# taz.de -- „Arisierungs“-Mahnmal in Bremen: Vier Quadratmeter Wahrheit | |
> Die Bremer Logistikfirma Kühne + Nagel hat in der NS-Zeit von den | |
> Enteignungen der Juden profitiert. Nun wird ein Mahnmal eingeweiht – auf | |
> taz-Initiative. | |
BREMEN taz | Der gesetzte Mittfünfziger im dunklen Anzug wird allmählich | |
ungeduldig. „Es ist gleich viertel vor zehn, da will ich doch nicht mehr | |
über den Nationalsozialismus reden!“ Zuvor hat er, betont freundlich, für | |
[1][ein großformatiges Bauprojekt seiner Firma geworben], in bester Bremer | |
Innenstadtlage. Doch dann läuft die Sitzung im zuständigen Stadtteilbeirat | |
anders als gedacht. Uwe Bielang, der nun in Rage gerät, braucht dessen | |
Segen für die Baupläne seiner Firma, Kühne + Nagel – aber keine Debatten | |
über einen angemessenen Umgang mit der Unternehmensgeschichte. | |
Gibt es das überhaupt – einen „angemessenen Umgang“? Schwierige Frage. A… | |
es gibt durchaus so etwas wie eine Not-to-do-Liste im Umgang mit der | |
NS-Vergangenheit. Dazu gehört: Nebelkerzen werfen. Anfragen von | |
Historiker:innen abbügeln. Und darauf zu vertrauen, dass die | |
Standardbehauptung, alle Akten seien verbrannt, noch immer so gut | |
funktioniert wie früher. | |
Bielangs Firma hatte jahrzehntelang Zeit, über den Nationalsozialismus zu | |
reden. Jahrzehnte, in denen in schöner Regelmäßigkeit Firmenchroniken | |
erschienen, Anschauungsmaterial für selektive Geschichtsdarstellung. | |
Allerdings gehört die Firma nicht Uwe Bielang, er ist lediglich | |
„Regionalleiter Norddeutschland“ des drittgrößten Logistikkonzerns der | |
Welt. Dort hatte 2016, als sich die kleine Szene im Stadtteilbeirat zutrug, | |
nach wie vor [2][Klaus-Michael Kühne das Sagen], dessen Vater und Onkel die | |
Firma in den 1930er und 1940er Jahren führten. | |
## Zurückhaltung bei Kühne | |
Auch heute noch ist Klaus-Michael Kühne, mittlerweile 86 Jahre alt, weit | |
mehr als bloß Mehrheitsaktionär: Er bestimmt, was geschieht, und auch, was | |
nicht. Zur zweiten Kategorie gehört die Befassung mit der Geschichte der | |
Firma während der NS-Zeit. Insofern ist der Fall Kühne + Nagel ein | |
Anachronismus. Aber er verweist auf ein gesamtgesellschaftliches Problem: | |
die sehr zurückhaltende Auseinandersetzung mit dem unangenehmen Thema | |
„Arisierung“. | |
„Arisierung“ – so hieß im NS-Jargon die systematische Ausplünderung der | |
jüdischen Bevölkerung, deren „Erträge“ noch immer zur Erbmasse zahlreich… | |
deutscher Familien gehören. Daher wurde aus dem kleinen Eklat im | |
Stadtteilbeirat eines von zahlreichen Zwischenschrittchen auf dem Weg zu | |
einem thematisch weit größeren und damit auch langwierigeren Projekt: dem | |
Bremer „Arisierungs“-Mahnmal. Diesen Sonntag wird es eingeweiht. | |
Zeitsprung, Ortswechsel: Als Otto Frank im Juni 1945 in die Prinsengracht | |
263 in Amsterdam zurückkehrt, ist das Gebäude komplett ausgeräumt. Zwei | |
Jahre lang hatte er sich mit seiner Familie im Hinterhaus vor den deutschen | |
Besatzern verborgen. Als Einziger seiner Familie überlebte Otto Frank die | |
Verhaftung und Deportation. Seine Töchter Anne und Margot starben 1945 in | |
Bergen-Belsen. | |
Fünf Monate nach der Befreiung aus Auschwitz steht Otto Frank also in den | |
leeren Räumen – und entscheidet, d[3][as Haus in genau diesem Zustand zu | |
belassen]. „Die Leere“, schreibt die niederländische Kunsthistorikerin | |
