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# taz.de -- Verleumdungsklagen gegen Netflix: Zu falsch, um wahr zu sein?
> Der Streaminganbieter Netflix sieht sich wegen Filmbiografien mit
> Verleumdungsklagen konfrontiert. Wie frei darf Fiktion mit Wahrheit
> umgehen?
Bild: Katie Lowes spielt in „Inventing Anna“ die Redakteurin Rachel DeLoach…
Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst, lautet eine altbekannte
Phrase. Dass dieses Sprichwort nicht immer richtig ist, weiß das Genre der
fiktionalen Filmbiografie. Es greift reale Geschehnisse auf und fügt diesen
aus dramaturgischen Gründen fiktionale Elemente hinzu. Mit diesem Vorgang
geht das auch Biopic genannte Genre grundsätzlich offen um. Trotz der
bemühten Transparenz ist das Genre aber konfliktbehaftet: Denn wo Fakt
aufhört und Fiktion beginnt, lässt sich für Rezipient*innen nicht
immer eindeutig bestimmen. So bemühten Personen, die mit ihrer Darstellung
nicht einverstanden waren, zuletzt zivile Verleumdungsklagen gegen den
Streaminganbieter Netflix.
Ende August erklärte die ehemalige Vanity-Fair-Fotoredakteurin Rachel
DeLoache Williams, Netflix für die Darstellung ihrer Person in der
[1][Serie „Inventing Anna“] auf Verleumdung verklagen zu wollen. „Inventi…
Anna“ ist ein Biopic über die Hochstaplerin Anna Sorokin, die zwei Jahre
lang als angebliche Millionenerbin Anna Delvey ein Luxusleben im Kreise und
auf Kosten von Superreichen führte – bis sie 2017 wegen des Verdachts auf
Betrug und Diebstahl verhaftet wurde und 2019 zu einer Freiheitsstrafe von
mindestens vier Jahren verurteilt wurde, aus der sie [2][zwei Jahre später
wegen guter Führung wieder entlassen wurde]. Mittlerweile sitzt sie wegen
Überschreitung ihres Visums erneut im Gefängnis. Berühmt wurde der Fall von
Sorokin durch eine im Jahr 2018 veröffentlichte Reportage der Journalistin
[3][Jessica Pressler]. Netflix konnte im Anschluss an das Gerichtsverfahren
2019 die Rechte an der Geschichte von Sorokin erwerben und Pressler als
Produzentin und Drehbuchautorin gewinnen. Die Serie erzählt das Geschehen
aus Sicht der fiktiven Journalistin Vivian Kent, die stark an Pressler
angelehnt ist.
Rachel DeLoache Williams nun gehört zu den Betrugsopfern von Sorokin. Sie
hat 2019 ein Buch über ihre Beziehung zur Hochstaplerin veröffentlicht.
[4][Der Sender HBO war nach ihrer Aussage an einer Adaption interessiert].
In der Netflixserie sieht sich Williams, die namentlich in der Serie
genannt wird, als „manipulative und opportunistische Person“ porträtiert.
Ihre angekündigte Klage ist der Versuch, die Deutungshoheit über sich
zurückzugewinnen. Ihr Anwalt Alexander Rufus-Isaacs berichtete von
zahlreichen Anfeindungen durch Fans der Serie, mit denen seine Mandantin
seit der Ausstrahlung von „Inventing Anna“ in den sozialen Medien
konfrontiert worden sei.
