Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abschottung der Europäischen Union: Retter in Not
> Die Schiffe liegen an der Kette. Auf Malta sind Flüchtlingsretter zum
> Nichtstun verurteilt. Keiner will die Migranten aufnehmen.
Bild: Protest am Hafen von Valetta auf Malta gegen das Auslaufverbot von Rettun…
Berlin/Valetta taz | In einer Nacht im vergangenen Winter, wenige Tage vor
Weihnachten, steht Ruben Neugebauer, 28 Jahre alt, an der Theke der
Tennis-Bar in Berlin-Neukölln, es gibt Gin Tonic und Weißwein, aber
Neugebauer hadert. Am nächsten Tag wird in dieser Zeitung das erste große
Porträt über ihn erscheinen. Er wird darin die „umtriebigste Person der
deutschen Bewegungsszene“ genannt, es wird dort stehen, dass er die
Seerettungs-NGO Sea-Watch aufgebaut hat, ihr „Sprecher, Koordinator und
Krisenmanager“ ist und dass er sogar selbst über das Mittelmeer fliegt, um
Schiffbrüchige zu suchen. Eigentlich widerstrebe es ihm, so im Mittelpunkt
zu stehen, sagt Neugebauer seinen Freunden an diesem Abend.
Zwei Jahre hatte er Sea-Watch auch ohne diese Art persönlicher Geschichten
in den Medien halten können, sogar der US-Sender CNN schaltete ihn live per
Skype aus seinem Berliner WG-Zimmer ins Studio. „Aber das Einzige, was
jetzt noch funktioniert, ist, wenn Leute von uns sich porträtieren lassen“,
klagt er. Die Redaktionen hätten ansonsten das Interesse verloren. „Die
Geschichte ist auserzählt, sagen sie.“
Aber die Geschichte der Retter im Mittelmeer, von Leuten wie Neugebauer,
von Medizinstudentinnen aus Kassel und Unternehmensberatern aus Schwaben,
von Musiktherapeuten aus Westfalen und Freizeitskippern aus Hamburg, von
den normalen und nicht so normalen Leuten, die die Nachrichten über die
Toten nicht aushalten und deshalb selbst in See stechen; getrieben von
Idealismus, gehasst von den Rechten und betroffen davon, dass sie manchmal
zu spät kommen: Diese Geschichte ist nicht auserzählt. In diesen Tagen
erreicht sie einen Punkt, den so niemand vorhergesehen hat – dass Europa
die Unerwünschten eher ertrinken als einreisen lässt.
„Es gibt plötzlich zwei Meinungen darüber, ob man Menschen, die in
Lebensgefahr sind, retten oder lieber sterben lassen soll“, schreibt am
Freitag der Süddeutsche-Zeitung-Redakteur Wolfgang Luef. Dies sei „der
erste Schritt in die Barbarei“. Luefs Worte machen schnell Furore. Aber sie
treffen die Sache nicht ganz. Zwei Meinungen darüber, die gab es schon
lange. Aber die, die finden, dass man besser nicht rettet, haben jetzt die
Macht. Sie haben eine Situation geschaffen, in der sie diese Ansicht nicht
nur offen äußern, sondern auch ganz ungeniert umsetzen können.
## Die „Sea Watch 3“ darf nicht mehr auslaufen
Noch vor Kurzem war das Bizzina-Hafenbecken östlich von Maltas Hauptstadt
Valletta fest in der Hand eines knappen Dutzends Rettungsschiffe. Malta war
die Basis der überwiegend deutschen Gruppen, die sie betrieben. Hier
mieteten und betankten sie ihre Schiffe, hier hockten die Freiwilligen am
Abend und grillten im Schatten der Dockgebäude. Doch an diesem Nachmittag
ist nur noch die „Sea-Watch 3“ übrig. Neben ihr liegt ein graues
Kriegsschiff der britischen Marine. Es ist Teil der neuen Themis-Mission
der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
24 Stunden vorher anmelden, Ausweiskontrolle, Unterschrift: Auf die
„Sea-Watch“ kommen BesucherInnen nicht mehr einfach so. Ein junger Mann mit
Funkgerät erscheint. „Bitte hier eintragen“, sagt er und nimmt eine in
Folie gehüllte Liste von einem Haken. „Sie auch.“ Er hält einem Besucher
mit weißem Kurzarmhemd, der gerade über die Gangway kommt, einen
Kugelschreiber hin. Holländische Kontrolleure sind am Morgen zu einer
unangekündigten Inspektion nach Valletta geflogen. Jetzt untersuchen sie
die „Sea-Watch“. „Die Situation ist gerade ein bisschen angespannt“, sa…
der Mann mit dem Funkgerät, es klingt fast entschuldigend.