Aukje Vergeest, „symbolisierte für ihn den Verlust seiner Angehörigen und | |
Freunde, die nicht aus den Lagern zurückgekehrt waren“. | |
70 Jahre später, im Januar 2015, feiert Kühne + Nagel ein großes Jubiläum | |
auf dem Bremer Marktplatz. In Bremen hat der Konzern seine Wurzeln. 1890 | |
wurde die Firma an der Weser gegründet, als Spedition vornehmlich für | |
Getreide, Zucker – und Möbel. Zum 125. Geburtstag nimmt sich die Firma | |
besonders viel Zeit, um History-Marketing zu betreiben: Kleine Anfänge, | |
große Erfolge, dazwischen ehrliche Arbeit und harte Zeiten im Krieg – | |
dieser Erzählung applaudierte auch die bremische Politprominenz. Für vieles | |
ist in dieser Geschichts-Show kein Platz – auch nicht [4][für Adolf Maass, | |
den 1933 aus der Firma gedrängten jüdischen Anteilseigner]. | |
Klaus-Michael Kühne kündigt anlässlich des Jubiläums an, Bremen mit einem | |
Neubau des Stammsitzes zu beglücken. Ein „Bekenntnis zum Standort“ sei das. | |
1969 hingegen hatten die Kühnes nicht lange gezögert, mit ihrer Zentrale in | |
die Schweiz zu ziehen. Willy Brandts Kanzlerschaft drohte und mit ihr die | |
Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung. Selbstverständlich sei es auch um | |
die günstigeren Steuersätze gegangen, erklärt Kühne freimütig – bei ande… | |
Gelegenheit. Heute gilt Kühne als reichster Einwohner der Schweiz. Da er | |
einen Teil der Steuerersparnisse als Mäzen ausschüttet, ernennt der | |
Hamburger Senat Kühne 2007 zum Ehrenprofessor. Er ist auch Sponsor des HSV. | |
Otto Frank 1945 in der Prinsengracht, Klaus-Michael Kühne 2015 auf dem | |
Bremer Marktplatz: Es gibt keine konkret nachweisbare Verbindung zwischen | |
den beiden Männern an den jeweiligen Orten. Aber eine strukturelle: Beide | |
betrifft, freilich in diametral entgegengesetzter Weise, die Totalität der | |
sogenannten „Verwertung“ jüdischen Eigentums. | |
Diese strukturelle Verbindung beginnt unmittelbar nach der Verhaftung der | |
Franks. Wie überall, wo die Wehrmacht der Gestapo den Boden bereitet hat, | |
wie überall, wo jüdische Menschen fliehen müssen oder deportiert werden, | |
wird deren Besitz restlos eingesammelt und der „Verwertung“ zugeführt. In | |
Amsterdam ist dabei vor allem die Spedition Abraham Puls aktiv – derart | |
aktiv, dass das Verb „pulsen“ für das Ausräumen jüdischer Wohnungen | |
erfunden wird. | |
Abraham Puls erhöht sein Auftragsvolumen, indem er versteckte Jüdinnen und | |
Juden an die Besatzer verrät. Nach dem Krieg wird er zum Tod verurteilt. | |
Ganz anders ist der Umgang in Deutschland: Puls’ Geschäftspartner, die | |
Brüder Alfred und Werner Kühne – Parteimitglieder und mehrfach mit dem | |
„Gau-Diplom“ für ihren „nationalsozialistischen Musterbetrieb“ | |
ausgezeichnet – bekommen das Bundesverdienstkreuz. Auch bei Kühne + Nagel | |
soll es Prämien für Hinweise auf jüdische Wohnungen gegeben haben. | |
Im besetzten Amsterdam wird das Raubgut auf Binnenschiffe verladen, zum | |
Beispiel auf die „Damco 48“. Im Landesarchiv Oldenburg befindet sich ihre | |
Ladeliste, die alphabetisch erfasst, was zwischen dem 9. und dem 13. März | |
1943 an Bord geschafft wird. Es gibt Hunderte solcher Listen – diese sei | |
hier beispielhaft zitiert: | |
„53 Badewannen, 61 Bänke, 27 Besen, 71 Bettgestelle, 71 Stück Bettzeug, 65 | |
Rollen Bodenbelag, 56 Buffets, 15 Bügelbretter, 14 Eimer, 69 Gartentische, | |
