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# taz.de -- Neue Biographie über Hannah Arendt: Nach der Flucht
> Thomas Meyer zieht in seiner Biografie von Hannah Arendt bislang
> unbekanntes Archivmaterial heran, um ihr Denken und ihre Erfahrung zu
> verbinden.
Bild: Hannah Arendt, 1944, abgelichtet von ihrem Lieblingsfotografen
Seit das umfangreiche Standardwerk von Elisabeth Young-Bruehl über Hannah
Arendt 1986 auf Deutsch erschienen ist, reißt der Strom an
Veröffentlichungen nicht ab: Bücher über sie, Einzelveröffentlichungen der
Autorin, vor allem aber ihre Korrespondenz mit Karl Jaspers, Martin
Heidegger, Mary McCarthy, um nur die wichtigsten Briefpartner zu nennen.
Die Forschung ist ausgeufert, was daran liegt, dass Hannah Arendt in der
Publikumsgunst Klassikerstatus erlangt hat.
An ihren zum Teil nicht gerade leicht zugänglichen politischen Texten wie
„[1][Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft]“ oder ihrem Buch
„[2][Eichmann in Jerusalem]. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, das
immer noch für Kontroversen gut ist, wenn es um die Rolle der Judenräte
oder um die Rolle Eichmanns geht, dürfte das kaum liegen.
Vermutlich hat das eher mit ihren philosophischen Büchern zu tun, denn bei
Titeln, die „Vom Leben des Geistes“, „Vom tätigen Leben“ und „Denken…
Geländer“ heißen, kann man zweifellos mit einem größeren Zuspruch bei den
Lesern rechnen.
## Unbekannte Briefe und Texte Arendts
Nun hat der Herausgeber der Arendt-Studienausgabe, Thomas Meyer, die nicht
einfache Aufgabe übernommen, nach über 40 Jahren eine neue Biografie
Arendts zu verfassen, ohne die bereits vorliegende lediglich neu zu
schreiben. Nach zweijähriger Archivrecherche in zahlreichen Ländern fand
Meyer unbekannte Briefe und Texte, aber auch Dokumente, die in der
[3][Arendt-Forschung] bislang vernachlässigt wurden.
Damit versucht Meyer, einige der blinden Flecken in der Biografie zu
beleuchten. Er konzentriert sich dabei vor allem auf zwei Lebensphasen
Arendts, über die bis heute relativ wenig bekannt war, und zwar Arendts
Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die ersten Jahre in New
York bis 1951, als ihr Hauptwerk „The Origins of Totalitarianism“ erschien.
Die vorgezeichnete wissenschaftliche Karriere Arendts nahm zunächst einen
völlig anderen Verlauf, als Martin Heidegger 1933 in Freiburg seine
berühmte Rektoratsrede hielt, die als „Kampfrede“ gelobt wurde, in der
„echtes Wissen“ aufscheine, weil er „Volk“, „Gemeinschaft“, „Tuge…
dem „Sein“ die wahre Bedeutung beimesse. Heidegger hatte den
Nationalsozialismus philosophisch geadelt.
Zur selben Zeit wurde Hannah Arendt, die bei Heidegger studiert und sogar
eine Affäre mit ihm hatte, von Stefan Zweig und der Jüdischen Rundschau
beauftragt, die Presse nach antisemitischen Äußerungen zu durchforsten.
Kurz darauf wurde sie festgenommen, und es ist nur einem glücklichen
Umstand zu verdanken, dass sie nach einem Tag wieder freigelassen wurde.
## Heidegger und das völkische Denken
Größer also könnte der Graben zwischen Arendt und Heidegger nicht sein, und
auch wenn Meyer im Laufe des Buches auf einige Belege hinweist, die das
Unbehagen Arendts gegenüber Heidegger deutlich machen, so wird es wohl auf
ewig ein Rätsel bleiben, warum Arendt in der Lage war, die Person Heidegger
von ihrem völkischen Denken zu trennen und davon auszugehen, dass seine
Philosophie unschuldig sei, obwohl kein anderer philosophischer Entwurf so
eng mit dem zusammenging, was man als das Leben selbst bezeichnen könnte.
Auch wenn das nicht zentral im Buch verhandelt wird, spielt das letztlich
unbewältigte und merkwürdige Verhältnis zwischen den beiden immer wieder
eine Rolle.
In Paris versucht Arendt zunächst, ihre wissenschaftliche Arbeit über Rahel
Varnhagen voranzutreiben, indem sie mit einem bislang unbekannten
Empfehlungsschreiben von Stefan Zweig bei jüdischen Stiftungen
Förderungsanträge stellt. Aber es war klar, dass dies nicht die Zeiten
waren, um im stillen Kämmerlein über philosophische Fragen zu brüten.
## Kinderverschickung nach Palästina
Ausführlich beschreibt Meyer nun die Lage in Frankreich, wo die
Flüchtlingsströme kein Ende nahmen und das Elend vor allem der ohne
Begleitung eintreffenden Kinder und Jugendlichen immer größer wurde. Es war
für [4][Arendt ein Gebot schlichter Menschlichkeit], sich um diese
verlorenen Kinder zu kümmern und ihnen, wenn möglich, eine Perspektive zu
bieten, das heißt, sie nach Palästina zu verschicken, wo sie in
landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten unterkommen sollten.
Da die französischen Juden jedoch häufig antizionistisch eingestellt waren,
ging es auch darum, potenzielle Unterstützer zu überzeugen. Typisch dafür
die von Meyer herangezogene Zeitschrift Cahier Juifs, die im September 1933
mit einem Vorwort von Albert Einstein unter dem Titel „Der Beitrag der
Juden Deutschlands zur deutschen Zivilisation“ erschien, um mit dem
Argument der Bildung die Lage zu verbessern, die doch so ausweglos war.
Denn die Zahl der geflüchteten Juden war 1935 auf 260.000 angestiegen und
die französischen Behörden machten keine Anstalten, ihnen einen rechtlichen
Status einzuräumen. Wie konkret Arendt in der Jugend Alijah involviert war
und worin genau die Arbeit bestand, als sie mit elf Jugendlichen über
Marseille nach Palästina reiste, darüber erfährt man viele neue und
aufregende Details.
Im Nachhinein erweist es sich für die Nachwelt als Glücksfall, dass Hannah
Arendt in dieser praktischen Arbeit Erkenntnisse und Erfahrungen sammelte,
die später in ihr bahnbrechendes Buch „Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft“ und in zahlreiche wichtige Studien über Rassismus und
Antisemitismus eingingen.
## Motive ihres Schreibens
Und genau über den Hintergrund ihrer klarsichtigen Essays liefert Thomas
Meyer immer wieder spannende Hinweise und deutet die Motive ihres
Schreibens mit einem ungeheuren Wissenshintergrund, denn ihre Artikel
entstanden immer aus Diskussionen heraus, die in den Kreisen, in denen sich
Arendt bewegte, mehr oder weniger hitzig geführt wurden.
Es ist dabei sehr erhellend nachzuvollziehen, wie aus dem „Juden als
Paria“, über den sie schrieb und der Arendt selbst war, ein in New Yorker
Intellektuellenkreisen leuchtender Fixstern wurde, der mit „Eichmann in
Jerusalem“ eine der größten Debatten des letzten Jahrhunderts auslöste.
Dem Philosophen Thomas Meyer ist ein großartiges Buch gelungen, das
unbedingt lesenswert ist, wenn man die einzelnen Schritte verfolgen will,
die Hannah Arendt auf ihrem Weg zu einer der bedeutendsten Intellektuellen
zurückgelegt hat.
21 Oct 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Klaus Bittermann
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