# taz.de -- Jazzfestival Moers und Corona: Feilen an den Sprachen des Jazz | |
> Teils live, teils im Stream: Das Jazzfestival Moers lotetete über | |
> Pfingsten die Vielfalt des freien Jazz und der improvisierten Musik aus. | |
Bild: Am Samstag trat beim Jazzfest Moers Julien Desprez auf, in der Festivalha… | |
„Diese schräg aussehenden Typen taten am Ende auch nichts anderes als sie | |
selbst. Sie tranken Bier und aßen Pommes. Manchmal machten sie allerdings | |
auch höllischen Lärm.“ Mit diesen Worten beschreibt der | |
[1][Free-Jazz-Pionier Peter Brötzmann] den anfänglichen Argwohn der Bürger | |
im niederrheinischen Moers, als dort 1972 das erste New Jazz Festival | |
stattfand und Horden von jungen Leuten in das beschauliche Städtchen | |
einfielen. | |
Der aus Wuppertal stammende Tenor-Berserker Brötzmann hatte zusammen mit | |
dem Moerser Konzertveranstalter Burkhard Hennen die Idee, mit dem Festival | |
dem in Deutschland gerade neu entstehenden Free Jazz eine größere Bühne zu | |
geben. Der freie Jazz war es immerhin, der junge europäische Musiker dazu | |
zwang, ihre erste eigene Jazzsprache zu entwickeln und sich aus dem | |
Klammergriff ihrer amerikanischen Vorbilder zu lösen. | |
Seit fast einem halben Jahrhundert gilt das Moers Festival nun schon immer | |
zu Pfingsten als Treffpunkt der musikalischen Avantgarde, der unerwarteten | |
Experimente und Kooperationen. Es hat politische Untiefen durchschwommen, | |
harsche Sparmaßnahmen überstanden, wurde angefeindet und hat sich trotzdem | |
immer wieder neu erfunden. [2][2020 fand Moers komplett digital statt], | |
auch bei der aktuellen 50. Ausgabe hatte man mit den Folgen der | |
Coronapandemie zu kämpfen. Deshalb und aus dem Selbstverständnis heraus, | |
ein politisches Festival sein zu wollen, hieß das Motto 2021 „Der Kampf um | |
die Zukunft“. Unter dem Titel „We insist!“ wurde debattiert über die Fra… | |
wie politisch Kunst und Festivals im Besonderen heute sein müssen. Fragen, | |
die das Moers Festival seit den Anfangstagen umtreiben. | |
Die Konzerte liefen bei Arte im Livestream. Aber immerhin vier Abendshows | |
mit je zwei Acts konnten mit begrenztem Publikum live draußen am | |
sogenannten Rodelberg stattfinden, einer Wiese mit Anhöhe und der | |
Beschaffenheit eines Amphitheaters. Hybrides Denken zwischen analogen und | |
digitalen Angeboten dürfte auch angesichts des Klimawandels die | |
Ausgangslage sein für künftige Festivalplanungen, auch jenseits der | |
Pandemie, nicht nur in Moers und nicht nur in der Musik. | |
## Titanen der Jazzgeschichte | |
Am Rodelberg spielten am ersten Festivaltag mit der französischen | |
Kontrabassistin Joëlle Léandre und dem New Yorker Schlagzeuger Gerald | |
Cleaver gleich zwei Titanen des freien Jazz. Am späteren Abend – | |
glücklicherweise immer noch regenfrei – kam zum ersten Publikumskonzert mit | |
dem Saxofonisten und Trompeter Joe McPhee, Jahrgang 1939, ein weiterer | |
Altmeister hinzu. Seit zwei Jahren kooperiert der Amerikaner mit dem | |
deutlich jüngeren Londoner Improv-Jazz-Trio Decoy. Hammondorgel, Bass und | |
das variable offene Spiel von Drummer Hamid Drake ergänzen sich wie | |
selbstverständlich mit McPhees Saxofonarbeit, die viel aus altem Blues | |
schöpft. Eine Musik zwischen Entspannung, Energie und einer | |
leidenschaftlich gesungenen Beschwörung zum Tod von John Coltrane 1967. | |
