| # taz.de -- 70 Jahre nach der Auschwitz-Befreiung: Marian Turskis Tag im Bundes… | |
| > „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“. Joachim Gauck erinnert | |
| > daran, wie beschämend Deutsche nach der Schoah mit den Opfern umgingen. | |
| Bild: Der polnische Journalist Marian Turski im Gespräch mit Bundespräsident … | |
| BERLIN taz | Marian Turski sitzt in der ersten Reihe auf der | |
| Besuchertribüne. Der polnische Journalist jüdischer Abstammung ist am | |
| Dienstag in den Bundestag gekommen, um der Rede des Präsidenten zuzuhören. | |
| Er und Joachim Gauck haben sich bereits kennengelernt. Tags zuvor hatte der | |
| Bundestag ein Treffen von Jugendlichen mit Turski, dem 88 Jahre alten | |
| Auschwitz-Überlebenden, organisiert. Es war einer der üblich gewordenen | |
| Termine zum Holocaustgedenktag. Dennoch war er für die Beteiligten etwas | |
| Besonderes, auch für Gauck. | |
| Dass es so gewesen sein muss, wird man am Ende dieser Gedenkfeier noch | |
| sehen. Spüren kann man die Verbindung zwischen den beiden Männern die ganze | |
| Zeit über. | |
| Joachim Gauck hält eine bewegende Rede. Der einstige Pfarrer weiß, wo er | |
| seine Zuhörer packen kann, er kennt den Wert einer gut aufgebauten Rede, | |
| einer klug gesetzten Pause. Dennoch, selbst die beste Technik könnte nicht | |
| verdecken, wenn die Rede selbst ohne Belang wäre. Aber das ist sie nicht. | |
| Gaucks Rede geht der Frage nach, was Gedenken heute bedeutet. | |
| Im ersten Teil wuchtet Gauck das Monströse des Holocaust in den Kuppelraum. | |
| Er erzählt die Geschichte des Breslauers Willy Cohn. Der Lehrer liebte sein | |
| deutsches Vaterland, buchstäblich bis in den Tod. In seinen Tagebüchern | |
| „Kein Recht, nirgends“ kann man das heute nachlesen. Joachim Gauck spricht | |
| von Cohns Tochter Tamara; sie war drei Jahre alt, als sie in den Tod | |
| deportiert wurde. Von der Vernichtungsmaschinerie der Nazis – und von der | |
| Befreiung von Auschwitz vor 70 Jahren durch die Sowjets. | |
| ## Die Erinnerung verweigert | |
| Joachim Gauck kommt nun auf den gesellschaftlichen Sinn von Erinnern zu | |
| sprechen. „Eine der wichtigsten Lehren aus dem Umgang mit der | |
| nationalsozialistischen Vergangenheit“, sagt er, „lautet zweifellos, dass | |
| Verschweigen offenkundiges Verbrechen und offenkundige Schuld nicht tilgt.“ | |
| Im Westen habe man sich nach dem Kriegsende dem Wiederaufbau gewidmet. Die | |
| Gesellschaft „schottete sich ab und schützte sich vor Schuld- und | |
| Schamgefühlen, indem sie die Erinnerung verweigerte“, führt Gauck aus. Es | |
| sei immer noch beschämend, dass damals aus den Opfern Bittsteller wurden. | |
| „Die Bevölkerung der jungen Bundesrepublik kannte wenig Mitgefühl mit den | |
| Opfern nationalsozialistischer Gewalt.“ | |
| In der DDR hingegen gab es den staatlichen Antifaschismus, der die | |
| Gesellschaft pauschal von der Verantwortung für die Verbrechen freisprach. | |
| Er beförderte nicht nur das Verdrängen, sondern „ermöglichte dem Belasteten | |
| und sogar noch dem Schuldigen, sich auf die Seite der Guten zu schlagen, zu | |
| den antifaschistischen Siegern“. | |
| ## Die deutsche Schuld | |
| Erst die wiedervereinigte Republik habe die Konfrontation mit den | |
| Verbrechen zum „Kernbestand ihrer Geschichtserzählung gemacht“, sagt Gauck. | |
| „Die deutsche Schuld gab es zweimal – in der frühen Bundesrepublik und in | |
| der DDR.“ | |
| Dies ist der Moment, an dem die Frage nach dem Heute im Raum steht. Wie | |
| wird Erinnerung so gestaltet, dass sie spürbar bleibt? „Es gibt keine | |
| deutsche Identität ohne Auschwitz“, sagte Gauck jetzt. „Die Erinnerung an | |
| den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er | |
| gehört zur Geschichte dieses Landes.“ Es sind die wichtigsten Sätze seiner | |
| Rede. Sie führen direkt in die Jetztzeit. | |
| Gauck erinnert an die Verbrechen der letzten Jahrzehnte. Kambodscha, | |
| Ruanda, Darfur, Srebrenica. „Und gibt es heute nicht Syrien und Irak?“, | |
| fragt er. Und weiter: „Sind wir denn bereit und fähig zur Prävention, damit | |
| es gar nicht erst zu Massenmorden kommt? … Fehlt manchmal nicht auch der | |
| Wille, sich einzusetzen gegen solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit?“ | |
| Empathie, emotionale Betroffenheit müsse über die Jahrzehnte nicht verloren | |
| gehen, sagt der Bundespräsident. Auch Angehörige der dritten und vierten | |
| Generation, auch Menschen ohne deutsche Wurzeln fühlten sich berührt, wenn | |
| sie in Auschwitz auf Koffern die Namen der Ermordeten lesen. | |
| ## Historische Wahrheit | |
| Doch wo Antisemitismus oder Hass auf Israel verbreitet seien, „haben wir | |
| beharrlich die historische Wahrheit zu vermitteln“. Alle, die Deutschland | |
| ihr Zuhause nennen, trügen Verantwortung dafür, welchen Weg das Land gehe. | |
| Gauck wird jetzt sehr persönlich. „Solange ich lebe, werde ich darunter | |
| leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den | |
| ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war“, sagt er. „Da ist ein | |
| Bruch eingewebt in die Textur unserer nationalen Identität.“ | |
| Dem Recht Gültigkeit und Würde zurückgeben könne Deutschland nur, „wenn w… | |
| uns jeder Art von Ausgrenzung und Gewalt entgegenstellen und jenen, die vor | |
| Verfolgung, Krieg und Terror zu uns flüchten, eine sichere Heimstatt | |
| bieten.“ Der Auftrag aus der Erinnerung laute: Mitmenschlichkeit. | |
| Joachim Gauck geht vom Rednerpult zurück zu seinem Platz. Bevor er sich | |
| setzt, schaut er nach oben und winkt mit leiser Geste nach oben zur | |
| Besuchertribüne. Marian Turski hebt die Hand. | |
| 27 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Anja Maier | |
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