## Martin Kotel sollte Menschen retten. Jetzt wartet er
114 Menschen ertrinken am 1. Juli vor Tripolis. An ebendiesem Tag bekommt
die „Sea-Watch“-Kapitänin Pia Klemp von der maltesischen Hafenbehörde eine
Mail: Das Auslaufen sei untersagt, steht darin. Auch die Schiffe „Lifeline“
und „Seefuchs“ sowie das Suchflugzeug „Moonbird“ können nicht starten.…
Regierung erklärt knapp, sie müsse „sicherstellen, dass alle, die unsere
Häfen nutzen, nationale und internationale Standards einhalten“. Warum gibt
es daran Zweifel? Und warum jetzt? „Das wüsste ich auch gern“, sagt der
Mann im weißen Kurzarmhemd. Er arbeitet für das UN-Flüchtlingswerk UNHCR.
Bis vor Kurzem war er in Afghanistan im Einsatz. Jetzt vertritt er
Hochkommissar Filippo Grandi auf Malta. „Ich bin hergekommen, um zu
verstehen, was hier vor sich geht“, sagt er.
Das Sterben nicht verhindert haben Europas Mächtige schon seit Jahren,
trotz des Einsatzes der Frontex-Schiffe im Mittelmeer. Es gab immer
Erklärungen, warum es bis heute trotzdem 30.000 Ertrunkene gab: zu wenig
Schiffe, Koordinationsprobleme, Streit um die Zuständigkeit, Versäumnisse,
Unklarheiten. Wer wollte, konnte das glauben und sich so das Zutrauen in
das gute, integre Europa erhalten. Heute ist für diesen Glauben nicht mehr
viel übrig. Im Juni durften die vollbesetzten Rettungsschiffe „Aquaris“ und
„Lifeline“ keine italienischen Häfen mehr ansteuern. Kapitän Claus-Peter
Reisch steht in Malta vor Gericht. Ähnliches gab es auch in der
Vergangenheit. Doch dass die, die retten wollen, allesamt an der Kette
liegen, während Hunderte ertrinken: das ist neu.
22 Freiwillige gibt es auf der „Sea-Watch“. Einer davon ist Martin Kolek,
ein Musiktherapeut aus Westfalen. Er trägt ein blaues T-Shirt, die orangen
Shorts haben fast dieselbe Farbe wie sein Bart. Er sieht aus, als habe er
sein halbes Leben auf See verbracht, dabei ist dies erst sein zweiter
Einsatz. Der erste liegt zwei Jahre zurück. Damals musste Kolek Dutzende
Leichen bergen, Nachrichtenagenturen schickten ein Bild um die Welt, das
ihn auf dem Meer mit einem toten Baby im Arm zeigte. Um mit dem Erlebten
fertig zu werden, reiste er nach Italien, besuchte Gräber der von ihm
geborgenen Ertrunkenen, suchte den Kontakt zu ihren Angehörigen. 2017 gab
er im Selbstverlag ein Buch über das Geschehene heraus.
Auf Leichen hatte Kolek sich jetzt eingestellt, auf das Ausfahrverbot
nicht. „Ich hätte das definitiv nicht für möglich gehalten“, sagt er. Er
hat Schwierigkeiten dieses Gefühl zu artikulieren. „Wir leben in einer
hochtechnisierten Kultur, die sich für hochdemokratisch hält“, sagt er
dann. „Aber diese Kultur, ihre Gremien, ihre Technik, ihre Verwaltung, alle
demokratisch kontrolliert, die werden jetzt benutzt, um vorsätzlich
unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge zu begehen“, so sieht er das.