1 Gasherd, 11 Gaskocher, 9 Gasöfen, 20 Herde, 1 Kinderwagen, 101 Kissen, 63 | |
Klubsessel, 6 Kohlenküppen, 80 Lampen, 45 Nachtschränkchen, 6 Nähkörbchen, | |
12 Nähmaschinen, 3 Petroleumkocher, 148 Schränke, 16 Spiegel, 103 Spiralen, | |
53 Ständer, 1 Staubsauger, 600 Stühle, 46 Teemöbel, 170 Teppiche, 195 | |
Tische, 53 Trittleitern, 1 Uhr, 4 Mahane, 10 Waschkessel, 148 Wandbilder, 1 | |
Möbelkoffer mit Töpfen und Bratpfannen“. | |
Die „Damco 48“ hat eine Traglast von 614 Tonnen, sie fährt unter der Flagge | |
von Kühne + Nagel. Auch die Ladeliste trägt den Firmenstempel. | |
Eine Woche vor der Beladung beginnt die Deportation der jüdischen | |
Amsterdamer:innen vom KZ Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor. | |
Möglich, dass auch der Besitz der Familie Frank auf der „Damco 48“ war: | |
Nicht die Einrichtungsgegenstände aus der Prinsengracht 263 – die werden | |
erst im August 1944 „gepulst“. Aber die Habe der Franks aus ihrer Wohnung | |
am Merwedeplein 37 II, die sie im Juli 1942 verließen, um unterzutauchen. | |
Die Gütertransporte von Amsterdam ins Deutsche Reich sind Teil der „Aktion | |
M“. „M“ steht für Möbel. Sie beginnt am 14. Januar 1942 auf Anweisung v… | |
Reichsleiter Alfred Rosenberg. Den Verantwortlichen ist bewusst, dass es | |
sich dabei nicht „nur“ de facto, sondern auch de jure um Raub handelte. Der | |
deutsche Botschafter in Paris verfasst eine Aktennotiz: „Formal-juristisch | |
ist keine Rechtsgrundlage für die Maßnahme vorhanden.“ Man müsse sich | |
vielmehr auf deren „geschichtliche Berechtigung“ berufen. Als Rosenberg | |
1946 in Nürnberg zum Tod verurteilt wird, ist seine Verantwortung für das | |
„System organisierter Plünderung öffentlichen und privaten Eigentums in | |
allen überfallenen Ländern Europas“ eine der vier aufgeführten Gründe. | |
Bis 1944 kommen bei der „Aktion M“ 735 Züge zum Einsatz, die 29.463 | |
Waggonladungen nach Deutschland bringen, sowie mindestens 580 | |
Frachtschiffe. Doch so gewaltig die Mengen auch sind, die Behörden wollen | |
mehr: Ein Prüfbericht bemängelt im September 1943 den Personalmangel, der | |
die Arbeit insbesondere „im Bereich Abtransport“ behindere. Es gebe | |
„erhebliche Rückstände“ bei der Räumung der bereits erfassten 70.000 | |
jüdischen Wohnungen und Häuser, gerade in Paris. In Lüttich wird der | |
Sicherheitsdienst angewiesen, die Verhaftung jüdischer Einwohner:innen | |
„baldmöglichst“ zu beschleunigen, damit deren Möbel „frei werden“. | |
Angesichts der Bombenschäden im „Reich“ gelten die Möbellieferungen als | |
„siegwichtig“ für die Aufrechterhaltung der Kriegsmoral. | |
Für Speditionen sind das goldene Zeiten – und Kühne + Nagel ist bei der | |
Auftragsakquise am erfolgreichsten. Die Firma gründet Niederlassungen in | |
Rotterdam, Amsterdam, Den Haag, Antwerpen, Paris, Bordeaux, Marseille, | |
Roubaix, Tourcoing, Lissabon, Triest, Mailand, Genua. Nach dem Überfall auf | |
die Sowjetunion und der Besetzung des Baltikums auch in Riga, Libau, Windau | |
– Wachstum in den Fußstapfen der Wehrmacht. | |
Übersetzt man die Liste der internationalen Filialen in Geschäftsfelder, | |
ergibt sich folgendes Bild: In Genua und Triest räumt Kühne + Nagel die | |
Wohnungen der wohlhabenden jüdischen Bevölkerung aus. Um den Auftrag, das | |
in italienischen Häfen zurückgelassene Hab und Gut der Verfolgten „heim ins | |
Reich“ bringen zu dürfen, bemüht sich Kühne + Nagel erfolgreich beim | |
