| # taz.de -- Free-Jazz-Ikone Albert Ayler: Hoch die agnostische Transzendenz! | |
| > Die Box „Revelations“ vereint die zwei letzten Konzerte der | |
| > US-Freejazz-Ikone Albert Ayler. Jetzt erscheinen sie erstmals | |
| > vollständig. | |
| Bild: Das Extrem wurde zur Alltagssprache: Albert Ayler 1970 bei einem Konzert … | |
| Ein später Triumph: Im Juli 1970 spielte Albert Ayler in Südfrankreich | |
| seine letzten beiden Konzerte, vier Monate vor seinem Tod mit nur 34 | |
| Jahren. In den USA trat der Saxofonist zu jener Zeit nur noch selten auf, | |
| meist in kleinen Clubs, vor einer Handvoll Leuten. Die Alben, die er für | |
| das Label Impulse aufnahm, wurden von der Kritik verrissen, verkauften sich | |
| nicht und sein Plattenvertrag wurde gekündigt. | |
| Die Abende in der Fondation Maeght in der Nähe von Nizza fanden unter | |
| vergleichsweise paradiesischen Bedingungen statt: Der Konzertort liegt auf | |
| einem idyllischen Hügel im Grünen. Da die Konzerte aufgezeichnet wurden, | |
| erhielt Ayler eine angemessene Gage, war mit seiner Band in den | |
| Künstlerhäusern auf dem Gelände untergebracht und hatte Zeit für Muße. | |
| Nachdem das französische Fernsehen Ausschnitte des ersten Konzerts am 25. | |
| Juli 1970 gesendet hatte, kamen zum zweiten Konzert am 27. Juli über 1.000 | |
| Menschen, für Free-Jazz-Verhältnisse so was wie ein ausverkauftes Stadion. | |
| Auf den wiederentdeckten Gesamtmitschnitten der beiden Abende, die jetzt in | |
| der Vier-CD-Box „Revelations“ mit opulentem Booklet und Texten von | |
| Mitmusikern und Verehrern wie Thurston Moore und [1][John Zorn] und vielen | |
| Fotos erstmals vollständig veröffentlicht worden sind, kann man hören, wo | |
| es hätte hingehen können mit der Musik Albert Aylers, wäre er nicht wenige | |
| Wochen später, im November 1970, im Hudson River ertrunken. | |
| Die Musik in Nizza nämlich ging weiter ins Offene, war getragen von dem | |
| Versuch, bei aller Kompromisslosigkeit die Hörenden zu erreichen. Hin zu | |
| einem vollends befreiten Jazz, der wieder verstärkt auf Komposition, | |
| Struktur und Melodie zurückgreift und damit versucht, zugänglich zu | |
| bleiben. | |
| ## Freie Musik aus der Tradition heraus | |
| Der [2][Dichter und Black-Power-Kommunist Amiri Baraka] hat in einer seiner | |
| Elogen auf Aylers Musik darauf hingewiesen, dass dessen freie Musik in der | |
| Tradition wurzelte – Bebop, Gospel, aber auch Marschmusik, die Ayler | |
| während seiner Zeit als GI in einer US-Militärkapelle rauf und runter | |
| spielte. In der Musik, die in der Fondation Maeght aufgeführt wurde, ist | |
| alles gebündelt, was an Albert Aylers Jazz singulär geblieben ist. | |
| Endlich sind nun auch die Musiker:Innen präsent, die in den bisher nur | |
| rudimentären Konzertaufnahmen nahezu fehlten: der Bass von Steve Tintweiss | |
| etwa. Und jene Stücke, auf denen der Gesang von Albert Aylers | |
| Lebensgefährtin und Managerin Mary Parks zu hören war. Ihr wurde von der | |
| männlich-dominierten Jazz-Geschichtsschreibung eine im Mythos wurzelnde | |
| Yoko-Ono-Rolle zugeschrieben: als die Frau, die das Genie in seinen letzten | |
| Lebensjahren von seinen Freunden und Kollegen entfremdet und isoliert | |
| hätte. | |
| Die vollständige „Revelations“-Box dokumentiert den späten Versuch | |
| Aylers, nach mehreren diffusen, unentschlossenen Alben, so etwas wie | |
| universale Musik zu schaffen: Komposition und Improvisation, Struktur und | |