Auf dem Flughafen von Valletta drängen sich junge Sprachurlauber am
Gepäckband, die Füße in Flipflops. Rollkoffer klappern über die Fugen der
Bodenplatten. 8.000 Touristen kommen Anfang Juli im Schnitt an jedem Tag
hier an, 83 Flugzeuge bringen sie her und fliegen sie wieder weg. Ein
Flugzeug aber bleibt am Boden: Es steht am Rand des Rollfelds, eine weiße,
einmotorige Cirrus SR22, sie trägt die Kennung HB KMM. Sea-Watch hat sie im
letzten Jahr in der Schweiz geleast und „Moonbird“ getauft.
## Maria Drenk darf nicht nach Schiffbrüchigen suchen
Maria Drenk ist eine hochgewachsene junge Frau, sie lebt in Köln und wartet
dort auf einen Studienplatz für Medizin. Auf Malta ist sie für die
„Moonbird“-Mission verantwortlich. Es ist ihr dritter Einsatz. An einem
Sonnentag mit ruhigem Meer, einem Tag wie heute, hätte Drenk einen
signalfarbenen Overall anziehen sollen und eine Rettungsweste. Mit einem
der ehrenamtlichen Schweizer Piloten hätte sie die Wettervorhersage gelesen
und dann eine Mail an das Tripoli Air Control Center, die libysche
Luftaufsicht, geschickt, mit Flugdaten, Flugzeit, Koordinaten. Dann wäre
der Tankwagen gekommen, der Fahrer hätte die Zapfpistole in die Flügeltanks
gesteckt und 300 Liter Treibstoff hineingepumpt. Drenk hätte auf dem Sitz
neben dem Piloten Platz genommen, sie hätten die Starterlaubnis abgewartet
und wären abgehoben.
Knapp 350 Stundenkilometer schafft die „Moonbird“. 350 Kilometer sind es
bis an den Rand der libyschen Hoheitsgewässer. Östlich von Tripolis wären
sie eingeschwenkt, dann immer entlang der Küste geflogen, bis kurz vor
Tunesien, drei Stunden, in 300 Meter Höhe. Drenk hätte Ausschau gehalten,
vielleicht auf gut Glück, vielleicht gezielt an Orten, von denen ein Notruf
abgesetzt wurde. 100 Quadratkilometer kann ein Schiff in der Stunde
absuchen, mehr als 1.000 schafft die „Moonbird“. An der Rettung von 21.000
Menschen sei das Flugzeug im vergangenen Jahr beteiligt gewesen, 1.000
wären ohne das Flugzeug gestorben, erklärt die Organisation Sea-Watch.
2.000 Euro kostet ein solcher Suchflug, das meiste davon zahlt die
Evangelische Kirche. Dutzende solcher Flüge hat Drenk bei ihrem ersten
Einsatz im letzten Jahr absolviert. Gleich zu Beginn hat sie damals vier
Boote entdeckt, keines sei der Rettungsleitstelle in Rom bekannt gewesen.
„In einem saßen 130 Menschen, es war kurz davor zu sinken, das Innere war
praktisch ein Swimmingpool“, sagt sie.
Jetzt aber ereilt Drenk das gleiche Schicksal wie den Freiwilligen Kolek
auf der „Sea-Watch“. Vor einigen Tagen schickte die maltesische
Luftaufsicht eine Mail: „No permit will be issued for any SAR operation,
unless this is done […] on request by a neigbouring country.“ Die
„Moonbird“ dürfe also nur noch abheben, wenn die Libyer sie für Suchflüge
anfordern. „Seit dem letzten Jahr machen wir diese Flüge als privates
Suchflugzeug. Für die Libyer war immer ausreichend, dass wir uns jeweils
mit Flugplan angemeldet haben“, sagt Drenk. „Eine solche ‚Anforderung‘ …
nicht nötig, davon war nie die Rede.“
Drenk ist sich sicher, dass das Startverbot politisch motiviert ist: „Die
wollen da unten keine Augen haben“, sagt sie. „Jetzt sind die Toten nur
Zahlen. Damit kommt die Öffentlichkeit klar. Wenn wir aber hinfliegen
könnten, um wenigstens Bilder zu machen, bekommen sie Gesichter. Dann hat
die Politik ein viel größeres Problem.“ Es sei kein Zufall, dass
ausgerechnet jetzt, nach der Wahl des rechtsextremen italienischen
Innenministers Matteo Salvini, alle Schiffe und das Flugzeug lahmgelegt
wurden, sagt Drenk. Die Seenotretter seien mit der Regierung von Malta
immer gut ausgekommen. „Aber die kriegt jetzt Druck von Italien.“
Dem „Lifeline“-Kapitän Reisch wird vorgeworfen, sein Schiff sei nicht
ordnungsgemäß registriert gewesen: Der Eintrag im niederländischen
Freizeitbootregister berechtige nicht, mit niederländischer Fahne in
internationalen Gewässern zu fahren, argumentiert die Staatsanwaltschaft.
