| # taz.de -- Beginn des Bosnienkriegs vor 30 Jahren: Hilflos, unklar und teils v… | |
| > Am 6. April 1992 begann der Krieg in Bosnien. Die diffuse Haltung der | |
| > deutschen Gesellschaft diesem Land gegenüber hat sich bis heute nicht | |
| > geändert. | |
| Bild: 14. Mai 2021: Frauen am Mahnmal in Potočari, das an die 1995 in Sebrenic… | |
| Wenn Bundespräsident Steinmeier vor dem Ausbruch des Ukrainekrieges vom | |
| Frieden in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg redete, dann bedeutete dies | |
| eine Beleidigung der Opfer des zehn Jahre währenden Krieges im ehemaligen | |
| Jugoslawien, der über 100.000 Todesopfer gekostet hat. Der begann 1991 in | |
| Slowenien und endete 2001 in Mazedonien. Und hatte seine Kulminationspunkte | |
| in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Wie kann man das vergessen? | |
| Vielleicht weil viele in Deutschland diesen Krieg einfach verdrängen? Weil | |
| vor allem der Bosnienkrieg als regionaler „Bürgerkrieg“ klassifiziert wird? | |
| Bosnien-Herzegowina war aber zuerst Opfer einer serbischen und ab 1993 auch | |
| einer kroatischen Aggression. Als im Sommer 1992 schwer bewaffnete | |
| serbische Truppen über 60 Prozent des Landes eroberten und die Verbrechen | |
| der „ethnischen Säuberungen“ begingen – zehntausende Zivilisten wurden | |
| schon damals getötet, Frauen vergewaltigt, Konzentrationslager errichtet, | |
| zwei Millionen Menschen aus den eroberten Gebieten vertrieben –, löste das | |
| keinen umfassenden Schock aus. | |
| [1][Zwar nahm Deutschland über 300.000 Flüchtlinge auf], viele Deutsche | |
| engagierten und kümmerten sich, halfen den Opfern, doch den Konflikt | |
| verstehen wollten und konnten nur wenige. | |
| Verwirrend war in der Tat, dass kroatische Truppen, obwohl sie in Kroatien | |
| Krieg gegen Serbien führen mussten, 1993 ebenfalls in Mostar und | |
| Zentralbosnien mit Angriffen auf das gebeutelte Restbosnien begannen. | |
| Hinter diesen Angriffen stand die Idee der serbischen und kroatischen | |
| Nationalisten, Bosnien-Herzegowina habe kein Existenzrecht (so wie Putins | |
| Haltung zur Ukraine). | |
| ## Der Versuch, Krieg durch Religion zu rechtfertigen | |
| Die Nationalisten beider Seiten hassen die über Jahrhunderte gewachsene, in | |
| sich verwobene, multinationale und multireligiöse Gesellschaft mit vier | |
| Religionen, dem Islam, dem Katholizismus, der Orthodoxie und dem Judentum. | |
| Die bosnische Tradition ist die Antithese zu den kruden Nationalisten in | |
| Serbien und Kroatien. | |
| Schon im März 1991, vor dem Krieg in Kroatien, hatten die Präsidenten | |
| Kroatiens und Serbiens, Tudjman und Milošević, über die territoriale | |
| Aufteilung Bosnien-Herzegowinas gesprochen. Beide Seiten wollten einen Teil | |
| Bosniens herausbrechen und okkupieren. Beide Nationalisten versuchten | |
| zudem, ihren Krieg mit der Angst vor dem Islam, den bosnischen Muslimen, zu | |
| begründen. Beide Seiten finden dabei bis heute Verständnis bei | |
| konservativ-rechten Parteien und bei den islamophoben Teilen der | |
| europäischen Gesellschaften. | |
| Die Verbrechen der „ethnischen Säuberungen“ hatten also vor allem zum Ziel, | |
| die multireligiöse und multinationale Gesellschaft zu zerschlagen. Einige | |
| Journalisten, Künstler und Intellektuelle wie Susan Sontag, Peter Schneider | |
| und Bernard-Henri Lévy erkannten, dass in „Sarajevo die Werte Europas | |
| verteidigt werden, gegen Nationalismus und Barbarei“. | |
