| # taz.de -- Jazzdrummer Bennink über Trommelwirbel: „Die verdammten Spechte�… | |
| > Han Bennink ist beim Jazzfest Berlin zu Gast. Er blickt auf eine lange | |
| > Karriere zwischen freier Improvisation und bildender Kunst zurück. | |
| Bild: Vogelwilde Energie und hohes Tempo: Jazzdrummer Han Bennink | |
| taz: Han Bennink, wie geht es Ihnen, wo sind Sie gerade? | |
| Han Bennink: Mir geht es eigentlich sehr gut. Obwohl ich aufpassen sollte, | |
| wenn ich das sage. In Holland muss man dann gleich auf Holz klopfen, man | |
| weiß ja nicht, was kommt, immerhin bin ich im 80. Lebensjahr. Nur meinen | |
| Zähnen geht es nicht so gut, die fallen aus. Demnächst muss ich zum | |
| Zahnarzt und dann bekomme ich Kastagnetten – und das als Schlagzeuger! | |
| Jetzt gerade sitze ich in meinem Haus bei Groningen, mitten im Wald mit | |
| vielen Vögeln um mich herum, ich liebe Vögel! | |
| Ihr Drumstil ist sehr virtuos, immer geprägt von Tempo, Energie und | |
| Anarchie. Auf der Bühne sind Sie eine Naturgewalt. Lässt es sich als | |
| Free-Jazz-Schlagzeuger gut altern oder denken Sie manchmal ans Aufhören? | |
| Zuerst einmal, den Begriff [1][„Free Jazz“] kann ich nicht leiden. Was soll | |
| das überhaupt heißen? Ich nenne es lieber „improvisierte Musik“. Und ich | |
| denke gar nicht daran, aufzuhören. Nach wie vor spiele ich ausgiebig, vor | |
| allem mit jungen Musiker:innen. Nur die Konzertreisen finde ich | |
| strapaziös, Reisen fand ich aber immer schon anstrengend. | |
| Früher reisten Sie mit großer Ausrüstung umher, von tibetanischen | |
| Klanghörnern bis zu chinesischen Gongs. Mittlerweile kommen Sie nur noch | |
| mit Ihren Stöcken und Besen – und gelegentlich mit Ihren holländischen | |
| Holzclogs. | |
| Als ich mit dem Saxofonisten Peter Brötzmann gespielt habe, bin ich 15 | |
| Jahre mit einem Bus durch Deutschland gefahren und habe mich geplagt mit | |
| viel Equipment. Mein Vater, ebenfalls Schlagzeuger, hat immer zu mir | |
| gesagt, wozu nimmst du immer so viele Teile mit? Du solltest das, was du zu | |
| sagen hast, mit einem Instrument ausdrücken. Also habe ich immer weiter | |
| reduziert und reise jetzt nur noch mit Trommelstöcken und einer Snaredrum. | |
| Bei meinem Auftritt in Berlin werde ich beim Konzert mit dem Orchester ICP | |
| ein komplettes Schlagzeug spielen. | |
| Außerdem werden Sie in Berlin im Duo mit dem Pianisten Pat Thomas auftreten | |
| und mit dem ICP Orchestra, das Sie 1967 mit [2][Misha Mengelberg] und | |
| Willem Breuker als Kollektiv gegründet haben. Wie hat sich Ihre Musik | |
| seither gewandelt? | |
| Das Orchester, wie es jetzt ist, besteht seit circa 15 Jahren. Davor habe | |
| ich in unterschiedlichen Konstellationen gespielt, etwa mit Steve Lacy, | |
| Derek Bailey und Dudu Pukwana. Wenn man mit zehn Musikern improvisiert, | |
| muss man vorher eine gemeinsame Formensprache finden, sonst klingt es am | |
| Ende wie ein Drip Painting von Jackson Pollock, genauer, wie ein | |
| jammervoller Versuch davon. | |
| Für unser Konzert habe ich eine Reihenfolge von Kompositionen vorbereitet | |
| und dazwischen wird es kleine Gruppen geben, die dazu improvisieren. Zuerst | |
| wird eine Version von „Happy Go Lucky Local“ von Duke Ellington gespielt | |
| und dann ein Improvisationsspezial. Dafür haben wir zwei neue Mitglieder: | |