Reischs Anwälte weisen dies zurück.
## Die Zahl der Ertrunken steigt immer weiter
Am Freitag letzter Woche schaltet sich das Hauptquartier des
Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Genf ein. Die Zahl der Ankünfte in Europa
sei „drastisch gefallen“, sagt Sprecher Charlie Yaxley. 45.700 Menschen
kamen seit Beginn des Jahres. 2016 waren es noch fünfmal so viele.
Gleichzeitig steige die Rate der Toten immer weiter an: Im ersten Halbjahr
2017 ertrank ein Mensch je 38 Ankommenden, im ersten Halbjahr 2018 war es
einer von 19 und im Juni diesen Jahres einer von 7. Man muss sich das klar
machen: Einer von sieben, die in heute Libyen ins Boot steigen, kommt
niemals an. „Und in diesen Tagen beginnt die Hochsaison für die
Überfahrten“, sagt Yaxley. Es sei von „absoluter Dringlichkeit und ein
Gebot des Seerechts“, Lebensrettung zuzulassen.
Doch was heißt das für den kleinen Inselstaat Malta, auf den jetzt alle
schauen?
Lange hatte Malta mit der Ankunft vieler Flüchtlinge zu kämpfen. Die Zahl
der Menschen, die die anderen EU-Staaten abnahmen, war nicht der Rede wert.
2014 sicherte Italien dem Inselstaat schließlich zu, auch jene Flüchtlinge
zu übernehmen, die in dessen Rettungszone aufgenommen würden. Offiziell
bestätigt haben die beiden Länder diese Übereinkunft nie.
Seit dem 27. Juni scheint das alles Geschichte zu sein. An diesem Tag
beendete die Odyssee des Schiffes „Lifeline“ die Übereinkunft. Es war das
zweite mit Flüchtlingen voll besetzte Schiff, das Italiens neue Regierung
abwies. Sie will, dass die Schiffbrüchigen zurück nach Libyen gebracht
werden. Doch das lehnen die Hilfsgruppen strikt ab, weil denen dort
Misshandlung und Gefangenschaft drohen. Das erste abgewiesene Schiff, die
„Aquaris“ der deutschen Gruppe SOS Mediterranee, durfte nach tagelanger
Irrfahrt mit 629 Menschen an Bord am 17. Juni in Spanien anlanden. Die
„Lifeline“ musste in Malta andocken. Die dortige Regierung fürchtete einen
Präzedenzfall. In den 72 Stunden vor der Ankunft der „Lifeline“ setzte man
alle Hebel in Bewegung, damit die 233 an Bord befindlichen Flüchtlinge in
andere EU-Staaten weiterreisen.
Was die ganze EU seit Jahren nicht zuwege bringt – einen funktionierenden
Verteilmechanismus –, musste Malta ganz allein für sich aushandeln, ein
Land etwa so groß wie Duisburg. „Eine wahnsinnige Herausforderung war das“,
sagt ein Beamter aus dem Stab von Regierungschef Joseph Muscat. Malta hätte
die 230 Menschen vermutlich auch selbst aufnehmen können, wahrscheinlich
könnte man auch 1.230 unterbringen. Aber dann, irgendwann, wäre
unbestreitbar Schluss.
## Malte von Italiens neuer Rechts-Regierung alleine gelassen
Es gab Tage im letzten Jahr, da haben die Rettungsschiffe 5.000 Menschen
aus dem Mittelmeer geholt und nach Italien gebracht. „Alle in Europa sagen
jetzt: Unser Land zuerst. Was sollen wir da tun?“, sagt ein maltesischer
Beamter.
