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# taz.de -- Historiker über den Klimawandel: „Die nationalstaatlich orientie…
> Ließe sich die Erderwärmung mit mehr Demokratie stoppen? Ein Interview
> mit dem Historiker David Van Reybrouck, der beim Wandern einen
> Gletschersturz erlebte.
Bild: Trügerische Ruhe: das Vignemale Massiv in den französischen Pyrenäen
taz: Herr Van Reybrouck, Sie beschäftigen sich unter anderen mit der
Erderwärmung. In Deutschland hatten wir zuletzt einen eher kühlen und
teilweise sehr nassen Sommer. Wie war es bei Ihnen?
David Van Reybrouck: Ich habe den Sommer in Belgien und Nordfrankreich
verbracht. Im Frühling war es bereits früh trocken und warm, im Sommer sehr
heiß, unterbrochen von unglaublich starken Regengüssen. Die Obstbäume, die
Apfel- und Birnenbäume, trugen viele und riesige Früchte. Unter der Last
brachen oft ganze Zweige ab.
taz: In ihrem Essay-Band „Die Welt und die Erde“ erzählen Sie vom
Klimawandel und einer existentiellen Erfahrung. Wann war das?
Van Reybrouck: Das war ein paar Jahre, nachdem ich mein Buch „Der Kongo.
Eine Geschichte“ 2010 veröffentlicht hatte. Das Kongo-Buch nahm immer noch
sehr viel Platz in meinem Kopf ein. Es zu schreiben, war schwer, aber das
Nachleben dann eigentlich noch schwerer. Es war mir wirklich ein Bedürfnis,
zwei Monate von der Bildfläche zu verschwinden.
taz: Sie wanderten auf dem Pyrenäen-Höhenweg zwischen Frankreich und
Spanien. Haben Sie die ganzen 800 Kilometer geschafft?
Van Reybrouck: Fast. Ich war alleine mit meinem Zelt unterwegs. Nur fünf,
sechs Tage war ich mit einem Deutschen zusammen, mit dem ich auch nachher
in Kontakt geblieben bin. Wir haben später noch eine gemeinsame Wanderung
unternommen, in den Dolomiten. Ein toller Typ, wir haben uns sehr gut
verstanden. Aber meistens bin ich allein gegangen.
taz: Allein im Hochgebirge, das klingt herausfordernd.
Van Reybrouck: Ich erinnere mich an eine Situation im Baskenland. Da war
dichter Nebel. Man sah nichts, konnte nicht weitergehen. Im Nebel tauchten
ganz plötzlich Kühe vor einem auf, es war etwas unwirklich. Ich musste
einen Tag in einem kleinen Dorf bleiben. Dort gab es eine kleine Bibliothek
und in der fand ich eine Ausgabe des „Du contract social“ von Jean-Jacques
Rousseau. Ich habe damals hauptsächlich seinen Diskurs über die Demokratie
gelesen. Und die Inspiration für mein nächstes Buch gefunden. Auf der
ganzen Wanderung wälzte ich dann die Gedanken von Rousseau hin und her.
taz: Führten Sie auf der Wanderung ein Tagebuch?
Van Reybrouck: Das mache ich immer. Auch wenn ich aufpasse, nicht zu viel
Gewicht mit mir zu tragen. Ein Tagebuch muss dabei sein.
taz: Ein Handy oder ein Smartphone hatten Sie auch mit?
Van Reybrouck: Aber immer aus. Für solche Wanderungen wechsle ich das Gerät
und reaktiviere mein altes. Das ist noch primitiver als die frühen von
Nokia. So kann ich meine Partnerin oder meine Mutter anrufen oder notfalls
meinen Bruder. Für die Routen zerschneide ich die schönsten Wanderkarten,
damit ich kein sinnlose Gewicht tragen muss. Wie man mit GPS durchs Gebirge
laufen kann, ist mir eher unverständlich. Ich schreibe auch gerne mit der
Hand, das Digitale kommt bei mir immer erst am Ende.
taz: Sie schildern in Ihrem Buch, wie Sie bei der Wanderung in den Pyrenäen
einen Gletschersturz aus der Nähe erlebten. Was war das für eine Situation?
Van Reybrouck: Das war damals gegenüber des Vignemale-Gletschers. Das
Vignemale-Massiv ist auf französischer Seite die höchste Erhebung in den
Pyrenäen. Ich hatte mein Zelt mit Blick auf die sehr beeindruckende
Nordwand des Vignemale ausgerichtet. Ich saß da in der Dämmerung, als
plötzlich der östliche Teil des Gletschers abbrach. Es war ein unheimlicher
Krach, haben Sie jemals so etwas gehört?
taz: Einen Lawinenabgang schon, einen Gletscherabbruch nicht.
