Jean-Francois Lyotard verweisen. Darin beschreibt der Theoretiker ein
„großes patchwork aus lauter minoritären Singularitäten“, deren Gesten z…
nicht „wirklicher“ als die „Wirklichkeit der Macht“ seien, aber den
Wahrheitsanspruch von Substantiven wie „die Geschichte“, „die Natur“ od…
„der liebe Gott“ untergraben.
Daran zeigt sich, dass der Identitätsdiskurs auch eine Antwort darauf ist,
dass die „Großen Erzählungen“ zu Grabe getragen werden. Wenn Paul
Feyerabend im Jahr 1977 die Parole „Anything goes“ ausgibt, erscheint ihm
selbst die Wissenschaft als „ein Mythos unter vielen“. Nebenwirkungen
dieser notwendigen Kritik an universellen Wahrheitsansprüchen zeigen sich
heute, wenn „Flat-Earther mit einer Geografin ‚diskutieren‘ können sollen
oder anthroposophische ‚Querdenkerinnen‘ mit Immunologen“, wie Sarasin im
Schlusswort anmerkt. Kritisches Denken lasse sich heute nicht mehr in
geteilten methodischen Regeln und Grundüberzeugungen verankern.
## I wanna be me
Handelt es sich bei all dem um moderne Phänomene, oder wird hier ein
„Danach“ sichtbar? Das ist ein alter Streit, den auch Sarasin (der für
Letzteres plädiert) nicht zu entscheiden vermag. Deutlich wird das, wenn er
sich dem Punk widmet. Es ist immer noch die Ausnahme, dass deutschsprachige
Historiker Popkultur in den Blick nehmen, weswegen man nur begrüßen kann,
dass Sarasin auch Donna Summers Discohit „I feel love“ oder „I wanna be m…
von den Sex Pistols für Gegenstände hält, die dem forschenden Blick eines
Geschichtsprofessors angemessen sind.
Ist Punk aber die „postmoderne Geste“, die Sarasin darin zu lesen glaubt?
Dafür lassen sich Indizien finden wie die Vorliebe für Zitate, Ironie und
Uneindeutigkeit. Waren die Inszenierungen des Punk aber nicht auch voller
Bezüge auf die alten Avantgarden? Der Wille, modern zu sein und [3][etwas
radikal Neues zu schaffen], wird von Punk ausdrücklich formuliert.
## Niemand ist mit sich selbst identisch
Niklas Luhmann hatte zugestanden, dass die Analysen von Denkern wie Lyotard
richtig seien. Wies aber darauf hin, dass sie keineswegs auf „postmoderne“
Verhältnisse schließen lassen. Vielmehr sei es gerade das charakteristische
Merkmal der Moderne, dass es in ihr keine Autorität mehr gibt, die
entscheiden könnte, was richtig und was wahr ist. Dass es der Moderne um
eine „Emanzipation von der Vernunft“ gegangen ist, wie Luhmann meinte, darf
bezweifelt werden. Aber dass „wer immer sich für vernünftig hält und dies
sagt“, von anderen Modernen beobachtet und dekonstruiert werde, lässt sich
kaum bestreiten.
Politisch folgenreicher als der überkommene und wenig produktiv
erscheinende Streit um die Postmoderne ist das Problem, das sich einstellt,
wenn die heutigen Verfechter von identity politics deren Geschichte und
also die Kritik an der Verknüpfung von Authentizität und Identität nicht
mehr kennen. Denn es waren ja, wie Sarasin richtig bemerkt, die von woken
Leuten gern zitierten Theoretikerinnen Judith Butler und Stuart Hall, die
den Begriff der Identität dekonstruiert und die Vorstellung, ein Mensch sei
mit sich selbst, seiner Herkunft, Hautfarbe oder seinem Geschlecht
identisch, scharf zurückgewiesen haben.
Das kann man 44 Jahre nach 1977 nicht oft genug wiederholen.
11 Nov 2021
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=A6euidM6DfU
[2] /Zum-125-Geburtstag-von-Ernst-Bloch/!5139532
[3] /Punk-Musiker-Engler-ueber-Nazi-Lehrer/!5731137
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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