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# taz.de -- Lydia Lunch singt gegen Trauma an: Die Monster, die in ihr wohnen
> Ihre Waffen gegen das Patriarchat sind radikale Musik-Performances und
> Sex. In Berlin zeigte die New Yorkerin Lydia Lunch, dass ihr Zorn noch da
> ist.
Bild: Die Auftritte von Lydia Lunchs erster Band Teenage Jesus and the Jerks da…
Ein schöner junger blonder Mann wird von seiner Freundin, die sich
zufrieden im Bett räkelt, nach Hause geschickt. Er kommt nicht weit. Vor
der Tür wird er von drei Männern mit einer Pistole bedroht, in Handschellen
gelegt und in den Kofferraum eines Autos geworfen. Die Männer bringen ihn
in irgendein New Yorker Loft, vermutlich in der heruntergekommenen Lower
East Side, hängen ihn kopfüber auf, er wird geschlagen. Eine in schwarz
gekleidete Domina nimmt sich seiner an. Schließlich muss er sich nackt, die
Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt, in die „Black Box“ begeben, die
ihm von der Frau schon mehrmals angedroht worden war und die dem Film von
Beth und Scott B aus dem Jahr 1979 auch den Namen gegeben hat.
[1][Beth B zeigt den Film im Rahmen einer von ihr kuratierten Reihe] an
einem schwülheißen Freitagabend im Berliner Silent Green. Die Frau mit dem
schwarzen Minirock aus Leder und den schwarzen Haaren in „Black Box“ heißt
[2][Lydia Lunch]. Sie hat in vielen Filmen der New Yorker
Super-8-Punk-Avantgarde – unter anderem von Vivienne Dick – mitgespielt.
Für zwei Filme mit Richard Kern schrieb sie auch das Drehbuch. Ende der
1970er aber war sie vor allem für die Auftritte mit ihrer No-Wave-Band
Teenage Jesus and the Jerks berüchtigt. Die dauerten oft nicht länger als
eine Viertelstunde. Ihr Erfolg bemaß sich daran, ob es der Band gelungen
war, die Leute aus dem Saal zu treiben.
Der schöne blonde junge Mann windet sich zusammengekauert in der Black Box
und schreit. Er wird mit Lichtblitzen und schrillen Synthesizersounds
traktiert, die Lydia Lunch an einem Mischpult sitzend steuert. [3][Die Idee
zu so einer Maschine hätte sich William Burroughs einfallen lassen können],
aber Beth B erklärt, die Inspiration für die Black Box sei ein Foltergerät
namens Refrigerator, also Kühlschrank, gewesen. Gebaut von einer Firma aus
Texas, um sie in Länder wie Chile, Uruguay und den Iran des Shahs zu
verkaufen. „Überzeugung durch Zwang“ wurde die Foltermethode genannt. Neben
Licht und Lärm konnte das Gerät Eiseskälte und brutale Hitze erzeugen.
## Der Krieg ist nie vorbei
Der New Yorker Filmkritiker Jim Hoberman schrieb 1979 über Punk, [4][seine
Avantgarde-Subkultur] sei der entfremdete urbane Teenager und sein
„heiliges Monster“ die Domina. Punk sei besessen von einer Ästhetik der
Gewalt. Das galt nicht nur für Filme.
„Kleine Waisen rennen durch den blutigen Schnee“ lautet eine von insgesamt
zwei Zeilen eines Songs namens „Orphans“ auf der ersten Single von Teenage
Jesus and the Jerks. Diese Waisen haben keine Knöchel und keine Kleider
mehr, erfahren wir in der zweiten Zeile. Vermutlich sind sie Opfer einer
der vielen Kriege und Genozide geworden, deren Zahlen Lydia Lunch zwanghaft
recherchiert, wie sie sagt, in der Hoffnung, dass sie sich damit für einen
Moment vom Krieg in ihrem Innern ablenken könne. Diesen Krieg hat ihr Vater
in ihr eingepflanzt, als er Lydia im Alter von 6 oder 7 Jahren sexuell zu
missbrauchen begann. „Lydia Lunch – The War is Never Over“ heißt der
Dokumentarfilm von Beth B, der nach „Black Box“ gezeigt wird.