| radikale Spontaneität sollen einander durchdringen und eine gemeinsame Form | |
| finden. Das gelang an den beiden Abenden in der Fondation Maeght über weite | |
| Strecken. | |
| Peter Niklas Wilson hat in seiner Biografie „Spirits Rejoice“ (2011) den | |
| Unterschied zwischen der Intensitätsmusik Aylers und den zeitgleich | |
| entstandenen Versuchen John Coltranes, die Möglichkeiten des Jazz zu | |
| erweitern, bestimmt. „Die klangliche Radikalisierung ist hier Endpunkt | |
| eines Prozesses, Ausdruck höchster Steigerung, ein | |
| Bis-hier-und-nicht-weiter einer Improvisationstechnik, deren Zentrum stets | |
| ein harmonisch, melodisch, metrisch gebundenes Denken ist.“ In der Musik | |
| Albert Aylers hingegen sei das Extrem zur Alltagssprache geworden. | |
| ## Extremistische Spielweise | |
| Hört man Aylers Saxofon zum ersten Mal, springt einem diese extremistische | |
| Spielweise unmittelbar an und wirkt erst einmal destruktiv, als ginge es | |
| primär darum, traditionelle Formen zu zerstören. Die Feindseligkeit und das | |
| genervte Desinteresse, mit der Ayler zu Lebzeiten konfrontiert war, wird im | |
| Wesentlichen damit zusammenhängen. Hört man aber ausdauernder zu, wird | |
| deutlich, dass die Tradition hier das ist, was die Töne informiert. Um sie | |
| dann im unmittelbarsten Ausdruck des Spielenden zu verwandeln. | |
| Der Künstler selbst wiederum verstand Sound als Zeugnis der göttlichen | |
| Liebe, die ihn durchströmt. Es ginge ihm einfach darum, zu spielen, was er | |
| fühlt, hat Albert Ayler immer wieder betont. Und was Ayler fühlte, war | |
| unter anderem die missionarische Idee, die eigene Musik als Geschenk an die | |
| heilungsbedürftige Menschheit zu verstehen. „Die Ideen Gottes sind | |
| überall“, schrieb Ayler 1965 in einem Beitrag für das französische Jazz | |
| Magazine. „Deshalb ist ein Schöpfer (oder vollkommener Mensch) ein Wesen in | |
| spiritueller Einheit, dessen Ideen in völligem Einklang mit Gott sind.“ | |
| Man kann sich vorstellen, wie krisenfördernd es sein muss, zugleich derart | |
| beseelt zu sein und als Schöpfer einer Musik, die nicht weniger als die | |
| „Healing Force of the Universe“ sein soll, zu Lebzeiten weitgehend | |
| ignoriert zu werden. Das Wundervolle an Aylers Musik ist, dass man diese | |
| Beseeltheit auch jenseits aller religiösen Metaphorik hören kann. Und was | |
| man hören kann, kann man auch spüren. Transzendenzmöglichkeiten für | |
| Agnostiker:Innen und Atheisten also. | |
| ## Ein Verweis zur aktuellen Jazz-Renaissance | |
| Die andere, konfrontative Seite von Aylers Musik ist in den Aufnahmen von | |
| Nizza ebenfalls präsent. Mitte der sechziger Jahre improvisierte er zu | |
| Gedichten von Amiri Baraka: „We want poems that kill, setting fire and | |
| death to whitie’s ass“. Diese Seite führt, vielleicht nicht direkt, aber | |
| über weitere Stationen und Umwege, zur aktuellen Jazz-Renaissance im Zuge | |
| der Black-Lives-Matter-Bewegung. | |
| „Trane was the father. Pharaoh was the son. I was the holy ghost“, hat | |
| Ayler die Familienverhältnisse damals beschrieben. Coltrane, [3][Sanders] | |
| und er. Die Mischung aus Spiritualität, Radikalität und einem freien | |
| Zugriff auf die Tradition bildet eine Verbindung von der Fire Music der | |
| sechziger Jahre zu den Erb:innen dieses Trios, etwa zu Angel Bat Dawid, | |
| Irreversible Entanglements und Shabaka Hutchings, die mit dem, was sie aus | |