| Terrie Ex, Gitarrist der Amsterdamer Postpunkband The Ex, und Joris Roelofs | |
| an der Bassklarinette. | |
| Ihr Pianist Misha Mengelberg ist leider 2017 gestorben. Wie sehr hat sein | |
| Tod das Orchester verändert? | |
| Das war zunächst eine schwere Zeit für uns, er hinterlässt eine Lücke. | |
| Misha und ich haben seit 1959 zusammen gespielt, wir sind zwar in all den | |
| Jahren nie Freunde geworden, dafür waren wir zu verschieden. Auf der Bühne | |
| haben wir sogar oft gegeneinander gespielt, was natürlich eine besondere | |
| Reibung erzeugt hat. In Deutschland war die improvisierte Musik der 1960er | |
| und 1970er Jahre sehr brachial, in England wurde eher im Stil der | |
| Pointillisten improvisiert und in Frankreich war es Rokoko – verziert mit | |
| Ornamenten. | |
| In Holland haben wir uns jeweils von allem das genommen, was wir gebrauchen | |
| konnten. Dazu gehörte auch mal Blues, der in England streng verboten war. | |
| Es gab also gravierende regionale Unterschiede, wie improvisierte Musik in | |
| Europa gehandhabt werden durfte. Nach Mishas Tod war viel Unsicherheit, es | |
| überwog die Trauer und wir haben erst einmal ohne Klavier gespielt. | |
| Gerade ist das Buch „MISHAKOSMOS – The Music Of Misha Mengelberg“ | |
| erschienen, für das Sie mit flotten Strichen das Cover gestaltet haben. | |
| Geht es Ihnen darum, sein Vermächtnis zu bewahren? | |
| Ich selbst hätte seine Kompositionen nicht notieren können, denn ich kann | |
| keine Noten lesen. Für mich ist das nur Fliegenschiss auf weißem Papier. | |
| Aber das Orchester wurde ursprünglich für die Aufführung von Mishas | |
| Kompositionen gegründet. | |
| Weshalb spielt im ICP Orchestra mit der Geigerin und Bratschistin Mary | |
| Oliver nur eine Musikerin? | |
| Tja, weil es da so viele Männer gibt … Aber ich habe oftmals mit | |
| großartigen Musikerinnen gespielt, wie mit den beiden Pianistinnen Irène | |
| Schweizer und Aki Takase, die nun verdientermaßen den Mangelsdorff-Preis | |
| auf dem Jazzfest für ihr Lebenswerk bekommt. | |
| Sie fühlen sich der Neo-Dada- und Fluxus-Bewegung der 1960er und 1970er | |
| Jahre verbunden, die von einer ästhetischen Radikalität geprägt war, die | |
| sich auch in Ihrer Spielpraxis zeigt. Sehen Sie sich als Teil dieser | |
| Bewegung? | |
| Ich selbst war kein Teil der Bewegung, weil ich zu jung war. In den frühen | |
| 1960ern besuchte ich noch die Kunsthochschule und konzentrierte mich auf | |
| Radierungen. Aber gedanklich war ich schon beim Fluxus. Peter Brötzmann, | |
| der etwas älter ist als ich, hat in Wuppertal mit Nam June Paik an | |
| Installationen gearbeitet und als Teil von Peters Band habe ich auch mal | |
| bei Joseph Beuys gespielt. | |
| Sie haben die Entwicklung der improvisierten Musik in Europa von Beginn an | |
| miterlebt und geprägt. Was kann Sie noch überraschen? | |
| Mich interessiert vor allem, wie ich mich weiterentwickle. Ich übe schon | |
| mein ganzes Leben lang Trommelwirbel. Die einzigen, die es wirklich können, | |
| sind die Spechte, die ich im Wald höre. Die spielen die schönsten Wirbel | |
| und das macht mich verrückt, weil ich seit sechzig Jahren diese Wirbel übe | |
| und die verdammten Spechte üben überhaupt nicht dafür – und dann kommen sie | |
| und wirbeln wieder. | |
| 3 Nov 2021 | |
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