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# taz.de -- Dokumentarfilm „SeaWatch3“: Flüchtlingsdrama in Kinoästhetik
> Der Dokumentarfilm über die Seenotretterin Carola Rackete berichtet kaum
> Neues. Dennoch schafft er etwas, was den Medien sonst nicht gelingt.
Bild: Wichtige Nahaufnahmen: eine Ärztin mit einem Geretteten im Film „SeaWa…
Die Kamera schwebt in der Vogelperspektive über das Mittelmeer, eine
scheinbar endlose Ebene aus dunklem Blau. Kein Land ist zu sehen, kein
Schiff. Wolken ballen sich über dem Wasser und werfen dunkle Schatten.
Elektronische Musik beginnt zu spielen. Wie aus weiter Ferne hören wir Rufe
und Schreie, Radiostimmen berichten auf Englisch, Deutsch und Arabisch von
Toten im Mittelmeer. Die Musik wird immer drängender. Wir spüren: Gleich
wird etwas geschehen. Dann ein Schnitt und wir befinden uns an Bord des
Schiffes. Durch ein Fenster sehen wir die Kapitänin Carola Rackete, die
aufs Meer hinaus schaut. Das Drama beginnt.
[1][Seit einigen Tagen ist der Dokumentarfilm „SeaWatch3“ in der
ARD-Mediathek zu sehen.] 21 Tage lang hatten die Journalist:innen Nadia
Kailouli und Jonas Schreijäg dafür die Rettungsmission des Schiffes mit der
Kamera begleitet, vom Auslaufen bis zur Festnahme der Kapitänin Rackete.
Das Ergebnis: eine Reportage in der Ästhetik eines Kinofilms. Bilder, die
eine große Geschichte erzählen.
Der Komponist Nils Frahm hat eigens dafür einen Soundtrack geschrieben.
Kein Sprecher ordnet die Szenen ein, keine Zahlen ergänzen die Aufnahmen.
Der Film soll nichts mehr erklären, sondern ein Gefühl vermitteln. Das
Sterben im Mittelmeer, es ist im Kinosaal angekommen. Aber gehört es
überhaupt dorthin?
Die humanitäre Krise im Mittelmeer ist vielleicht eine der größten
Herausforderungen Europas dieser Zeit. Seit Jahren schon sterben
Zehntausende Menschen vor den europäischen Küsten – und eine Lösung dafür
ist nicht abzusehen. Wie können Medien sinnvoll über ein Drama berichten,
das längst zur Normalität geworden ist?
## Die reinen Zahlen reichen nicht
[2][141.472 Menschen sind im Jahr 2018 über das Mittelmeer geflüchtet],
mehr als 2.300 Menschen starben bei dem Versuch, Europas Küste zu erreichen
oder gelten bis heute als vermisst. Seit Anfang des Jahres haben etwa
13.000 Menschen versucht, von Libyen aus übers Mittelmeer nach Europa zu
gelangen. Die Hälfte von ihnen wurde von der Libyschen Küstenwache
abgefangen und zurück an Land gebracht.
In Libyen, das berichten Menschenrechtsorganisationen, werden Geflüchtete
misshandelt und verkauft. Jeden Tag, schreibt das Flüchtlingshilfswerk der
Vereinten Nationen, sterben im Durchschnitt vier Menschen auf der Flucht
übers Mittelmeer. Man könnte meinen, diese Zahlen würden ausreichen, um die
Katastrophe zu beschreiben.
Denn es gibt bereits alle erdenklichen Bilder dazu. Jahrelang sind
Reporter:innen von Zeitungen und Fernsehsendern mit aufs Mittelmeer
gefahren, haben Porträts über die Retter:innen geschrieben und berührende
Filme über dramatische Manöver der Rettungsschiffe gedreht. Im Juli 2016:
„7 Tage … mit Seenotrettern“, NDR. Im August 2016: „Am Limit – Zeugen…
Katastrophe im Mittelmeer“, RTL. Im Februar 2017: „Flüchtlingsretter auf
der Todesroute: S.O.S. im Mittelmeer“, Focus TV. Die Filme und Texte sind
alle online zu finden, seit Jahren hat sich an der Situation trotzdem nur
wenig verändert.
Immer sind die Kameraleute nah dran an den Retter:innen, rennen mit ihnen
über Deck, halten drauf, wenn sie die geflüchteten Menschen von ihren
winzigen Schlauchbooten an das sichere Deck des Schiffes hieven. Sie
filmen, wie die Schiffe aus den Häfen auslaufen, wie sie auf Funksprüche
wartend im Mittelmeer treiben und wie sie dann losfahren, um Menschen vor
dem Ertrinken zu retten.
Die Kameras zeigen erschöpfte Menschen, die gerade dem Tod entronnen sind
und zoomen ganz nah ran an ihre Gesichter, die gezeichnet sind von Folter
und Entbehrung, filmen ihre Augen, die Schreckliches gesehen haben. Doch
wie viel ist daran noch legitime Berichterstattung und wie viel befriedigt
eigentlich nur den Voyeurismus der Zuschauer:innen, die noch krassere
Bilder wollen und noch mehr Dramatik?