Dass mit der Welt grundsätzlich etwas nicht stimmt, verstand Lydia schon
früh. In Rochester im Bundesstaat New York, wo sie 1959 geboren wurde,
setzte die Polizei 1964 wegen Widerstands gegen die Verhaftung eines jungen
schwarzen Manns Polizeihunde gegen die Menge ein, worauf es zu einem
Aufstand kam, der drei Tage dauerte und einige Todesopfer forderte. Die
Gewalt spielte sich auch unter dem Fenster von Lydias Kinderzimmers ab.
## Mit dem Hacken ihres Schuhs schlägt sie den Takt
Mit 13 begann Lydia zu rebellieren. In der zehnten Klasse verließ sie die
Schule und machte sich auf nach New York. Dort lernte sie das Punk-Duo
Suicide kennen, [5][Alan Vega] und Martin Rev, deren Shows nicht nur wegen
ihrer monoton-brachialen Synthesizermusik, sondern auch wegen der
aggressiv-exaltierten Bühnenshow von Vega schockierten. Er verletzte sich
selbst und sang blutüberströmt nihilistische Lyrics über ein Amerika, das
seine Jugend töte: „We're all lying in hell.“ Lydia war auch von den Shows
der heute vergessenen [6][No-Wave-Band Mars] begeistert und beschloss
selbst eine Band zu gründen.
Nach dem Film dürfen alle die heiße Kuppelhalle für einen Moment verlassen.
Nach zehn Minuten treibt Beth B das Publikum wieder in den Saal, es muss
weiter gehen. Nun tritt Lydia Lunch an zwei Mikrofone, eines mit
Halleffekt, eines ohne, in die sie mal mit sehr tiefer, mal mit hoher
Stimme, mal flüsternd, mal schreiend, mal monoton, mal singend ihre Texte
spricht. Mit dem Hacken ihres Schuhs schlägt sie den Takt zum rhythmischen
Flow. Sie muss nur hin und wieder auf ihre Manuskripte schauen. Wenn sie
mit einem Blatt durch ist, wird es nochchalant auf den Boden geworfen. Der
Strom der Worte wird nur unterbrochen, wenn er selbst eine Pause verlangt.
Lunchs Texte handeln unter anderem von Überwachungstechnologien, wir
Deutschen könnten froh sein, dass die Zahl der Videokameras läppisch gering
sei im Vergleich zu den USA. Von Social Media, „die dich ausspionieren,
während du dich selbst ausspionierst“. Von der kaputten amerikanischen
Kultur, die Serienmörder und Kriminelle verherrlicht. Und immer wieder von
ihr selbst und ihrem Kampf gegen die institutionalisierte Gewaltherrschaft
der Männer, dem Patriarchat, den sie auf ihre eigene Weise führt, indem sie
Männer für den eigenen Lustgewinn benutzt und über sie triumphiert.
„Terror dwells in the shadows of my wings.“ Der Schrecken wohnt im Schatten
meiner Schwingen. Gewalt, Kontrolle, Sex und die Monster, die in ihr
wohnen, sind wiederkehrende Motive. Trotzdem liegt Lunch jeder Moralismus
fern. „Daddy slaps your hand, he’s the only man / I’m a little girl in his
little girl world“, heißt es lakonisch in „Baby Doll“, einem weiteren So…
von Teenage Jesus and the Jerks.
## Sie sind alle verdammt schuldig
Lunch weiß zu gut, dass ihr Vater ein Täter war, aber sie hält ihn auch für
ein Opfer. Die Ausübung sexueller Gewalt werde von einer Generation an die
nächste weiter gegeben. Ihrem Buch „Paradoxie“ hat sie das Motto
vorangestellt: „Kein Name wurde verändert, um Unschuldige zu schützen. Sie
sind alle verdammt schuldig.“
Das Buch ist eine autobiographische Erzählung, in der sie davon berichtet,
wie sie sich als Mädchen allein in New York City durchschlägt, einer Stadt,
die Mitte der Siebzigerjahre bankrott ist und in der Drogen in größerer
Fülle vorhanden zu sein scheinen als Lebensmittel. Es ist ein
apokalyptischer Ort, den sie als das „Arschloch von Amerika“ wahrnimmt. Sie
erzählt von einem alten Mann, der das Mädchen in ein Hotelzimmer mitnimmt,
der Deal ist klar. Er wird ihr Essen kaufen und Geld geben im Tausch gegen
Sex.
