# taz.de -- Serie über Band Sex Pistols bei Disney+: Trau dem, was du siehst | |
> Die Disney-Miniserie „Pistol“ erzählt die Geschichte der revolutionären | |
> Punk-Band Sex Pistols. Sie basiert auf der Autobiografie des Gründers | |
> Steve Jones. | |
Bild: Louis Partridge als Sid Vicious, Anson Boon als John Lyndon und Toby Wall… | |
Das Folgende ist von tatsächlichen Ereignissen inspiriert: Die zweite Folge | |
der Miniserie „Pistol“ trägt den schlichten Titel „Rotten“. Sie erzäh… | |
davon, wie aus der Band Kutie Jones and his Sex Pistols [1][die Sex | |
Pistols] wurden, nachdem John Lydon vorgesungen und den neuen Nachnamen | |
Rotten erhalten hatte. Sie erzählt aber auch von Pamela Rooke, die sich | |
selbst mit 14 den Namen Jordan gegeben hat. | |
Jordan fuhr zwei Jahre lang jeden Tag zwei Stunden mit der Bahn von | |
Seaford, East Sussex, nach London. Dort arbeitete sie in [2][Vivianne | |
Westwoods] Boutique „Sex“. Jordan gilt als Muse der Modedesignerin und als | |
das erste Gesicht von Punk. Mit ihrer äußerst knappen Bekleidung versuchte | |
sie den taxierenden Blick der Männer auf diese zurück zu reflektieren. Ihre | |
expressiven Make-ups und radikalen Outfits jagten den Männern Angst ein. | |
Dass mehrere Geschichten, auch unter Zuhilfenahme von dokumentarischem | |
Material, parallel erzählt werden, ist das erzählerische Prinzip der nun | |
auf Disney+ gestreamten Serie, die auf der Autobiografie des | |
Pistols-Gründers und Gitarristen Steve Jones basiert. Die Kritik hatte 2017 | |
Jones’ Buch gut aufgenommen, weil der Mann eine bemerkenswerte Offenheit an | |
den Tag legt, die nun auch der Serie zugute kommt, bei der Danny Boyle | |
Regie geführt hat. | |
Anders als die anderen Bandmitglieder kamen lediglich Steve Jones und | |
Drummer Paul Cook aus armen Verhältnissen. Jones aber hatte das härteste | |
Schicksal von allen. Seine Mutter ist nicht in der Lage, sich um das Kind | |
zu kümmern. Der Stiefvater übt psychische und sexuelle Gewalt gegen den | |
Jungen aus. Steve wird seit der Pubertät immer wieder straffällig. Seine | |
größten Coups als Dieb bestehen darin, Equipment seiner Lieblingsbands zu | |
klauen. Das ist seine Art, sein Fantum auszuleben und an deren Geschichte | |
teilzuhaben. | |
## Gerechtigkeit für alle Figuren | |
Malcolm McLaren bewahrt Jones durch einen Auftritt als seriöser Arbeitgeber | |
vor Gericht davor, eine längere Haftstrafe antreten zu müssen. Der | |
vaterlose, von Vaterfiguren immer nur enttäuschte und missbrauchte Jones | |
ist McLaren dafür so dankbar, dass er immer wieder falsche Entscheidungen | |
trifft, wenn McLaren die Band lediglich als Vehikel für seine Pläne | |
benutzt. | |
Die Hauptfigur von „Pistol“ ist also Steve Jones, und die Geschichte der | |
Pistols von ihren Anfängen im Jahr 1975 bis zu ihrem Ende 1978 wird aus | |
seiner Perspektive erzählt. | |
Nach allem, was man bisher aus verschiedenen Quellen über diese Geschichte | |
gehört hat, ist Jones trotz einer notgedrungen subjektiv gefärbten Sicht | |
ein Erzähler, der den Figuren Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte. | |
Niemand erscheint hier als Bösewicht. Alle Figuren werden mit ihren | |
Schwächen, Vorzügen und Widersprüchlichkeiten gezeigt, die wahrhaftig | |
erscheinen. Die Rollen sind allesamt gut besetzt. | |
## Inspiriert von wahren Ereignissen | |
Bei aller Skepsis, die man dem Genre Biopic gegenüber haben kann und | |
sollte, erklärt „Pistol“ doch auf brillante Weise, wie es den Sex Pistols | |
auf spektakuläre Weise gelang, die situationistische Theorie der | |
Gesellschaft des Spektakels, deren gelehriger Schüler Malcolm McLaren war, | |
in eine kulturrevolutionäre Praxis zu verwandeln. „Pistol“ bedient sich da | |
etwa des genialen Moves, mittels eines von Heroinkonsum leicht | |
vernuschelten Monologs von Sid Vicious’ Freundin Nancy Spungen zu erzählen, | |
dass Punk nicht in London, sondern in New York erfunden wurde. | |
Die Serie kann dann aber auch plausibel darstellen, warum es das | |
historische Zusammentreffen von Leuten wie Steve Jones, John Lydon, Malcolm | |
McLaren, Vivienne Westwood, Jordan und aller anderen in dieser furchtlosen | |
Gang war, das Punk eine Stimme, einen Sound und eine Erzählung gab, die | |
Jugendlichen weltweit eine revolutionäre Botschaft vermittelte: Trau dem, | |
was du selbst siehst, hörst und wahrnimmst. Du kannst die von Tabus, | |
Klischees und Normen kaschierte Gewalt in der Gesellschaft auf kreative | |
Weise bekämpfen. | |
Auch „Pistol“ ist dieser Haltung verpflichtet. Und damit das kein | |
juristisches Nachspiel hat, heißt es vor jedem Teil: „The following is | |
inspired by actual events.“ | |
7 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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