Als der Film „SeaWatch3“ am vergangenen Wochenende als Preview im
Babylon-Kino in Berlin gezeigt wurde, gab es nach der Vorstellung Standing
Ovations. Die Vorstellung war doppelt ausverkauft, mehr als tausend
Menschen sahen den Film an diesem Abend. Ein Mann aus dem Publikum meldete
sich und fragte die Filmemacher:innen: „An welchem Punkt habt ihr gemerkt,
dass das eine ganz große Geschichte wird?“ Eine gute Frage. Denn es mussten
einige Faktoren zusammenkommen, die diesen Film zu etwas Besonderem machen.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen veröffentlichte im Frühjahr
dieses Jahres seine Zahlen zu den Toten auf dem Mittelmeer. In der medialen
Öffentlichkeit gab es nur wenig Interesse. Was außerdem unterging: Fast
zeitgleich zog die Europäische Union ihr letztes Boot aus der staatlichen
Seenotrettung zurück. Die „Mission Sophia“ würde künftig nur noch von der
Luft aus das Mittelmeer beobachten.
Nur wenige Wochen darauf wurde das Rettungsschiff [3][„Mare Jonio“ der
Organisation Mediterranea von der italienischen Staatsanwaltschaft
beschlagnahmt] und die Crew des Menschenhandels beschuldigt. Das bedeutet:
Im Mai 2019 gab es praktisch keine europäische Rettungsmission mehr auf dem
Mittelmeer.
Am 6. Juni 2019 gehen die Journalisten Schreijäg und Kailouli für den NDR
an Bord der „Sea-Watch 3“. Wochenlang hatten sie mit ihrer Redaktion darum
gerungen, nach Sizilien geschickt zu werden, um mit dem Rettungsschiff aufs
Mittelmeer fahren zu dürfen. Schreijäg sagt heute: „Dadurch, dass keine
Schiffe mehr zum Retten aufs Mittelmeer gefahren sind, hatte auch das
mediale Interesse extrem abgenommen.“ Keine Schiffe, keine Journalisten.
Das Argument lautete: Diese Geschichte wurde doch schon dutzend Mal
erzählt.
Doch dann veränderte sich die politische Situation: Matteo Salvini war seit
einigen Monaten Innenminister von Italien, er [4][verschärfte seinen Kurs
gegen die zivile Seenotrettung immer weiter]. Irgendwann ist klar: Wer aufs
Mittelmeer fährt, um Menschen auf der Flucht zu retten, der gerät in
Konflikt mit den italienischen Behörden. Nun ist ein Spin da, die beiden
Journalist:innen dürfen nach Italien reisen. Rackete gegen Salvini, die
junge Kapitänin gegen den mächtigen Staatsmann – es ist die Story für einen
Hollywood-Film.
Die Zahlen zum Sterben im Mittelmeer auf der einen und der Dokumentarfilm
auf der anderen Seite – sie umfassen die ganze Spannweite der möglichen
Berichterstattung. Das Problem an den Zahlen ist: Sie reichen
offensichtlich nicht aus.
## Nähe zu Geflüchteten
Das Sterben im Mittelmeer ist eine permanente Katastrophe. Wie ein
ständiger Bass wummert es durch die Nachrichten: „Mindestens 13 Menschen
vor Lampedusa ertrunken“, „Ertrunken auf der Flucht“, „Sieben Flüchtli…
ertrunken“. Wie lange kann man sich von solchen Schlagzeilen berühren
lassen, wann beginnt man abzustumpfen?
Der Dokumentarfilm „SeaWatch3“ geht deshalb einen Schritt weiter: Es ist
kein Bericht mehr, sondern eine Erzählung. Und in seiner Länge schafft er
etwas, was in den Berichten bisher fehlt. Er stellt eine Nähe zu den
geflüchteten Menschen an Bord her. Der Film nimmt sich Zeit, sie sprechen
zu lassen.
Sie erzählen von der Flucht, von der Folter in Libyen und von dem
verzweifelten Versuch mit einem Schlauchboot über das Mittelmeer zu fahren.
Sie sind die Zeitzeugen des europäischen Dramas und ihre Gesichter,
leinwandgroß, wirken wie ein Mahnmal. Sie sind auch so etwas wie eine
Antwort auf den Vorwurf des Voyeurismus. Man will nicht in diese Gesichter
schauen, aber man muss sie aushalten. Sie sind nicht leidend, sie sind
anklagend.
Es wird keinen zweiten Film dieser Art geben, weil hier alles
zusammengepasst hatte. Nur durch einen Zufall wurde Rackete zur Ikone im
Streit um Migration, nur durch Zufall waren die Reporter:innen von Beginn
an Bord des Schiffes. Und nur über die Geschichte von Rackete können die
Filmemacher:innen von der wahren Tragödie erzählen, von den flüchtenden
Menschen. Deshalb braucht es den Film in genau dieser Form: in
Kinoästhetik. Mit seiner Bildgewalt kann er die Gesellschaft berühren.
14 Oct 2019
## LINKS
[1] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/SeaWatch3,sendung951550.html
[2] https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/mittelmeer/
[3] /Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5623085
[4] /Fluechtlingstragoedie-im-Mittelmeer/!5613551
## AUTOREN
Paul Hildebrandt
## TAGS
Carola Rackete
Sea-Watch
Dokumentarfilm
Schwerpunkt Flucht
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