Die Planung eines Festivals erfordert in pandemischen Zeiten ständiges | |
Anpassen an neue Bedingungen. „In den letzten sechs bis acht Wochen vor dem | |
Start wurden zwei Drittel des Programms wieder umgeworfen“, erklärte der | |
künstlerische Leiter Tim Isfort. Improvisation als zentrales Element des | |
Jazz ist unter diesen Umständen auch auf der organisatorischen Ebene | |
gefragt. Dass dies aber nicht automatisch nur Rückschläge wie | |
Konzertabsagen sein müssen, zeigte die kurzfristige Buchung von | |
[3][Pianostar Brad Mehldau.] Der Amerikaner spielte in der mit grünen | |
Ballons ausgeschmückten Festivalhalle, zwischen Weltraum- und | |
Hippieästhetik, ein sehr fokussiertes Solokonzert, unter anderem mit | |
seinen Bearbeitungen von Popsongs wie etwa von Radiohead. | |
Als weiterer großer Name im Programm gab Gitarrist John Scofield am Samstag | |
ein entspanntes Soloset mit eingängig interpretierten Jazzklassikern von | |
Miles Davis und John Coltrane sowie der anrührenden Folkballade „Danny | |
Boy“. Mit gut 500 Menschen war der Rodelberg an diesem Abend ausverkauft | |
und Scofield dürfte der einzige Musiker während der vier Festivaltage | |
gewesen sein, der eine Zugabe spielen durfte. | |
## Hungrig auf echte Livemusik | |
Ansonsten galten auch wegen der Livestreams strikte Ablaufpläne und | |
natürlich die Schnelltests für alle KünstlerIinnen, JournalistIinnen, | |
BesucherIinnen und sonstigen Gäste. Am Rodelberg achteten Festivalordner | |
und Ordnungsamt auf die Einhaltung der AHA-Gebote. Das nimmt man klaglos | |
hin, hungrig auf echte Livemusik. Nur auf die nach den Konzerten | |
abgefeuerten Beifallssalven per Knopfdruck über die Hausanlage hätte man | |
gern verzichtet. | |
Corona war es dann auch, das dem geplanten Fokus auf Musik aus Äthiopien | |
den Garaus gemacht hat. Das soll im nächsten Jahr nachgeholt werden. Die | |
Öffnung für die Musik aus Afrika und Asien ist bereits seit vielen Jahren | |
Teil des Moers Festivals. Immerhin drei Bands aus Kongo, Uganda und | |
Äthiopien konnten kommen: Der Tänzer Melaku Belay und seine Band Fendika | |
aus Addis Abeba bedienen sich der alten Azmari-Tradition Äthiopiens. Die | |
elektrisch verstärkte Laute Krar und die einsaitige Masenko, eine Art | |
rudimentärer Geige, bauen immensen Druck und Energie auf. Schön anzusehen | |
auch, wie sich die vier Musiker in traditioneller Kleidung in bester | |
Rockposer-Manier gegenseitig anfeuern. | |
Ein echtes Highlight war auch der energetische Auftritt der | |
[4][ugandisch-englischen Formation Nihiloxica] am Rodelberg. Die uralten | |
Rhythmen des vorkolonialen Königreichs Buganda treffen hier auf die harsch | |
schleifenden, maschinellen Sounds dunklerer Technospielarten. Die vier | |
Perkussionisten inklusive Sänger aus Uganda sowie ein Schlagzeuger und | |
Keyboarder aus London zeigten, wie viel Kraft, Seele und zwingend tanzbare | |
Energien eine Begegnung zwischen vermeintlich so konträren Kultur- und | |
Zeiträumen erzeugen kann. | |
Das Abschlusskonzert bestritt mit dem Gitarristen Fred Frith in der | |
Drei-Gitarren-Formation Back to Basics dann ein Urgestein des Festivals. | |
Eine Musik zwischen Freiheit und loser Komposition und einer Portion | |
höllischem Lärm, ganz im Geiste der fast 50-jährigen Festivalgeschichte. | |
25 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
York Schaefer | |
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