Reichsfinanzminister. In Frankreich und Benelux ist die Firma vor allem für | |
den Streckentransport zuständig und erarbeitet sich dabei eine | |
monopolähnliche Position. Das baltische Geschäftsmodell von Kühne + Nagel | |
ist noch kaum erforscht, auf dem Balkan wiederum entwickelt Kühne + Nagel | |
mit der Wehrmacht das Geschäftsfeld der Militärlogistik – in dem es bis | |
heute eine führende Rolle spielt. | |
Als die taz angesichts des Jubiläumsmarketings bei Kühne + Nagel | |
nachfragte, ob es während der 1930er und 1940er Jahre nicht doch etwas mehr | |
als nur Mühsal gegeben habe, lautete die Antwort dennoch: „Diesen | |
Zeitperioden mangelt es an Relevanz für die Firmengeschichte.“ | |
Es stellte sich also die Frage: Wie ist es möglich, mehr Aufmerksamkeit auf | |
die sorgfältig umschifften Geschichtslücken zu lenken? Mehr Aufmerksamkeit | |
als allein durch Artikel und Diskussionsveranstaltungen im Rahmen der „taz | |
Salons“ generiert werden konnte? | |
Die Gelegenheit war gegeben: Kühne brauchte öffentliche Flächen für den | |
Neubau seines Stammsitzes. Was lag näher, als ebenfalls ein Kaufgebot | |
abzugeben? Für nur vier Quadratmeter. Aber das zum doppelten Preis, den | |
Kühne pro Quadratmeter zahlen sollte. Möglich war das durch ein | |
Crowdfunding, an dem sich viele taz-Genoss:innen beteiligten und das 27.003 | |
Euro einbrachte. Von nun an mussten sich die städtischen Gremien, mussten | |
sich Bürgerschaft, Baudeputation und Haushaltsausschuss mit der Frage | |
befassen: Was ist das für ein Kaufangebot der taz, was wollen die und | |
warum? Am Ende konnte Kühne zwar das Grundstück kaufen – doch die Stadt | |
beschloss ebenfalls, das Mahnmal zu bauen. | |
Schon zuvor hatte die taz einen Ideenwettbewerb ausgeschrieben: Wie kann | |
die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung visualisiert werden, wie die | |
Verdrängung dieses Geschäfts, die Verschleierung und Diffusion von | |
Verantwortlichkeit? | |
Bekannte Künstler:innen beteiligten sich, Schulklassen und | |
Privatpersonen. Der Wettbewerb löste familiäre Nachforschungen aus – denn | |
auch das Thema war gewachsen. Wir fixierten uns keineswegs auf den | |
renitenten Firmenpatriarchen, sondern fragten: Wer hatte all die Dinge, die | |
Kühne + Nagel aus den besetzten Ländern herankarrte, günstig erworben oder | |
ersteigert? | |
Eine Fachjury unter Mitwirkung der Jüdischen Gemeinde schlug das Konzept | |
„Leerstellen und Geschichtslücken“ von Evin Oettingshausen zur | |
Realisierung vor. Und tatsächlich fasste die Bremische Bürgerschaft den | |
Beschluss, den Entwurf umzusetzen. | |
Sieben Jahre später ist das Mahnmal gebaut, vis-à-vis der neuen | |
Deutschlandzentrale von Kühne + Nagel. Es besteht aus einem sechs Meter | |
tiefen Schacht, der zunächst nichts als Leere zeigt: die scheinbare | |
Abwesenheit von Geschichte, deren Vergessen und Verdrängen. Ganz unten ist | |
jedoch seitliches Licht zu sehen. Wer daraufhin die Perspektive wechselt, | |
zur Uferpromenade hinuntersteigt, erkennt an den Wänden des Schachtes | |
schemenhafte Schattenrisse: Spuren von Möbeln, von Einrichtung, von | |
zerstörten Leben. | |
Dass die Formensprache des Bremer Mahnmals eine Kongruenz zu Otto Franks | |
Entscheidung aufweist, die Prinsengracht 263 in der vorgefundenen Leere zu | |
belassen, ist auf konkreter Ebene ein Zufall. In gewisser Weise bestätigt | |
er jedoch die Angemessenheit der von Evin Oettingshausen gefundenen Chiffre | |