Italien, heiß es in Regierungskreisen in Valletta, sei der wichtigste
Alliierte gewesen. Doch der ist nun weg. Auch wenn es keiner offen
ausspricht: Natürlich ist das der Grund für die Blockade der Seeretter –
und nicht, dass irgendwelche Registrierungen fehlerhaft sind. Malta war
ihre Basis, solange die Flüchtlinge woandershin konnten: ins
sozialdemokratisch regierte Italien. Aber jetzt sind in Rom andere am
Drücker – und auch anderswo. „Es ist ja nicht nur Salvini“, sagt ein
maltesischer Beamter. Auch andere EU-Staaten seien nicht glücklich damit
gewesen, was die Flüchtlingshelfer getan haben. Und jetzt sei der Druck
eben zu stark.
Die neue Achse Rom–Wien–München–Budapest–Visegrád, sie hat sich
durchgesetzt, bis in den tiefsten Süden des Kontinents. Und so weiß
niemand, ob und wann die Seeretter wieder ausrücken dürfen. Denn einen
Plan, wo die nächsten 230 Flüchtlinge, die sie retten würden, hinsollen,
den hat hier keiner.
Je rauer der Ton der Politik gegen die Seeretter wird, desto mehr
Unterstützung gibt es von Prominenten. Jan Böhmermann sammelte in wenigen
Tagen über 140.000 Euro für die Anwälte des angeklagten „Lifeline“-Kapit…
Reisch. Der Fernsehmoderator Klaas Heufer-Umlauf dreht für seine 1,8
Millionen Twitter-Follower ein Video. Man möge Geld spenden, damit die
Seeretter neue Schiffe chartern können, um die Blockade zu umgehen.
„#Civilfleet“ ist der Hashtag der neuen Kampagne. „Wir lassen uns das nic…
bieten“, sagt der Aktivist und Grünen-Politiker Erik Marquardt, der an der
Sache mitgewirkt hat. „Sie können nicht alle Schiffe an die Kette legen.“
## Die Wutbürger: „Ihr Schlepper-Scheiß-Drecksbande!“
In diesem Tagen bringt Axel Steier aber auch einen Packen Briefe zum
Papiercontainer. Wutbürger machen sich tatsächlich die Mühe, nicht nur
online, sondern auch auf klassischem Postweg ihren Hass auf die
Seenotretter der „Lifeline“ loszuwerden, deren Schiff im Hafen von Valetta
an der Kette liegt. „Ihr Schlepper-Scheiß-Drecksbande gehört alle sofort
hinter Gitter“, hat jemand anonym gekritzelt. Wenn erst die AfD am Ruder
sei, werde mit solchen Volksverrätern abgerechnet.
Im abgewohnten ehemaligen „Ratskeller“ hat die „Mission Lifeline“ nicht
mehr als einen Briefkasten. Für Freund und Feind ist es dennoch eine
Adresse. Die Identitären waren schon hier und beschmierten die Hauswände
mit Farbe.
Das 32 Meter lange Schiff „Lifeline“ hat rund 170.000 Euro gekostet – die
Hälfte davon brachten Dresdner Spender auf. „Das zeigt, dass rechte
Gesinnungen in der Stadt doch nicht so verwurzelt sind, wie oft angenommen
wird“, nimmt Axel Steier, einer der Gründer der Hilfsorganisation, die
Einheimischen in Schutz. Rund 24.000 Euro kostet eine einzige
Rettungsfahrt. Wenn sie denn retten dürften.
Am Abend steht in Valetta auf Malta die Sonne wie eine leuchtende Qualle im
Dunst über dem Mittelmeer. Auf den Festungsmauern von Valletta flanieren
Touristen, unten am Wasser haben lokale Gruppen einen Protest gegen die
Blockade der Seeretter organisiert. Vielleicht hundert Menschen sind
gekommen, Windlichter flackern. „Für das namenlose Kind, das durch unsere
Gleichgültigkeit starb“, steht auf großen Fotos geborgener Kinderleichen.
Maria Pisani unterrichtet soziale Arbeit an der Universität von Malta,
vorher war sie Büroleiterin der UN-Migrationsorganisation IOM auf Malta. Es
ist die Organisation, die die Statistik der toten Flüchtlinge führt. Sie
hält eine kurze Rede. „Manche auf Malta haben vor den Migranten Angst“,
sagt Pisani, „Manche sind rassistisch. Aber manche wollen, dass sich etwas
ändert. Wir können nicht akzeptieren, was geschieht, denn es wird immer
mehr Tote geben.“
Auch Martin Kolek ist hergekommen. Jemand hat ihm eines der ausgedruckten
Bilder mit den Wasserleichen in die Hand gedrückt. Ausgerechnet ihm. Es sei
eine „sehr ruhige, sehr angemessene Ansprache“, gewesen, die Pisani
gehalten habe, sagt Kolek. Er hockt vor den Windlichtern auf dem Boden und
schaut zu, wie es über dem Meer langsam dunkel wird.
