| # taz.de -- Autobiografie von Musiker John Lurie: Gräten und andere Abfälle | |
| > Jim Jarmusch, Basquiat, The Lounge Lizards: Sie alle kommen vor in „The | |
| > History of Bones“, der Autobiographie des New Yorker Musikers John Lurie. | |
| Bild: John Lurie (mir Saxophon) und seine Band The Lounge Lizards, New York 1979 | |
| Eine der ersten Erinnerungen: Samstagmorgens vom Vater geweckt zu werden, | |
| um gemeinsam fischen zu gehen, Ende der 1950er Jahre in Massachusetts. „Es | |
| war so früh, dass wir noch nicht reden konnten und einfach nur über alles | |
| lachten“, heißt es in „The History of Bones“, der gerade erschienenen | |
| Autobiografie des New Yorker Musikers John Lurie. | |
| Jahrzehnte später kommt es in der von ihm realisierten TV-Interview-Serie | |
| „Fishing with John“ zu einer Reminiszenz an den früh gestorbenen Vater und | |
| diese prägenden Erlebnisse: Zu zweit im Boot sitzen und sehen, was | |
| passiert. In jeder Folge nahm Lurie (semi-)prominente Bekannte mit zum | |
| Angelausflug: [1][Jim Jarmusch], Tom Waits und [2][Willem Dafoe], | |
| Protagonisten der East-Village-Szene der frühen 1980er Jahre. | |
| „Bones“ sind die Gräten, das, was übrigbleibt. Verblichen wie die | |
| Fotostreifen aus den Passbildautomaten der U-Bahnhöfe, die der nun | |
| erschienenen Autobiografie von John Lurie den Titel gegeben haben: „The | |
| History of Bones“. Sie dokumentiert sein erstes Jahrzehnt in New York: | |
| Zuerst im Lennon-Look mit langem Haar und Bart, später kahlrasiert oder mit | |
| Biker-Moustache. | |
| Die Lower East Side war ein Biotop, geschützter Raum für Gegenkultur, die | |
| gebraucht erstandene oder geklaute Kleidung mit Sicherheitsnadeln | |
| zusammengesteckt, die Jungs in Anzügen und schmalen Krawatten, Konzerte im | |
| CBGB’s und Mudd Club, experimentelle Super-8-Filme, Punk, No Wave und | |
| Underground-Cinema. | |
| ## Mit Basquiat in der Sozialwohnung | |
| Es war Stomping Ground von Noise-Geiger „Boris Policeband“, der live zu | |
| Mitschnitten aus dem Polizeifunk improvisierte, und Lurie mit Jean-Michel | |
| Basquiat in seiner Sozialwohnung in der East Third Street an den | |
| Bahngleisen. „Es stank nach Pisse und Erbrochenem“, erinnert sich Lurie. | |
| Sozialwohnungen wurden an New Yorker*innen mit niedrigem Einkommen für | |
| 55 Dollar im Monat vergeben. Basquiat schlief auf dem Fußboden, um ihn | |
| herum Filmequipment von Jim Jarmusch für seinen Debütfilm „Permanent | |
| Vacation“, übrig gebliebene [3][Leerfilmrollen von Wim Wenders]. Lurie war | |
| einer der Schauspieler und komponierte die Musik für den Soundtrack. „Wir | |
| waren uns unserer Sache so sicher, dass wir nie an etwas gezweifelt haben. | |
| Wir waren stark, klug, energisch, selbstbewusst, egozentrisch und | |
| erstaunlich naiv. Nichts außerhalb unseres Radius von 14 Straßenblocks war | |
| von Bedeutung. Von der East-Houston bis zur 14. Straße, von der Bowery bis | |
| zur Avenue A reichte das einzige Universum.“ | |
| Lurie übt Saxofon, bis ihm „die Lippen bluten“, kann die Stromrechnung | |
| nicht mehr zahlen, ist heroinabhängig. Er arbeitet als Hausmeister, wischt | |
| Fußböden, steht in einer Dosenfabrik am Fließband und jobbt eine Zeit lang | |
| als Nachtportier. Daneben dreht er eigene Super-8-Filme und arbeitet an | |
| seiner Musik. 1979 gründet er mit seinem Bruder Evan The Lounge Lizards, | |