für die Totalität von „Verwertung“ und Existenzvernichtung. | |
„Das,Arisierungs'-Mahnmal füllt eine Leerstelle in der deutschen | |
Erinnerungskultur“, sagt Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für | |
Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. Allmählich | |
verändert sich in der Erinnerungsarbeit etwas: Nach Jahrzehnten, in denen | |
das Gedenken vermieden, auf die Opfer fixiert und an staatliche | |
Institutionen delegiert wurde, rückt nun die Notwendigkeit einer | |
Täter:innen-Adressierung in den Vordergrund – die auch die private | |
Beteiligung an der profitablen Beraubung der jüdischen Mitbürger:innen | |
klar benennt. Dafür kann das Bremer Projekt ein Beispiel sein. | |
Materiellen Hinterlassenschaften kommt, [5][angesichts des nahenden | |
Lebensendes der letzten Zeitzeug:innen], ebenfalls eine neue Rolle zu. | |
78 Jahre nach dem Holocaust übernehmen Dinge die Funktion von Präsenz, von | |
unmittelbarer und emotionaler Zugänglichkeit. Das Fehlen solcher | |
Erinnerungsstücke in jüdischen Familien ist eine schmerzlich empfundene | |
Leerstelle: die Abwesenheit von Erinnerungsankern, eine „Spurenlosigkeit“ | |
der Ermordeten. Bei den Nachkommen der Profiteur:innen scheint das | |
geraubte Eigentum dagegen nahtlos in die familiäre Erbmasse eingegangen zu | |
sein oder wird auf Flohmärkten und im Antiquitätenhandel verkauft. | |
Überall in Deutschland könnte ein „Arisierungs“-Mahnmal eingeweiht werden. | |
In Würzburg beispielsweise musste vor der Deportation ein 16-seitiger | |
Fragebogen ausgefüllt werden, der alle erdenklichen Habseligkeiten | |
erkundete: Schlafzimmer mit Zahl der Bettvorleger, Brücken, Gardinen, | |
Kopfkissen usw. – Küche mit Zahl der Kochtöpfe und Bügeleisen, das | |
Wohnzimmer einschließlich Globus, Lexikon und Papierkorb. Auch die | |
Servietten und Frottiertücher mussten aufgelistet werden, die Schlafanzüge | |
und Garnituren an Unterwäsche. Für alle Familienmitglieder ab sechs Jahren. | |
Wer zeitgenössische Zeitungen auswertet, findet Hunderte von Anzeigen, die | |
Versteigerungen und Verkäufe in Turnhallen, Gasthöfen und Vereinslokalen | |
bewarben. In Bremen fanden sie sogar im Weserstadion statt, dort wurden | |
große Mengen „gebrauchter Oberbetten, Unterbetten und Kopfkissen“ | |
angeboten. Sosehr man das Leben ihrer bisherigen Besitzer:innen | |
entwertet hatte – vor der Aneignung auch ihres intimeren Eigentums bestand | |
offenbar weder Scheu noch Scham. | |
## Renitenter Firmenpatriarch | |
Als Hafen- und Logistikstadt hatte Bremen einen besonderen Anteil an der | |
„Verwertung“ des beweglichen Hab und Guts – an der Spitze Kühne + Nagel … | |
seinen europaweiten Geschäften. Zudem profitierte Bremen als | |
Auswanderungshafen: Viele jüdische Menschen versuchten, Europa über den | |
Seeweg zu verlassen. Mittlerweile wird das auch vom [6][Deutschen | |
Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven] erforscht, denn die Umzugskisten mit dem | |
letzten Besitz landeten, statt verladen zu werden, oft auf sogenannten | |
„Juden-Auktionen“. Auch die städtischen Institutionen bedienten sich: In | |
über 40 Prozent der Neuzugänge der Bremer Staatsbibliothek des Jahres 1942, | |
insgesamt 1.600 Büchern, steht die entsprechende Abkürzung: „J. A.“. | |
Und wie steht es nun mit dem renitenten Firmenpatriarchen – dessen Renitenz | |
