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# taz.de -- Karrieren mit Fake Lifes: Parabel auf die Ära Trump
> Republikaner George Santos ist nicht der einzige Fabulierer auf Trumps
> Spuren. Wird das Lügen autoritärer Charaktere zum Massenphänomen?
Bild: Fake to the limit: US-Politiker George Santos ist aufgeflogen, kehrt aber…
„Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht
bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden
gerechnet.“ Mit diesem Stammtisch-Gemeinplatz beginnt [1][Hannah Arendt]
ihren Essay „Truth and Politics“ aus dem Jahr 1967. Sie bezog das auf die
damals zunehmende Verquickung von Politik und Public Relations, die auch
andere Lebensbereiche durchdrang.
Schon bei Bewerbungen für schlichte Aushilfsjobs werden Studierende und
Auszubildende heute animiert, ihren Lebenslauf mit Alleinstellungsmerkmalen
aufzuladen, die sie aus dem Bewerberfeld hervorheben sollen. Ausgefeiltere
Hochstapeleien führen auch in höhere Ämter und Führungspositionen.
Der deutsche Typus ist Felix Krull, den Thomas Mann als Allegorie einer nie
ganz schwindelfreien Künstlerexistenz schuf. Patricia Highsmiths
talentierter Mr. Ripley driftete in kriminelle Machenschaften ab und gab
Einblick in die oberen Zehntausend, wo der eine oder andere fürchten muss,
der gefakte Lebenslauf könnte entdeckt und publik werden. Solche Abstürze
führen bis in den Selbstmord – oder ins Fernsehen: Als Donald Trump Ende
der 1980er Jahre auf Milliardenschulden saß, gab er im Fernsehen den
„Apprentice“.
Wie weit man den Betrug treiben kann, zeigt der Fall des im Dezember 2023
aus dem US-Repräsentantenhaus ausgeschlossenen Republikaners George Santos.
Was bei ihm einzig feststeht, ist sein Geburtstag am 22. Juli 1988, der
Rest des Lebenslaufs besteht aus „alternativen Fakten“ über Herkunft und
Religionszugehörigkeit, akademische und berufliche Karriere,
Vermögensverhältnisse und politischen Ambitionen.
## Kriminelle Energie bei George Santos
Ein Klassiker der Biografiefälschung, den man aus Europa kennt, ist die
fingierte Abstammung aus einer Familie von Holocaustüberlebenden; im
amerikanischen Fall passte bei Santos auch eine Mutter, die 9/11 angeblich
als Brokerin in den einstürzenden Twin Towers zu Tode kam, in Wahrheit aber
als Putzfrau tätig war und erst 2016 eines natürlichen Todes gestorben ist.
Auf die Schliche gekommen war man Santos schon bei seiner Bewerbung um ein
Mandat im wohlhabenden New Yorker Wahlbezirk Long Island/Queens. Dafür
erfand er krass übertriebene Erfahrungen an der Wall Street, die sich dann
als Scheckbetrug und Veruntreuung von Spendengeldern nach dem kriminellen
Muster der Ponzi-Pyramide („Robbing Peter to pay Paul“) entpuppten.
Diese kriminelle Energie übertrug Santos trotz bereits bekannt gewordener
Schummeleien und Betrugsmanöver in den Kongress, wo er Wahlkampfspenden
zweckentfremdete und falsche Abrechnungen vorlegte. Dass ihm auch sexuelle
Übergriffe angelastet wurden, durfte in diesem Register nicht fehlen.
Die Republikaner ließen ihn aber nicht fallen, weil sie seine Stimme
brauchten; erst im Herbst 2023 rückte eine Hälfte von ihnen von dem
skrupellosen Betrüger ab, der seine Verfehlungen immer dreister leugnete
und seinen X-Account unverfroren für hochpreisige Grußbotschaften anbot.
## Angebliche Hexenjagd
Santos’ Aufstieg ist eine Parabel auf die Ära Donald Trump, sein Abstieg
ebenfalls. Denn dem Trump-Lager verkauft er seine Demission als
„Hexenjagd“, und als bei der fälligen Nachwahl sein Mandat an den
Demokraten Thomas Suozzi verloren ging, schob er die Schuld seinen
Parteigenossen zu:
„Ich hoffe, ihr seid mit dieser miserablen Leistung zufrieden und eure 10
Millionen für sinnlosen Bullshit ruinieren die Partei. Ich freue mich sehr
darauf, dass die meisten von euch aufgrund eurer absolut hasserfüllten
Kampagne, mich willkürlich aus dem Kongress zu entfernen, verlieren werden.