9 Jul 2018
## AUTOREN
Christian Jakob
Michael Bartsch
## TAGS
Flüchtlingshilfe
EU-Außengrenzen
Malta
Recherchefonds Ausland
Libyen
Geflüchtete
Seenotrettung
Schwerpunkt Flucht
Jugend Rettet e.V.
Matteo Salvini
Bootsflüchtlinge
Klaas Heufer-Umlauf
Seenotrettung
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Sea-Watch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Flüchtende im Mittelmeer: Zurückgeschickt nach Libyen
Die EU beteilige sich tatkräftig daran, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer in
das Bürgerkriegsland zurückzuschieben. Das werfen ihr vier NGOs vor.
Seenotretter zu Bergung von Flüchtenden: „Ich wollte trotzdem vor Ort sein“
Vor vier Jahren war der Therapeut Martin Kolek zum ersten Mal als
Seenotretter im Einsatz. Das Geschehen hat ihn nie wieder losgelassen.
Roman von Seenotretterin: Rauslassen, was sich anstaut
Pia Klemp ist Seenotrettungsaktivistin, Anarchistin, Tierrechtlerin und
schreiben kann sie auch. Ihr Roman über Seenotrettung ist ergreifend.
Seenotrettung von Geflüchteten: Rettungsschiff in Mallorca eingetroffen
Die NGO „Open Arms“ hat eine Überlebende von einem sinkenden Boot gerettet.
Auch zwei Tote holten sie an Bord. Italien habe sich geweigert, diese
aufzunehmen.
Dokumentarfilm zum Schiff „Iuventa“: Die Geschichte junger Seenotretter
Die NGO „Jugend Rettet“ will weitermachen, obwohl ihr das Schiff genommen
wurde. Der Kinofilm „Iuventa“ zeigt die Arbeit der Crew und macht Mut.
EU-Innenministertreffen in Innsbruck: Salvini macht zu – und die EU?
Selbst staatliche Rettungsschiffe will Salvini nicht mehr in Italiens Häfen
lassen. Das wird beim Treffen der EU-Innenminister für Zündstoff sorgen.
Mitleid mit Geflüchteten: In Not geraten
Die Welt bangt um die Jungen, die in Thailand in einer Höhle feststecken.
Um die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer bangt kaum jemand. Warum nicht?
Spendenaktionen für Seenotrettung: „Es braucht jetzt neue Schiffe“
Um Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu retten, braucht es Schiffe.
Deutsche Fernsehmoderatoren rufen nun zum Spenden auf.
Kommentar Seenotrettung: Italiens Propagandaminister
Italiens Innenminister Salvini teilte per Tweet mit, Marineschiffe
internationaler Missionen blockieren zu wollen. Seine Hetze zahlt sich für
ihn aus.
Blockierte Fluchtwege am Mittelmeer: An den Rändern Europas
Die wahren Dramen um Europas Flüchtlinge spielen sich rund ums Mittelmeer
ab. Drei Orte, drei Geschichten.
„Seebrücke“-Demos für Seenotrettung: Masterplan Humanität
In ganz Deutschland haben tausende Menschen für die Rettung von
Schiffsbrüchigen demonstriert. Skandalös sei, dass der Protest überhaupt
nötig ist.
„Lifeline“-Kapitän vor Gericht: Wenn Leben retten strafbar sein soll
Die Staatsanwaltschaft wirft dem „Lifeline“-Kapitän vor, das Schiff sei
nicht korrekt registriert worden. Ihm droht eine Haftstrafe von einem Jahr.
Seenotrettung im Mittelmeer: Flugzeug auf Malta festgesetzt
Nach der Blockade mehrerer Rettungsschiffe wurde auch das
Aufklärungsflugzeug „Moonbird“ festgesetzt. Die evangelische Kirche
kritisiert das Vorgehen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.