# taz.de -- Flüchtlingstragödie im Mittelmeer: 62 Tote vor libyscher Küste | |
> Noch immer werden mehr als 100 Menschen vermisst. Doch trotz des Horrors | |
> bleibt Italiens Innenminister Matteo Salvini unerbittlich. | |
Bild: Wer soll in der Seenot helfen, wenn die Retter keine Schiffe haben? | |
TRIPOLIS/ROM dpa/afp | 62 Tote haben die Retter des Roten Halbmonds | |
[1][seit der jüngsten Flüchtlingstragödie am Donnerstag] aus dem Mittelmeer | |
geborgen, so ein Vertreter der Hilfsorganisation, Abdelmoneim Abu Sbeih, am | |
Freitag. Hilfsorganisationen befürchteten mehr als hundert Tote. Die UNO | |
sprach vom „schlimmsten“ Unglück im Mittelmeer in diesem Jahr. Die Tragöd… | |
befeuerte die Debatte um eine staatliche Seenotrettung. | |
135 Menschen konnten gerettet werden und wurden in den Hafen der libyschen | |
Stadt Al-Chums gebracht. Doch 115 Menschen werden laut der Küstenwache noch | |
vermisst. Retter berichteten der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen | |
(MSF), sie hätten mindestens 70 Leichen im Wasser gesehen. | |
Während die Küstenwache von 250 Menschen an Bord mindestens eines Bootes | |
ausgeht, erzählten Überlebende, sie hätten zu einer Gruppe von 300 Menschen | |
gehört. Möglicherweise geriet auch ein zweites Boot in Seenot. Dann wären | |
noch mehr Tote zu befürchten. Schon jetzt ist die Rede vom schwersten | |
Bootsunglück im Mittelmeer des laufenden Jahres. | |
Deswegen werden nun die Rufe lauter, die Seenotrettung in der Region wieder | |
aufzunehmen. Eine EU-Seenotrettungsmission läuft derzeit nicht. Und das | |
Unglück ereignete sich zu einem Zeitpunkt, an dem kein ziviles | |
Rettungsschiff im Mittelmeer unterwegs war. | |
## Retter ohne Schiffe | |
Die „Sea-Watch 3“ liegt in Sizilien an der Kette. Die „Alex“ der | |
italienischen Organisation Mediterranea Saving Humans ist konfisziert. Die | |
„Alan Kurdi“ der deutschen Organisation Sea-Eye wird voraussichtlich erst | |
am Dienstag in der Such- und Rettungszone eintreffen. D[2][as neue Schiff | |
von Ärzte ohne Grenzen] und SOS Méditerranée ist noch weiter entfernt. | |
Und nach dem Willen der italienischen Regierung sollten sie gar nicht erst | |
versuchen, Migranten aus Seenot aufzunehmen, um sie – wie so oft – nach | |
Italien zu bringen. Das Parlament in Rom ist dabei, ein umstrittenes | |
Sicherheitsdekret in ein Gesetz zu gießen, das horrende Strafen für | |
Hilfsorganisationen vorsieht. Wagt es ein Schiffskapitän, unerlaubt in die | |
italienischen Hoheitsgewässer zu fahren, könnte er schon bald eine | |
Geldstrafe von bis zu einer Million Euro riskieren. | |
[3][Die deutsche Kapitänin Carola Rackete] tat genau das vor einem Monat: | |
Sie fuhr trotz eines Verbots mit dem Rettungsschiff „Sea-Watch 3“ und | |
Dutzenden Migranten an Bord nach Italien. Ihr könnte der Prozess gemacht | |
werden. Schon jetzt wurde eine Geldstrafe in Höhe von mehr als 16.000 Euro | |
gegen sie verhängt. | |
Allen voran Italiens Innenminister Matteo Salvini sind die | |
Hilfsorganisationen ein Dorn im Auge. Er bezichtigt sie, Komplizen der | |
Schlepper zu sein, auch wenn es dafür keine Beweise gibt. Neben Salvini | |
stellen es auch Österreichs früherer Bundeskanzler Sebastian Kurz oder die | |
AfD immer wieder so dar, dass erst die Helfer die Menschen auf See locken. | |
## Jede Seite hat ihre Zahlen | |
Die neue Tragödie widerlegt aus Helfersicht jedoch diesen Vorwurf, dem auch | |
Untersuchungen widersprechen. Angesichts des Unglücks „hat sich das | |
Pull-Faktor-Argument einmal mehr als realitätsfern erwiesen“, twitterte | |
Sea-Watch. „Keine NGO im Meer, kein europäisches Rettungsschiff, nur die | |
libysche Küstenwache“, schrieb Matteo Villa vom italienischen Institut für | |
Internationale Politikstudien und fügte hinzu, dass die Menschen trotzdem | |
abfahren – und sterben. | |
Salvini predigt immer wieder die Formel: weniger Abfahrten, weniger Tote. | |
Die nackten Zahlen geben ihm Recht. Im ersten Halbjahr 2019 starben laut | |
IOM rund 600 Menschen, 2018 waren es fast 1.300, 2017 sogar mehr als 2.270. | |
Setzt man die gesunkene Zahl der Abfahrten jedoch ins Verhältnis zu den | |
Todesfällen, erweist sich die Überfahrt als noch gefährlicher als zuvor. | |
Lag die Todesrate im vergangenen Jahr bei 3,2 Prozent, stieg sie nun auf | |
5,2 Prozent. Viele Unglücke werden gar nicht bekannt, seitdem weniger | |
Retter im Einsatz sind. | |
Doch für Italiens Hardliner im Innenministerium sind die Helfer ein | |
einfaches Opfer. Sein striktes Vorgehen gegen sie gepaart mit sinkenden | |
Ankunftszahlen im Vergleich zu den Vorjahren beschert ihm immer mehr | |
Zustimmung. Dass sich die EU nicht auf einen Verteilmechanismus für die | |
Migranten einigen kann, tut das Übrige. | |
## Bloß nicht zurück nach Libyen | |
Schwierig ist eine Lösung des Problems vor allem auch deshalb, weil die | |
Lage in Libyen acht Jahre nach dem Sturz von Langzeitherrscher Muammar | |
al-Gaddafi chaotisch bleibt. Die schwache international anerkannte | |
Regierung in Tripolis kontrolliert nur kleine Teile des Landes. Die | |
eigentlichen Herrscher Libyens sind unzählige Milizen, von den viele in den | |
Menschenschmuggel verstrickt sind. | |
Seit dem Angriff des ehrgeizigen Generals Chalifa Haftar mit seinen Truppen | |
auf die Regierung in Tripolis flammen zudem immer wieder Kämpfe auf. Erst | |
Anfang des Monats wurde dabei auch ein Internierungslager für Migranten aus | |
der Luft bombardiert. Dutzende Menschen starben. | |
Auch deswegen warnen Hilfsorganisationen davor, die geretteten Migranten | |
wieder zurück in diese „furchtbaren Gefängnisse und Internierungslager“ zu | |
bringen, wie der Geschäftsführer von MSF in Deutschland, Florian Westphal, | |
sie bezeichnet. | |
Zu wenig Platz, Folter, kein sauberes Trinkwasser, keine medizinische | |
Versorgung – schon seit langem klagen Hilfsorganisationen über die desolate | |
humanitäre Lage in den Lagern. Sie seien „die Hölle auf Erden“, in der | |
täglich Menschenrechtsverletzungen begangen würden, sagt Chris Melzer, | |
Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Deutschland. | |
27 Jul 2019 | |
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