Jetzt geht und sagt der republikanischen Basis, was ihr verdammten Idioten
getan habt und viel Glück bei der Geldbeschaffung im nächsten Quartal.“
Offenbar ist mit Trumps demonstrativer Aufschneiderei eine neue Stufe
erreicht. Santos, der strafrechtlich genau wie sein Protektor Trump hinter
Gittern gehörte, gilt in seinem Lager als Held. Jede aufgedeckte Lüge bläst
er zu noch größeren Lügen auf; den Kurzaufenthalt im Kongress („eine
Hölle“) stilisiert er zum Akt des Widerstands, als habe er den Tempel von
so korrupten Händlern säubern wollen, wie er selbst einer war.
Wenn Trump „so lange vorgab, reich und mächtig zu sein, bis er es wirklich
war, warum dann nicht auch Santos?“
## Der deutsche Santos
Der New Yorker Autor Mark Chiusano, dessen minutiöse Recherchen zum Sturz
des Allround-Betrügers beigetragen haben, ordnet seinen Aufstieg in die
eingefleischte Tendenz der Amerikaner ein, „jemand anderer sein zu wollen“.
In seinem [2][Buch „The Fabulist“ (2023)] listet er eine ganze Reihe
politischer Hochstapler von 1871 bis zu dem 2021 von Trump begnadigten Duke
Cunningham auf, die es freilich nie so ungeniert getrieben haben.
Seinen Aufstieg deklarierte Santos selbst als Verwirklichung des American
Dream. Die populäre Kultur liebt solche Hochstapeleien, wie sie
beispielsweise die [3][Trickbetrügerin Anna Sorokin vier Jahre betrieb, die
dann in „Inventing Anna“ zur Netflix-Serienheldin wurde].
Solche Blindheit gegenüber offensichtlichen Blendern und Betrügern ist
nicht auf die Vereinigten Staaten begrenzt. Auch Österreich und Deutschland
haben sich lange von einem Falschspieler namens René Benko und seinem
Gönner im Kanzleramt Sebastian Kurz an der Nase herumführen lassen.
Der deutsche Santos scheint auch schon aufgetaucht zu sein, in Gestalt des
AfD-Spitzenkandidaten zur Europawahl. Der in Dresden ansässige Maximilian
Krah behauptet, Mitglied, einer Rechtsanwaltssozietät im schwäbischen
Biberach zu sein. Die Kanzlei hat einer lokalen Zeitung erklärt: „Er ist
kein Mitarbeiter/Angestellter unserer Kanzlei und bearbeitet hier auch
keine Mandate.“ Der Kanzleichef bestätigte, Krah sei in seiner Kanzlei
„null Komma null aktiv“, er sei auch noch nie in Biberach gewesen.
## Kein Alleinstellungsmerkmal
Die Beispiele zeigen, dass die rotzfreche Bestreitung von
Tatsachenwahrheiten kein Alleinstellungsmerkmal totalitärer Herrschaft ist,
sondern sich auch ohne Wahrheitsministerien zum Massensport entwickelt hat.
Haben Lügen kurze Beine? Hannah Arendt war davon überzeugt, dass die Lüge
nicht ohne komplementäre Wahrheit existieren könne und à la longue stets
entlarvt und widerlegt würde.
Das Schema von George Santos ist eingestürzt, er wird aller
Wahrscheinlichkeit in einem der miesen Jobs landen, von denen aus er seinen
Aufstieg gestartet hatte. Aber was ist mit Donald Trump?
Seine Tricksereien sind unerschüttert anziehend für eine Hälfte des
amerikanischen Wahlvolkes, und dass er am Tag eins seines erneuten Einzugs
ins Oval Office eine Diktatur errichten will, kann man ihm glauben. Die von
ihm eingesetzten Richter werden ihm kaum in den Arm fallen,
Gegenkandidatinnen in seiner Partei haben längst aufgegeben.
Ein Hindernis scheint einzig das jüngste Gerichtsurteil zu sein, das ihm
wegen unzähliger finanzieller Verfehlungen 354 Millionen US-Dollar Strafe
aufbrummte, schätzungsweise die Hälfte seiner liquiden Mittel. Trumps
Familienunternehmen ist enthauptet, der Patriarch wird Immobilien verkaufen
müssen, wenn er Dollars für seine Wahlkampagne flüssig machen will.
Ist das etwa der Riss, der den Trump Tower der Lügen zum Einsturz bringen
kann? Jenseits des Gemeinplatzes, wonach Politik gleich welcher Art ein
„schmutziges Geschäft“ sei, könnte man wieder eine Eloge ausbringen wie
seinerzeit Hannah Arendt: „Wahrheit könnte man begrifflich definieren als
das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der
Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“
22 Apr 2024
## LINKS
[1] /Neue-Biographie-ueber-Hannah-Arendt/!5964063
[2] https://www.simonandschuster.com/books/The-Fabulist/Mark-Chiusano/978166804…
[3] /Verleumdungsklagen-gegen-Netflix/!5881463
## AUTOREN
Claus Leggewie
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