| eine Band, die Punk, Noise und Jazz verbindet und in der Szene schnell | |
| Kultstatus erreicht. | |
| ## „Fake Jazz“ oder „No Jazz“, wie No-Wave | |
| Die Leute stehen Schlange, Warhol sitzt in der ersten Reihe: John Lurie | |
| spielt Sopran- und Altsaxofon, Arto Lindsay seine 12-saitige E-Gitarre, | |
| Evan Lurie eine Farfisa-Orgel, Steve Piccolo Bass und Anton Fier | |
| Schlagzeug. | |
| „Zu diesem Zeitpunkt machte im East Village niemand etwas, von dem er | |
| wirklich wusste, wie es geht. Alle Maler hatten Bands. Alle Musiker drehten | |
| kleine Filme. Ich hatte jahrelang hart an der Musik gearbeitet, musste aber | |
| verheimlichen, dass ich tatsächlich spielen konnte oder jeden Tag übte.“ So | |
| nennt Lurie seine Musik selbstironisch „Fake Jazz“. Es hätte auch „No Ja… | |
| heißen können, angelehnt an die wenige Jahre zuvor geborene No-Wave-Szene, | |
| als Verweigerung jeglicher Zuschreibungen. | |
| Es ist die verhasste Zeit von Reagans US-Präsidentschaft und der Neocons | |
| mit dem Gegenmodell des „Fakens“, des Vorgebens, etwas zu können, niemand | |
| glaubt an eine Zukunft, nur Ironie schafft den notwendigen Distanzraum. | |
| Lurie schreibt offen von Depressionen, Panikattacken und der Suche nach | |
| einem Ausweg: „Ich übte, las, hörte und studierte Musik, bis ich begann, | |
| Teile von mir selbst in der Musik zu finden, winzige kleine Durchbrüche. | |
| Ich verschlang Musik aus Bali und Tibet, Strawinsky, Varèse, Mingus, | |
| Messiaen, Dolphy, Monk, Ornette, Bird, Hendrix, Coltrane. Es war eine Suche | |
| nach meinem eigenen Klang auf dem Altsaxofon und nach einer Art mystischer | |
| Transzendenz.“ | |
| ## Verpasste Chancen und Vorwürfe | |
| Diesen findet er zuerst mit Arto Lindsay von der No-Wave-Band D.N.A. und | |
| dem Punk- und zeitweiligem Pere-Ubu-Drummer Anton Fier. Später kamen unter | |
| anderem der Steel-Gitarrist Marc Ribot und die Cellistin Jane Scarpantoni | |
| dazu, der Vibrafonist Bryan Carrott oder der Posaunist Curtis Fowlkes. | |
| Lurie selbst komponierte seine Musik als eklektische Collage verschiedener | |
| Genres und komplexer Rhythmen und Tempowechsel, teilweise auch stark | |
| verlangsamt und mit epischen, modalen Klangflächen. | |
| Zuletzt hadert er jedoch mit verpassten Chancen: „Die besten | |
| Lounge-Lizards-Songs kamen erst am Ende der Band zustande und wir hatten | |
| keine Möglichkeit, sie aufzunehmen. Das ärgert mich wirklich, dass diese | |
| Musik im Grunde ungehört blieb.“ Krankheitsbedingt löst er die Band 1998 | |
| auf, aufgrund einer Lyme-Borreliose kann er nicht mehr spielen und beginnt | |
| zu malen. Eigenartig zarte Papierarbeiten, mit Titeln wie „Pig Wolf was | |
| hopelessly lost but refused to admit it“. | |
| [4][Vorwürfe gegen Basquiat und Jarmusch] (obwohl er Basquiats Porträt von | |
| ihm als Profilbild bei Twitter nutzt), die Ideen von ihm gestohlen hätten, | |
| lassen die Memoiren auf bizarre Weise überheblich, selbstmitleidig und | |
| verbittert klingen und strapazieren die Geduld beim Lesen. Gleichzeitig | |
| zeigt er sich rührend ehrfürchtig vor Helden wie Monk und Coltrane und | |
| sogar zauberhaft scheu, mit Sätzen, die in der Luft schweben und langsam | |
| durch den Raum gleiten, wie seine tänzelnden Soli auf „Harlem Nocturne“ und | |
| „No Pain for Cakes“, von seltsam berückender Schönheit. | |
| 29 Dec 2021 | |
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