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# taz.de -- Freejazzsaxofonist Peter Brötzmann gestorben: Sie nannten ihn Mach…
> Peter Brötzmann galt als radikalster Vertreter des europäischen Freejazz.
> Sein Energyplaying holte aus dem Saxofon maximale Power.
Bild: Peter Brötzmann am 04.11.2022 im Haus der Berliner Festspiele
Freie Improvisation, so hat es einmal der US-Komponist Frederic Rzewski
beschrieben, ist wie Müll wegbringen. Was sich angesammelt hat, wandert
sofort in die Tonne. Der Platz wird für Neues gebraucht, damit es
weitergeht. Ein Vergleich, der Peter Brötzmann gefällt.
Er lacht herzhaft, ein kerniges Lachen, energiegeladen wie sein
Saxofonspiel. „Ja, beim Improvisieren werde ich einiges los. Meine Art,
Tenorsaxofon zu spielen, hat sehr viel damit zu tun, Licks und Töne
verschwinden zu lassen. Ab in den Ofen damit!“
Seit fast 50 Jahren lässt Brötzmann Saxofontöne verschwinden. Sein
spontanes, auch brachiales Spiel wider die Erwartungen hört auf den Namen
Freejazz, und Brötzmann gehört hierzulande zu seinen Pionieren. Den Schritt
vom Jazz zum Freejazz könne man nicht an einem Datum oder Ereignis
festmachen, sagt er bescheiden.
## Von innen aushöhlen
Und doch waren Brötzmann und seine Freunde Mitte der Sechziger federführend
beim Aufbrechen der festgefahrenen musikalischen Formensprache des Jazz.
Sie ignorierten Instrumentenhierarchien, traten im Kollektiv auf, was die
Intensität der Performance erhöhte und die Songkonventionen von innen
aushöhlte. Freejazz war beides, eine soziale und eine musikalische
Umwälzung.
Und Brötzmann, der damals mit den Besten spielte, tut das heute noch. Er
ist keinen Jota von seiner Linie abgewichen, was ihm in jüngster Zeit sehr
viele neue junge Fans weltweit beschert hat. Brötzmann war ein
Bilderstürmer, und er ist es immer geblieben. Einer, der zahlreiche
stilbildende Freejazzalben aufnahm. Einer, der aber auch aus jedem
künstlerischen schwarzen Loch wieder heil herausgefunden hat. Der in puncto
Ausdrucksweise niemals Kompromisse gemacht hat.
Begonnen hat das alles in Wuppertal, wo der 1941 Geborene seit Jahrzehnten
lebt und heute umgeben von Kunstwerken, Büchern und seinen Blasinstrumenten
zwei Stockwerke eines schmalen Häuschens im Stadtteil Elberfeld bewohnt,
unweit der Schwebebahn. Im Hinterhof liegt ein kleines Studio, in dem er
malt und musiziert. In den frühen Sechzigern besuchte Brötzmann die
Wuppertaler Werkbundschule.
## Vom Fluxus lernen
Ursprünglich wollte er Maler werden, dann studierte er Grafik. In einer
Galerie lernte er den Fluxuskünstler Nam Jun Paik kennen und wurde dessen
Assistent. Nach Happenings reparierte Brötzmann etwa Paiks präpariertes
Klavier. Von dem Koreaner lernte Brötzmann, wie wichtig es ist, in allen
Belangen künstlerische Unabhängigkeit zu bewahren, was ihn später in seiner
Haltung als Musiker bestärkte.
Im Mutterland des Jazz, den USA, symbolisierte Jazz Mitte der Sechziger das
Prinzip Freiheit. Der Kampf der US-Bürgerrechtsbewegung gegen die
Segregation übertrug sich auch auf die musikalische Ästhetik.
Diese Signale wurden in Deutschland verstanden, wenngleich den jungen
Musikern der damals allgegenwärtige Hard-Bop-Sound musikalisch zu zahm
erschien. [1][„Freejazzmusiker wie Ornette Coleman und Albert Ayler lagen
uns näher“], so Brötzmann, der auch Konzerte mit diesen Erneuerern
organisierte. Nächtelang hing er etwa mit Eric Dolphy ab, hörte zu, fragte,
lernte. Der Trompeter Don Cherry gab ihm den Spitznamen „Machine Gun“.
## Das Gemetzel drückt Wut und Ängste aus
So hieß denn auch Brötzmanns erstes großes Album von 1968, aufgenommen mit
einem Oktett, nachdem er vorher meist im Trio gespielt hatte. Die Musik ist
ein wildes Gemetzel mit vier Tenorsaxofonen, Piano, zwei Bässen, zwei
Drums. Sie transportieren die Euphorie jener Zeit, drücken aber auch Wut
und Ängste aus.