Van Reybrouck: Lawinen hören sich ähnlich an. Aber das hier hatte eine
zusätzliche Dimension. Schneien tut es vielleicht jedes Jahr wieder. Doch
wie ein Jahrtausende alter Gletscher binnen dreißig, vierzig Sekunden mit
unheimlichem Gebrüll in einer Wolke aus Staub und Geröll verschwindet, das
war beeindruckend und beängstigend zugleich. Ich fühlte mich ein wenig wie
Caspar David Friedrich, aber nicht mehr im Holozän, sondern im Anthropozän:
So klingt das neue Zeitalter. Und, du weißt genau, das haben wir, die
Menschen mit der Erderwärmung verursacht.
taz: In der Bundesrepublik dachten wir lange, die Gesellschaft sei bereit
für Veränderungen und [1][grüne Reformen. Das ist nun wie weggewischt].
Haben Sie die Trendwende bei uns verfolgt, was sagen Sie als Belgier dazu?
Van Reybrouck: Als ich nach dem Kongo-Buch – und angeregt von dem, was die
Kongolesen nach dem Ende der Ära Mobutu taten – in dem Band „Gegen Wahlen�…
über direkte Bürgerbeteiligungen nachdachte, sagte mein deutscher Verlag:
Aber David, pass auf, jetzt hast du einen so guten Ruf und dann schreibst
du so etwas. In Deutschland bräuchte es gar keine grundlegende
demokratische Erneuerung. In Belgien war es bereits seit Jahren schwierig,
eine Regierung zu bilden. Die Parteien blockieren sich gegenseitig. Bei
euch glaubten vor zehn, fünfzehn Jahren viele noch, die deutsche Demokratie
sei immun gegen Populismus und technologische Entwicklungen, die alles
verändert haben.
taz: Die Neue Rechte streitet die vom Menschen verursachten katastrophalen
Folgen der Erderwärmung ab. Die USA sind unter Präsident Donald Trump
erneut aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen. Sie halten eine neue
„Erdpolitik“ in Ergänzung der bisherigen „Weltpolitik“ für dringend
notwendig. Was soll sie bringen?
Van Reybrouck: Mit den klassischen Instrumenten der Weltpolitik kommen wir
bei den jetzigen Herausforderungen für unseren Planeten nicht weiter. Nach
dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vereinten Nationen als die entscheidende
Institution eingerichtet, um Weltpolitik diplomatisch auf friedlichem Wege
zu regulieren. Die UNO sollte die nationale Souveränität der Staaten
garantieren. Nach dem Überfall von Nazis und Sowjets auf Polen und allem,
was darauf folgte, war das völlig logisch. Doch heute brauchen wir
zusätzliche Instrumente, um den Planeten als Ganzes zu schützen.
Klimawandel und Erderwärmung stoppen nicht an nationalen Grenzen.
taz: Verursacher sind jedoch hauptsächlich nationalstaatlich organisierte
Ökonomien?
Van Reybrouck: Aber die Ökonomie ist völlig transnational organisiert. Und
die UNO versucht schon seit mehr als dreißig Jahren, eine Lösung für das
Problem zu finden. Die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Erkenntnis und
dem politischen Handeln ist unglaublich. Nächste Woche startet die COP 30,
die dreißigste Weltklimakonferenz [2][in Belém, in Brasilien im
Amazonasgebiet.] Nationale Reflexe verhinderten bislang konsequente
planetarische Lösungen, die nationalstaatlich orientierte Weltpolitik ist
der Bremser.
taz: Was können wir dagegen tun?
Van Reybrouck: „Erde“ und „Welt“ bedeuten nicht das gleiche, aber beide
Systeme hängen voneinander ab. Ich bin Bruno Latour sehr verbunden, bei dem
ich in den 1990er-Jahren in Paris studierte. Er hatte damals die Schrift
„Wir sind nie modern gewesen“ veröffentlicht. Latour kritisiert darin die
starre Trennung von Natur und Gesellschaft. Er nennt es den Gründungsmythos
der Moderne. Denn Gesellschaft und Natur stehen miteinander in Beziehung,
so wie Welt und Erde. Die Erde erinnert uns jetzt permanent daran, zum
Beispiel mit einem Gletscherabbruch.
taz: Sie sagen, die Erde braucht eine bessere Interessenvertretung wie
einst 1945 die Welt durch die UNO. Sie sprechen von Weltbürgerparlamenten,
deren Vertreter nach sozialer Repräsentation, im Proporz und per
Losverfahren bestimmt sein sollen. Also nicht nach Wahlen, Parteien oder
Regierungsvertretern. Wie soll das im Weltmaßstab aussehen?
Van Reybrouck: Wir haben mit solchen Bürgerparlamenten inzwischen einige
Erfahrung auf lokaler, regionaler, aber auch nationaler Ebene. Etwa im
kleinen deutschsprachigen Gebiet Ost-Belgiens. Die haben nun neben dem
gewählten Parteien-Parlament eine ständige Versammlung mit normalen
Bürgerinnen, repräsentativ im Losverfahren bestimmt. Meine Partnerin Eva
Rovers beschreibt, wie Aachen, Paris oder Marseille den Vorschlag ebenso
übernommen haben und ausprobieren, die Bürger besser und ständig mit
einzubeziehen.
taz: Diese Bürgerparlamente können derzeit nur Empfehlungen geben, oder?
