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# taz.de -- Roman von Seenotretterin: Rauslassen, was sich anstaut
> Pia Klemp ist Seenotrettungsaktivistin, Anarchistin, Tierrechtlerin und
> schreiben kann sie auch. Ihr Roman über Seenotrettung ist ergreifend.
Bild: Pia Klemps Roman ist kein moralisierendes Pamphlet, sondern anarchistisch…
Es steht „Roman“ am Anfang, aber es ist wahrscheinlich keiner. „Lass uns
mit den Toten tanzen“ von Pia Klemp ist zu nah dran an dem, was wirklich
passiert ist, und das war, weiß Gott, genug. Das tauende Eis essen zu
müssen, während in der Kühltruhe die Leichen liegen und Italien partout
keine Hilfe schickt. Ein psychotischer Jugendlicher, der sicher ist, auf
dem Küstenwachen-Schiff aufgefressen zu werden, und trotzdem dorthin
umsteigen muss. Ein junger Mann, der nicht einmal mehr darum bittet, dass
nach seinem ins Wasser gefallenen Freund gesucht wird, weil doch „jeden Tag
so viele sterben“.
Es ist neu, noch immer, [1][was die SeenotrettungsaktivistInnen im
Mittelmeer tun,] und nur schwer zu ermessen, was das mit ihnen macht. Wenn
die Lage sich zuspitzt, wird ihr Tun für kurze Zeit grell ausgeleuchtet von
der Weltpresse, was unter der Oberfläche liegt, wird dabei überstrahlt.
Auch die Handvoll Dokumentationen, die es zum Thema schon gab, kamen nur
bis zu einem bestimmten Punkt. Klemps Buch geht weiter, bis ganz nach
innen. Die 36-Jährige war 2017 Kapitänin bei zwei Missionen der NGO Jugend
Rettet.
Im August 2017 beschlagnahmt die italienische Justiz deren Schiff
„Iuventa“. Ab November 2017 geht Klemp für vier Missionen zur NGO
Sea-Watch, bis sie im Juni 2018 erfährt, dass die italienische Justiz
[2][gegen zehn der „Iuventa“-Besatzungsmitglieder ermittelt]. Der Prozess
ist noch nicht eröffnet. Nach Angaben der NGOs waren Klemps Missionen an
der Rettung von etwa 5.000 Menschen beteiligt. Ihr drohen bis zu 20 Jahre
Haft.
Der Roman schildert diesen Zeitraum von etwa zwei Jahren. Klemp,
Anarchistin, Tierrechtlerin, fuhr einst das Schiff der Walschützer von Sea
Shepherd durch die Antarktis, und schreiben kann sie auch noch. Dass nicht
jeder Satz in „Lass uns mit den Toten tanzen“ sitzt, wenn etwa Steuermann
Jeremy „Seemannslieder in der Verwesungsfäule der Fischerboote singt“, das
macht gar nichts, weil sprachliche Faltenfreiheit gar nicht passen würde zu
dieser Geschichte voller Besäufnisse, Hitze, Gestank, Wut und Sex, die
breitbeinig daherkommt und schnell und offen.
## Erzählen ohne Paternalismus
Es ist Klemp gelungen, und das ist vielleicht das Allerbeste an dem Buch,
nicht mehr als kurze Blitze von Flugblatthaftigkeit in ihre Erzählung
eingelassen zu haben. So ist dieses kein moralisierendes Pamphlet, sondern
ein anarchischer Stream of Consciousness, der rauslässt, was sich anstaut,
wenn man tut, was Klemp getan hat.
Sie feiert, dass es das Richtige war, und warum sollte sie auch nicht. Sie
setzt sich selbst und denen, die mit ihr unterwegs waren, ein gar nicht so
kleines Denkmal, und mit Sätzen wie „Wir wollen alles – bedingungslose
Freiheit und absolute Verantwortung“ klingt sie dabei manchmal wie Nanni
Balestrinis Autonomenprosa. Und das ist nicht das Schlechteste.
„Es ist viel einfacher, einen zu retten, als sich mit ihm
auseinanderzusetzen. Darin war ich nie gut“, schreibt Klemp. Trotzdem kann
sie von der radikalen Asymmetrie zwischen Rettern und Geretteten ohne
Paternalismus erzählen. Sie schreibt ohne antidiskriminatorische
Begradigungsformeln, die Flüchtlinge können passiv sein oder auch
heldenhaft, sie schreibt von Annäherung und aufkeimender Freundschaft mit
den Schiffbrüchigen, und ebenso von ihr als Frau, die auch abgestoßen ist
von manchen Geretteten, die meist Männer sind, und das klingt dann so: „Die
ganze Zeit schon stiert er mich aus der dusteren, verqualmten Ecke neben
dem Spielautomaten an. Seine vergilbten Augäpfel leuchten schmierig im
Dunkel und ein schiefes Grinsen ohnerlei Freude dümpelt in meine Richtung.“
Ganz wohl ist ihr dann damit natürlich auch nicht, und sie fragt sich, ob
sie nicht doch ein „verkappter Rassist“ sei. Es liegt keine
Pflichtschuldigkeit in dieser Frage, weil das Hadern ein organischer
Erzählstrang ist, bis hin zum Nachdenken darüber, ob es womöglich so ist,
dass Klemp von der Flüchtlingsrettung nicht mehr wegkommt, weil „ich Angst
habe, was zu verpassen“.
„Lass uns mit den Toten tanzen“ ist im Augsburger Maro-Verlag erschienen.
Der hat einst Bücher von Jack Kerouac und Charles Bukowski verlegt – beide
hätten wohl ihre Freude, wenn sie „Lass uns mit den Toten tanzen“ noch
lesen könnten.
16 Sep 2019
## LINKS
[1] /Seenotretter-ueber-seine-Einsaetze/!5602714
[2] /Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5592061
## AUTOREN
Christian Jakob
## TAGS
Seenotrettung
Schwerpunkt Flucht
Buch
Sea-Watch
Charles Bukowski
Carola Rackete
Kolumne Jesus versus Salvini
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Flüchtlingshilfe
Schwerpunkt Flucht
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