Der alte Mann hat als Kind seine gesamte Familie im Holocaust verloren,
seine Existenz ist ein bloßer Zufall, die Geschichte sucht ihn heim, er
verliert sich in Absenzen. Sie ist auf sein Angebot eingegangen, um ihn zu
bestehlen, so hat sie es schon mit vielen anderen gemacht, wobei der
Gewinn, den sie sich verspricht, weit über den monetären Aspekt hinausgeht:
„Ich pirschte durch Bars, Clubs und Buchläden, Parks und Notaufnahmen. Auf
der Suche nach Männern, in denen ich mich verlieren konnte. Ich suchte nach
einer Schwachstelle, nach dem wunden Punkt, einem kleinen Riss in ihrem
Nervenkostüm, in den ich mich verkrallen konnte. Durch den ich in sie
hineinkriechen, mich in ihnen verstecken konnte. In dem ich verschwinden
konnte und mich in einer Vielzahl von Persönlichkeiten zeigen konnte, die
alle dasselbe Ziel verfolgten. Den nächsten Macker dazu zu bringen, seine
moralische, finanzielle, geistige oder körperliche Rüstung fallen zu
lassen, so dass – unabhängig vom Ausgang – ich Sieger blieb. Ich bekam,
was ich wollte, Geld, Leidenschaften, Sex. Mit dem Wichtigsten gingen sie
stets freigiebig um. Ihnen selbst. Was sie nicht freiwillig hergaben, nahm
ich mir.“
## Nicht milde, aber fürsorglich
„Paradoxie“ erschien 1997 und trägt den Untertitel „Tagebuch eines
Raubtiers“. Einer der Männer, mit dem sie ein paar Tage herumlungert und
Drogen nimmt, stellt sich später als Mörder heraus, der eine junge Frau
ermordet und verstümmelt hat.
„Responsibility is the enemy of freedom“, Verantwortung ist der Feind der
Freiheit, so lautet ein typischer Lydia-Lunch-Satz. Wer sie auf der Bühne
erlebt, erfährt sie noch heute als einschüchternde Person: Altersmilde
scheint sie nicht geworden zu sein. Abseits der Bühne wird sie jedoch als
fürsorglich, wenn nicht gar mütterlich beschrieben. Ihren Künstlernamen
Lunch verdanke sie einer dankbaren Band, für die sie einst Essen aus einer
Bar stahl, in der sie gearbeitet hat, wird erzählt. Der Musiker J. G.
Thirlwell, der mit ihr sieben Jahre zusammenlebte, berichtete der New York
Times davon, dass sie sogar die Eichhörnchen auf ihrer Feuertreppe
gefüttert habe.
Lydia Lunch ist die erste Künstlerin, die ich jemals interviewt habe, 1990
in West-Berlin. Sie saß backstage auf einem Sessel, der nervöse junge
Reporter neben ihr auf dem Boden. Nach anfänglicher Strenge beantwortete
sie geduldig meine Fragen. Das erzähle ich ihr auf dem Weg nach draußen,
zufälligerweise verlassen wir gleichzeitig das Silent Green. „Da musst du
zehn gewesen sein“, sagt sie. Ein bisschen älter, sage ich und gebe zu,
dass ich mich an ihr Konzert von damals nicht erinnern kann. „Wer kann das
schon“, antwortet sie trocken, „aber trotzdem danke.“ Legt mir kurz und
freundschaftlich die Hand auf die Schulter und verschwindet in der Nacht.
20 Aug 2024
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[5] /Musiker-Alan-Vega-ist-gestorben/!5325516
[6] /Autobiografie-von-Musiker-John-Lurie/!5823003
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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