| Der Krieg und die Verbrechen in Bosnien waren eine menschliche und | |
| intellektuelle Herausforderung, der viele Linke in Deutschland nicht | |
| gewachsen waren. Was schwirrten vor 30 Jahren alles für Theorien herum, die | |
| den Blick auf die wirklichen Ereignisse und Verantwortlichkeiten im | |
| Jugoslawien- und Bosnienkrieg verstellten. Da war zunächst einmal die | |
| unselige Diskussion über die Schuld der Deutschen am Krieg in Jugoslawien. | |
| Heute kann kein ernsthafter Mensch mehr diesen Unsinn unterstützen. | |
| Ein beträchtlicher Teil aus dem Lager der Antiimperialisten und | |
| Antideutschen begann, sich mit Serbien und Slobodan Milošević zu | |
| identifizieren. Sie versuchten so wie Peter Handke die serbischen | |
| Verbrechen in Bosnien zu relativieren oder gar zu leugnen. So wurde die | |
| Existenz der Konzentrationslager in der westbosnischen Stadt Prijedor 1992 | |
| in Frage gestellt, die Verbrechen der serbischen Soldaten im Drinatal 1992 | |
| und sogar der Genozid in Srebrenica 1995. Für die überlebenden Opfer ist | |
| die fortwährende Lüge über diese Taten eine kaum zu ertragende Bürde. | |
| ## Nicht angemessener Pazifismus | |
| Die Friedensbewegung blieb in dem hilflosen Aufruf, den Frieden zu | |
| bewahren, stecken. Die pazifistische Grundhaltung ist wie heute auch in | |
| Bezug auf die Ukraine politisch nicht angemessen. Denn sie verstärkte | |
| damals das Zögern der westlichen Mächte, den Verteidigern Bosniens Waffen | |
| zu liefern. Während die serbischen Angreifer Sarajevo mit über einer | |
| Million Artilleriegranaten beschossen, hatte das von der Friedensbewegung | |
| unterstützte UN-Waffenembargo für die Verteidiger fatale Folgen. | |
| Stolz kann auch das linksliberal-grüne Milieu über ihre Haltung zu Bosnien | |
| nicht sein. Kaum jemand wollte die bosnische Tradition als | |
| zivilisatorischen „Wert an sich“ verteidigen. Während manche als | |
| Bellizisten beschimpft wurden, weil sie von Beginn an klar Position für | |
| Sarajevo bezogen hatten, verweigerte das Gros der Grünen und der Linken den | |
| Verteidigern Bosniens ihre Unterstützung. Erst nach dem Genozid von | |
| [2][Srebrenica 1995 begann ein Umdenken]. | |
| Die unklare Haltung der deutschen Gesellschaft zu Bosnien hat sich bis | |
| heute nicht geändert. Nach dem Friedensabkommen von Dayton von 1995, das | |
| die serbischen Kriegstreiber mit der Hälfte des Landes belohnte, | |
| interessierte sich Europa insgesamt nicht mehr für das Land. Dass vor der | |
| eigenen Haustür kriminelle Nationalisten unter den Augen der „westlichen | |
| Wertegemeinschaft“ autokratische Herrschaftsgebiete errichten konnten und | |
| von westlichen Diplomaten und Politikern sogar hofiert wurden, eröffnete | |
| ein politisches Vakuum, in das Russland, China und auch die Türkei stoßen | |
| konnten. | |
| Erleben wir jetzt eine Politikwende? Immerhin haben sich die serbischen und | |
| kroatischen Nationalisten [3][offen als Alliierte Putins] entpuppt. Dass | |
| der Krieg in der Ukraine heute einen realistischeren und wertegebundeneren | |
| Blick auf die Dinge auch in Bosnien eröffnet, wäre zu hoffen. Allein, es | |
| fehlt der Glaube. | |
| 6 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.dw.com/de/von-willkommenskultur-keine-spur/a-19020634 | |
| [2] https://www.br.de/mediathek/video/gruene-zerreissprobe-20-jahre-nach-dem-ei… | |
| [3] /Wahlen-in-Serbien/!5845910 | |
| ## AUTOREN | |
| Erich Rathfelder | |
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