Auf dem von Brötzmann gestalteten Cover ist die Silhouette eines Soldaten
mit Maschinengeweher abgebildet. Peter Brötzmann hatte damals in Wuppertal
„ein offenes Haus“ und versteckte desertierte afroamerikanische GIs.
Trotzdem flogen Bierdosen auf die Bühne, wenn er in Frankfurt und
Westberlin auftrat.
[2][Er galt damals Teilen der Linken als elitär]. „Der Muff der Sechziger
forcierte uns nur darin, weiterzumachen. Wir hatten ja auch Fragen an
unsere Eltern, aber es gab keine Antworten. Man musste sich alles selbst
zusammensuchen, eigene Löcher bohren“, beschreibt Brötzmann den Alltag in
Westdeutschland.
## Safespace Amsterdam
Weil er den Militärdienst verweigerte, was damals rechtlich kompliziert
war, wich er nach Amsterdam aus. „[3][Holland war eine Offenbarung. Die
Menschen bewegten sich anders, und sie benahmen sich anders.] In
Deutschland war alles engstirniger. Das ging Karlheinz Stockhausen in
seinem Studio für elektronische Musik in Köln nicht anders als uns in
unserem blöden Jazzkeller.“
Brötzmann spricht Jazz aus, wie man es schreibt. Jazz. Nicht Dschähs. Er
strahlt Gelassenheit aus, spricht ruhig und überlegt. Auf der Bühne ist er
konzentriert, hat sich eine Schärfe bewahrt, Lichtjahre entfernt von dem
verschnarchten Musiklehrerimage des Jazz. „[4][Ich hatte immer das Gefühl,
es geht nicht nur um die Musik, es gibt einen sozialen Auftrag.] Es ist
eine Sache, die man zusammen macht, in der man gemeinsam entscheidet und
durch dick und dünn geht. Klingt vielleicht romantisch, ist aber so.“
Was heute auch im Pop gang und gäbe ist, der Austausch von Musikern über
Grenzen hinweg, die Gründung eines unabhängigen Labels, hatte Brötzmann
schon Ende der sechziger Jahre betrieben. Und er setzt es fort. Seit mehr
als zehn Jahren führt der bald 70-Jährige das Chicago Tentet mit jungen
Musikern der dortigen Freejazzszene.
## Soziales Wunder Tentett
Zehn Musiker regelmäßig zu organisieren, sei ohne Subventionen ein kleines
Wunder, erklärt Brötzmann stolz. Seit sechs Jahren unterhält Brötzmann
zudem ein Trio mit den Schweizer Musikern Michael Wertmüller und Marino
Pliakas. Sie nennen sich Full Blast, und ihr Sound entspricht dem, was
Brötzmann einst berühmt gemacht hat: [5][Energy-Playing, signalisiert vom
dröhnenden Hupen seines Saxofons], das verschlungene Tonketten spielt und
scharfe Changes. Nicht ohne das kontrastreiche Anschieben seiner Sidemen,
die Instrumente gerne am Anschlag.
„Dynamik spielt eine große Rolle. Gerade wenn man so den Lärm lebt, wie ich
das tue. Ich liebe es, wenn der Sound klingt, wenn ich die Drums im Rücken
spüre. Umso mehr schätze ich, wenn wir leise werden. Beim Freejazz geht es
darum, Gedanken und Gefühle woanders hinzubewegen.“ Dieser Dialektik
zufolge muss es in einem Brötzmann-Stück anders weitergehen.
Auch in der Musikerkarriere des Peter Brötzmann gab es unterschiedliche
Phasen, auch Momente, in denen er ans Aufgeben dachte. „Das gab’s oft, dass
ich dachte, jetzt ist Schluss. Jetzt verkaufe ich die Instrumente. Ich
hatte ja schon früh Familie. Ohne meine Frau Krista hätte ich das nie
durchgehalten.“ Wenn die Engagements fehlten, arbeitete Brötzmann in der
Werbung, in einer Brauerei oder in der Schlosserei seines Schwiegervaters.
Bewahrt haben ihn die Kontakte über die westdeutsche Szene hinaus, nach
Holland, England, Skandinavien und nach Übersee. „Ich habe sehr viel mit
meinen schwarzen Freunden gespielt, und was ich da gemerkt habe, da ging es
nicht nur um musikalische Gedanken, da ging es oft darum, wie sie den Tag
überleben. Und am besten lief das immer, wenn man sich zusammenschloss.“
Peter Brötzmann ist am 22. Juni 2023 gestorben.
Dieser Text ist ursprünglich am 5. Februar 2011 in der taz erschienen,
anlässlich von Peter Brötzmanns 70. Geburtstag. Er ist nun erstmals für
online produziert.
23 Jun 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Julian Weber
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