Zwar beginnt Netflix jede Folge mit dem Disclaimer: „Die ganze Geschichte
ist vollkommen wahr. Bis auf die Teile, die komplett erfunden sind.“
Trotzdem gelingt es nicht allen, von der Realität zu abstrahieren. Kerstin
Schmitt, Rechtsanwältin der Kanzlei Schertz Bergmann, die sich auf
Medienrecht spezialisiert und ähnliche Fälle im deutschsprachigen Raum
betreut hat, hält diesen Disclaimer auch für zu unkonkret: „Besser wäre es,
den Zuschauer noch mehr an die Hand zu nehmen, wo Fakt aufhört und Fiktion
beginnt.“
## Nicht die erste Klage gegen Netflix
Williams bezichtigt Netflix, [5][die PR-Arbeit einer Betrügerin zu
erledigen]. Ob die negative Charakterzeichnung ein ausreichender Grund ist,
gerichtlich eine Abfindung zu erzwingen, ist fraglich. „Zumindest im
deutschen Recht haben Filmemacher*innen bei Ereignissen mit
zeitgeschichtlichem Bezug selbstverständlich künstlerische Freiheit, aus
welcher Beteiligtenperspektive erzählt wird“, sagt Rechtsanwältin Schmitt
dazu. Die deutsche Rechtslage fiktionaler Filmbiografien kommentiert sie
wie folgt: „Die Rechtsprechung hat einen szenisch gestuften
Wahrheitsanspruch entwickelt. In Szenen, in denen private Ereignisse
dargestellt werden, gehe ich als Zuschauer*in im Grundsatz davon aus,
dass hier keine faktischen Begebenheiten aufbereitet werden. Hier greift
die Vermutung der Fiktionalität. Bei allem, was öffentlich dokumentiert
ist, besteht ein Wahrheitsanspruch, da es sich den Zuschauer*innen als
historisch gesicherter Geschehenskern darstellt.“
Ein Beispiel für belegbare Falschaussagen bietet die Klage der georgischen
Schach-Großmeisterin Nona Gaprindaschwili. [6][Ebenfalls von Rufus-Isaacs
repräsentiert] verklagte sie Netflix auf 5 Millionen Dollar Schadenersatz,
da sie sich in einer bestimmten Szene der auf ihrem Leben basierenden
Serienadaption „Das Damengambit“ auf sexistische und herabsetzende Weise
falsch dargestellt empfand. In der Szene, um die es geht, kommentiert ein
Radioreporter die Teilnahme Gaprindaschwilis an einer Schachpartie im Jahr
1968 wie folgt: „Das einzig wirklich Außergewöhnliche an ihr ist ihr
Geschlecht; und das ist noch nicht einmal ungewöhnlich in Russland. Da ist
Nona Gaprindaschwili, sie ist Schachweltmeisterin und hat noch nie gegen
einen Mann gespielt.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Gaprindaschwili jedoch
tatsächlich schon gegen mindestens 59 Männer gespielt.
Die US-Bundesrichterin Virginia Phillips aus Los Angeles erklärte die Klage
für zulässig, da die Seriendarstellung der Schachgroßmeisterin eine
Leistung abspreche, die bedeutend und wichtig für ihren Ruf sei.
Fiktionalität, so die Bundesrichterin, [7][befreie nicht von der Haftung
für üble Nachrede, solange alle anderen Voraussetzungen des Tatbestands
erfüllt sind]. Es wäre zur Verhandlung des Falls gekommen, wenn sich die
Klägerin und das Unternehmen Netflix nicht Anfang September
[8][außergerichtlich auf einen Vergleich geeinigt hätten]. Die genauen
Details sind nicht bekannt. Die Klage von Rachel DeLoache Williams richtet
sich gegen die in privaten Szenen erfolgte Charakterisierung ihrer Person,
die die Serie subjektiv aus der Sicht von Sorokin und Pressler erzählt.
Diese lassen sich nicht belegen.
Auch wenn es hier also kein juristisches Verbot gibt, bleibt die Frage
bestehen, ob es nicht zumindest ein ethisches Gebot sein sollte, real
existierende Personen vor fiktiven Zuschreibungen zu schützen, die negative
Auswirkungen auf ihren Ruf haben könnten. Dass nicht alle
Zuschauer*innen die Reflexionsweite der deutschen Rechtsprechung
besitzen, zeigen die Anfeindungen gegen Rachel DeLoache Williams. Weil
Streamingdienste im Konkurrenzkampf um Abonnent*innen aber stets um
neues attraktives Material ringen, wird eine freiwillige Sorge um den Ruf
von Einzelpersonen wohl eher Wunschdenken bleiben.
24 Sep 2022
## LINKS
[1] /Netflix-Serie-Inventing-Anna/!5834568
[2] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/anna-sorokin-hochstaplerin-auf-bewae…
[3] https://www.thecut.com/article/how-anna-delvey-tricked-new-york.html
[4] https://www.theguardian.com/media/2022/sep/04/netflix-true-life-dramas-inve…
[5] https://www.washingtonpost.com/lifestyle/2022/08/31/inventing-anna-netflix-…
[6] https://www.rufuslaw.com/alexander-rufus-isaacs/
[7] https://www.sueddeutsche.de/medien/nona-gaprindaschwili-the-queen-s-gambit-…
[8] https://www.derstandard.de/story/2000138911372/das-damengambit-rechtsstreit…
## AUTOREN
Daniel Schütz
## TAGS
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