Von Reybrouck: Im Moment sind es Empfehlungen. In Ost-Belgien ergab der
Bürgerdialog, dass man die Qualität der Altersheime unbedingt anheben
sollte. Dafür hat der Bürgerrat Vorschläge ausgearbeitet, die die Politik
umsetzen soll. Bindend ist das nicht, aber ein Anfang. In Paris kommt es
sogar zu neuen Gesetzen, die von BürgerInnen initiiert werden.
taz: In gewisser Weise erfüllen Meinungsumfragen dies heute ja auch schon:
Im Positiven wie im Negativen ermitteln sie, was die Bürger denken und die
Politik kann sich danach ausrichten oder nicht.
Van Reybrouck: Aber bei den Bürgerräten geht es um aktive Beteiligung und
Dialog, eine Verschränkung der Basis mit selber überlegten und
umzusetzenden Inhalten. Das ist etwas anderes, als mediale Stimmungen oder
Meinungen aufzugreifen. Habermas hat völlig recht, eine demokratische
Gesellschaft braucht einen herrschaftsfreien Dialog, in dem die Bürger mehr
sind als Wähler und Wählerinnen. Eine Meinungsumfrage ist nicht die klügste
Methode, da sie die Themen vorgibt. Viel interessanter ist es, im
Losverfahren ausgewählte Räte selber denken und gemeinsam etwas erlernen zu
lassen. Sie sollen [3][selber bestimmen, was die Themen sind] und für
eigene Entscheidungen verantwortlich sein.
taz: Auf die Bevölkerungsgröße umgerechnet, verursacht Saudi Arabien vor
Russland und Kanada den größten CO2-Ausstoß pro Kopf weltweit. Von der
nationalen Gesamtmenge her gerechnet liegt China deutlich etwa vor den USA,
Indien, Russland und der Europäischen Union. Wie wollen Sie autokratisch
regierte Staaten wie Russland oder China dazu bewegen, basisdemokratische
Klimaparlamente zu akzeptieren? Ist das nicht sehr utopisch?
Van Reybrouck: Das ist völlig utopisch. Aber der Kampf für das
Frauenstimmrecht begann auch mal als Utopie. Auch was Immanuel Kant über
den „Ewigen Frieden“ und eine Föderation unabhängiger Staaten geschrieben
hat, kam zwei Jahrhunderte zu früh. Doch die Europäische Union ist nun die
Realisierung dieser Idee. Heutzutage [4][verursacht China den größten
Ausstoß], aber wenn man historisch rechnet, waren es die USA. Und wenn man
die koloniale Vergangenheit hinzunimmt, [5][muss man die Niederlande] pro
Kopf zu den größten Verursachern zählen.
taz: Die Industrienationen des Nordens sind historisch betrachtet im Minus.
Heißt das, dass jetzt China oder afrikanische Staaten damit eine
nachholende Entwicklung in der Umweltverschmutzung beanspruchen können, bis
sie den Gesamt-CO2-Ausstoß des Nordens eingeholt haben?
Van Reybrouck: Ich gehe davon aus, dass nicht alle die gleiche Entwicklung
durchlaufen müssen. In vielen Ländern Afrikas gab es zum Beispiel kein
ausgebautes Festnetz zum Telefonieren und man ist gleich auf mobile
Übertragung gegangen. Natürlich haben Länder wie Kongo ein Recht auf
Entwicklung. Und natürlich wird dabei eine gewisse Menge CO2 anfallen. Es
gibt jedoch kein lineares Entwicklungsmodell, es wird sich nicht alles
negativ wiederholen. Im Januar, nach der COP in Belém, wird zum ersten Mal
ein Weltbürgerrat mit dabei sein, also nicht nur Diplomaten und Lobbyisten.
Mal sehen, was einfache Bürger und Bürgerinnen sagen, wofür man [6][das
noch vorhandene CO2-Budget] nutzen sollte.
taz: Glauben Sie wirklich, direktere Formen der demokratischen Teilhabe
sind weniger manipulierbar und störanfällig als die der repräsentativen?
Van Reybrouck: Für fossile Lobbyisten wird es sowieso viel schwieriger,
eine Bürgerversammlung zu beeinflussen. Wie gesagt, wir haben planetarische
Probleme, jetzt müssen wir planetarische Instrumente entwickeln. In Belgien
sehe ich, wie wir jedes Jahr zwei Prozent der Leute verlieren, die nicht
mehr an die Demokratie glauben. Oft junge Männer, niedrig ausgebildet.
Bürgerräte als Ergänzung zu den Parteienparlamenten sind eine unelitäre
Möglichkeit, sich aktiv an der Demokratie zu beteiligen.
8 Nov 2025
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## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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