| dieser Tradition auf- und mitgenommen haben, wieder andere Dinge anstellen, | |
| mit anderen Bezügen. | |
| Die vier Alben der „Revelations“-Box dokumentieren zahlreiche spontane | |
| Ausbrüche von Begeisterung im Publikum beim Hören eines Sounds, der | |
| Folk-Melodien, gospelartige Gesänge und Deklamationen mit einer radikal | |
| freien Musik verband, die nicht auf Virtuosität zielt (und sich auch darin | |
| von der späten Musik John Coltranes abhebt). Geprobt wurde nur wenig. | |
| Der Pianist Call Cobbs, der es wegen eines verspäteten Fluges erst zum | |
| zweiten Gig nach Frankreich schaffte, hatte schon häufiger mit Ayler | |
| zusammengespielt. Bassist Steve Tintweiss und Schlagzeuger Allen Bairman | |
| waren neu im Quintett. Die Lebendigkeit dieser Musik speist sich auch aus | |
| ihrer Großherzigkeit gegenüber dem Misslungenem. Das, was ansonsten Fehler | |
| wären, und weniger Inspiriertes werden zugelassen und in den Sound | |
| hineingeholt. | |
| Dementsprechend ist es auch schwierig, ihr mit Jazzkritiker-Maßstäben | |
| beizukommen. Man kann hören, dass Steve Tintweiss oft nicht genau weiß, wo | |
| er mit seinem Instrument hinsoll, zumal Alyers Saxofon das Geschehen fast | |
| durchweg bestimmt und anleitet (egalitär war Aylers Musik eigentlich nur | |
| auf den Alben „Spiritual Unity“ und „New York Eye and Ear Control“, dan… | |
| agierte er als Bandleader). | |
| ## Verausgabung am Saxofon | |
| Man kann die beiden Konzerte so hören wie Ayler-Biograf Wilson, als | |
| „Potpourri peinlich unsicher dargebotener Themen“. Dann ist zum Beispiel | |
| Cobbs’ Ansatz, die wildesten Improvisationen im viertelstündigen „Spirits�… | |
| mit melodiösem Geplinker zu ummanteln, ein fehlgeleiteter Versuch, all die | |
| Ausbrüche in ein Korsett zu zwängen. | |
| Oder, man nimmt ihn als das, was er, vielleicht, schlicht und einfach war: | |
| der Versuch eines Pianisten auf der Bühne, die musikalische Form zu wahren, | |
| während Albert Ayler sich an seinem Saxofon verausgabte, als wäre es das | |
| letzte Mal. Was es in gewisser Weise auch war. Mit der Verabschiedung | |
| Aylers am zweiten Abend sind seine wohl letzten aufgenommen Sätze | |
| dokumentiert: „I would say something, but I can’t talk. I’ve been blowing | |
| so hard.“ | |
| Wenn man diese Aspekte erst einmal nicht mehr als Defizite, sondern als | |
| Spannungen begreift, zeigt sich die als religiös codierte Liebe, die diese | |
| Musik transportieren soll, als Ausdruck eines radikalen Humanismus durch | |
| Sound. Dieser ist nicht so sehr in den pamphlethaften Texten hör- und | |
| spürbar, die Maria Parks singt. | |
| Aber immer wenn die Band sich an den zwei Abenden auf dem Hügel in der | |
| Fondation Maeght hineinsteigert, ist der radikale Humanismus da und man | |
| fängt an, den Behauptungen zu glauben: „Truth Is Marching In“, „Spirits | |
| Rejoice“ und natürlich „Music is the Healing Force of the Universe“. | |
| Die einzige Ansage Aylers bei der Vorbereitung sei „You start off with the | |
| bass and I’ll come in and we’ll take it from there“ gewesen, erinnert sich | |
| Tintweiss. Alle Stücke, die Klassiker wie auch die damals aktuellen, wenn | |
| man so sagen kann, poppigeren, lassen diese befreite und befreiende Haltung | |
| hören. | |
| 8 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benjamin Moldenhauer | |
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