immerhin zu der viel größeren Frage führte, wie wir gesamtgesellschaftlich | |
mit dem „Arisierungs“-Erbe umgehen wollen? | |
Angesichts der fortgesetzten Recherchen räumte Kühne + Nagel irgendwann | |
ein, für den NS-Staat „Güter jüdischer Eigentümer transportiert“ zu hab… | |
was man auch bedauere. Allerdings sei „unklar“, ob das Unternehmen | |
„wissentlich und willentlich“ gehandelt habe oder ob es einen | |
„kulturpolitischen Zusammenhang“ gegeben habe. Letzteres klingt kurios – | |
ist jedoch ein unfreiwilliger Verweis auf die Verwicklung der Firma in den | |
Abtransport von Kulturgütern. Unter anderem brachte Kühne + Nagel wertvolle | |
Bibliotheksbestände von Frankreich nach Frankfurt am Main. Auftraggeber: | |
Die NSDAP, die eine „Hohe Schule“ für die Führungskader plante. | |
Die Akten, die über derartige Geschäfte Auskunft geben, sind in | |
öffentlichen Archiven auffindbar. Doch mit hoher Wahrscheinlichkeit enthält | |
auch das Firmenarchiv einschlägiges Material – obwohl Klaus-Michael Kühne | |
den Topos, alles sei im Krieg verbrannt, noch heute wiederholt. | |
Was daran stimmt: Der Bremer Firmensitz wurde 1944 zerbombt. Aber bereits | |
1943 hatte Kühne + Nagel sein Zentralkontor nach Regensburg, dann nach | |
Konstanz verlagert. Auch weist das Verzeichnis Deutscher Wirtschaftsarchive | |
ein „Firmenarchiv Kühne & Nagel“ aus: mit Beständen ab 1902 und der | |
Inhaltsangabe „Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, | |
Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der | |
Geschäftsleitung“. | |
Diese Genehmigung steht nach wie vor aus. | |
Klaus-Michael Kühne hat eine konkrete Vorstellung vom richtigen Zeitpunkt, | |
zu dem über den Nationalsozialismus zu sprechen sei. „Ich hätte“, sagt er | |
in einem Interview, „dafür Verständnis gehabt, wenn man sich nach dem Krieg | |
damit befasst hätte, in den 50er-, 60er-Jahren“. Nicht aber, „nachdem so | |
viel Zeit vergangen war“. Seit 1963 ist er persönlich haftender | |
Gesellschafter der Firma. | |
Für Barbara Maass ist es, was die Bedeutung der Zeit angeht, umgekehrt. Sie | |
lebt in Montréal und ist eine Enkelin des beim Jubiläum ausgesparten | |
früheren Anteilseigners von Kühne + Nagel, Adolf Maass. 1944 wurde der | |
zusammen mit seiner Frau Käthe in Auschwitz ermordet. „Ich habe viel Zeit | |
gebraucht, bevor ich mich mit dem Schicksal meiner Großeltern | |
auseinandersetzen konnte“, sagt sie. Nun kommt sie zur Mahnmal-Einweihung | |
nach Bremen. Klaus-Michael Kühne wird sie dort nicht treffen. | |
Henning Bleyl initiierte als Kulturredakteur der taz Bremen 2015 das | |
„Arisierungs“-Mahnmal. Seit er 2016 zur Heinrich-Böll-Stiftung wechselte, | |
engagiert er sich zusammen mit Evin Oettingshausen ehrenamtlich für die | |
Umsetzung des Projekts. | |
Einweihung Am 10. September wird das „Arisierungs“-Mahnmal in Bremen | |
eingeweiht. Das Programm finden Sie unter [7][taz.de/mahnmal]. | |
9 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-Firmenzentrale-in-Bremen/!5273253 | |
[2] /Ex-Pastor-ueber-Klaus-Michael-Kuehne/!5927269 | |
[3] https://www.annefrank.org/de/ | |
[4] /Bremer-Protest-gegen-NS-Verdraengung/!5302261 | |
[5] /Holocaust-Ueberlebende-als-Zeitzeugen/!5827548 | |
[6] https://www.dsm.museum/pressebereich/dsm-bringt-datenbank-fuer-geraubtes-ju… | |
[7] /Bremer-Mahnmal-zur-Arisierung/!t5318116 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
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