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# taz.de -- Deutsche Besatzung in Frankreich: Engagiert Geschichte dokumentieren
> Ahlrich Meyer hat einen Essayband mit Texten unter anderem über die
> deutsche Besatzungspolitik in Frankreich vorgelegt. Der taugt zum
> Standardwerk.
Bild: Paris, 10. Juni 1940: Die ersten deutschen Truppen marschieren auf
Der Politikwissenschaftler und Historiker Meyer hat sich schon mit zwei
anderen Werken als anerkannter Kenner der „deutschen Besatzung in
Frankreich 1940-1944“ (2000), deren Verarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg
sowie der „Endlösung der Judenfrage in Frankreich“ (2005) profiliert.
Meyers neue, äußerst verdienstvolle Essaysammlung „Der Bann der
Unglaubwürdigkeit“, die gerade in der Edition Tiamat erschienen ist,
enthält nun Essays zu Stationen und Ereignissen der deutschen
Besatzungspolitik zwischen 1940 und dem Kriegsende in Frankreich. Zentral
in der Sammlung ist jedoch ein Text über Hannah Arendt.
Für Arendt war nicht das Jahr 1933 das entscheidende historische Datum,
sondern jener Tag im Jahr 1943, an dem sie erfuhr, was die Geschichte vom
Vorher und vom unvorstellbaren Nachher trennt: Auschwitz bildet nicht eine,
sondern die Zäsur.
Die dortigen Vernichtungsfabriken überstiegen für sie bei weitem alles, was
man vom Antisemitismus erwarten konnte, und veränderten das Verhältnis von
Wirklichkeit und Wahrheit in einem undenkbar radikalen Sinn, der sogar im
Prinzip glaubhaften Berichten von sehr seriösen Überlebenden der Hölle das
„Odium der Unglaubwürdigkeit“ verlieh.
## Einordnung zu Hannah Arendt
Der unerträgliche Gedanke, dass „schlechthin alles, was denkbar ist, auch
möglich ist“ (die Formulierung stammt von David Rousset und wird von Arendt
übernommen), wurde unabwendbar. Das NS-Menschheitsverbrechen wurde zur
politisch-moralischen Herausforderung für das menschliche Dasein und Denken
überhaupt.
Parallel zu den NS-Verbrechen beschäftigte sich Arendt mit der
stalinistischen Terrorherrschaft in der Sowjetunion. Sie analysierte beide
Herrschaftsformen als Ausdruck totalitärer Herrschaft, ohne die beiden
einander gleichzusetzen, betrachtete sie aber beide als Bruch mit der
Tradition politisch-moralischen Denkens.
Ahlrich Meyers Text über Hannah Arendt liest man mit großem Gewinn. Arendts
Text „Eichmann in Jerusalem“ (1963), den sie in mehreren Varianten bzw.
Schritten zum Buch erweiterte, traf bekanntlich von Anfang an auf heftige
Kritik. In deren Zentrum stand ihre völlig überzogene These, von der sie
nicht mehr abrückte, wonach die Einsetzung und Praxis von Judenräten in den
Gemeinden und [1][Ghettos] eine Bedingung für die Durchführung von
judenfeindlichen Maßnahmen war. Meyer zeigt, diese Behauptung ist heute mit
dem Forschungsstand unvereinbar.
## Theresienstadt als „einmalige Wahnwelt“
In einem anderen Essay behandelt Ahlrich Meyer den 1910 in Prag geborenen,
mittlerweile weitherum vergessenen Autor und Soziologen H.G. Adler und
dessen Buch über das von den Nazis als Muster- und Vorzeigelager
konzipierte Lager Theresienstadt. Vier Jahre überlebte Adler dort und
übersiedelte 1947 nach London, wo ihn der geflohene Elias Canetti ebenso
vergeblich unterstützte bei der Suche nach einem Verlag für das Buch wie
später Hermann Broch von den USA aus, was erst 1955 durch [2][Vermittlung
von Theodor W. Adorno gelang.] Es erschien im Tübinger Verlag Mohr Siebeck
GmbH.
1956 lud Adorno H.G. Adler zwar zu einem Vortrag zu den Loeb Lectures ein,
aber zu einer kontinuierlichen Kooperation zwischen Adler und dem
Frankfurter Institut für Sozialforschung kam es nicht. Theresienstadt
beschrieb Adler als „einmalige Wahnwelt“, die beherrscht wurde von
allseitiger Täuschung, Lug und Trug.
Ein weiterer Essay Meyers beschäftigt sich mit dem aus Russland stammenden
französischen Historiker Léon Poliakov, der mit „Bréviaire de la haine“
(„Vom Hass zum Genozid“, deutsch 2021) ein dokumentarisches Meisterwerk zum
Mord am europäischen Judentum vorgelegt und damit viele Forschungsarbeiten
angeregt hat. Poliakov war nach dem Weltkrieg für zwei Jahre
Sachverständiger beim Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und
brachte zusammen mit Joseph Wulf auch die erste Dokumentation der
Verfolgung und Ermordung der Juden in deutscher Sprache heraus, die als
Pionierleistung gilt.
## Wechsel der Methoden
In einem anderen beeindruckenden Text zeigt Meyer, wie sich die deutsche
Militärverwaltung in Frankreich von der anfänglichen Erschießung von
Geiseln nach Attentaten verabschiedete und zur Deportation der Juden nach
Osten überging.
Entscheidend für den Kurswechsel waren nicht humanitäre Gründe, sondern
rein taktische Erwägungen: Man wollte die Ruhe der Bevölkerung nicht stören
mit brutalen Repressionsmaßnahmen und vor allem den Einbau der
französischen Wirtschaft in die deutsche Kriegsökonomie nicht gefährden,
wie selbst Ernst Jünger in seinem Pariser Tagebuch nach einem Gespräch mit
Otto von Stülpnagel, dem Chef der Militärverwaltung in Paris, berichtete.
Nach der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 schwenkte die
Wehrmachtsführung auf die Parteilinie ein und trieb die „Entjudung Europas“
voran (Werner Best, April 1941). Der Übergang zur Deportation der Juden ist
der Beginn der Beteiligung der Wehrmacht an der „Endlösung der Judenfrage“.
Ahlrich Meyers Essays geben unter anderem einen hervorragenden Einblick in
viele Facetten der deutschen Besatzungspolitik in Frankreich und sind für
jeden historisch-politisch Interessierten auch ohne Spezialkenntnisse
lesbar. Die jetzt vorliegende Essaysammlung reiht sich ein neben die
erwähnten, zu Standardwerken der deutschen Besatzungspolitik gewordenen
Bücher des Wissenschaftlers Ahlrich Meyer.
20 Oct 2023
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## AUTOREN
Rudolf Walther
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Deutsche Geschichte
Besatzung
Hannah Arendt
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
wochentaz
8. Mai 1945
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