# taz.de -- Politologe über Rettung der Demokratie: „Eine Beziehung loyaler … | |
> Politik als Dienstleister, Bürgerinnen und Bürger als Kunden? So | |
> funktioniert Demokratie nicht, sagt der Politikwissenschafter Felix | |
> Heidenreich. | |
Bild: Erinnerung an die Pflichten in der Demokratie beim Klimastreik in Frankfu… | |
taz am Wochenende: Herr Heidenreich, Sie konstatieren in Ihrem Buch | |
„Demokratie als Zumutung. Für eine andere Bürgerlichkeit“ eine Erosion der | |
Demokratie und Demokratiemüdigkeit – beides beobachten wir allerdings schon | |
seit vielen Jahren. Warum ist die Situation gegenwärtig besonders | |
alarmierend? | |
Felix Heidenreich: Man kommt in dieser Debatte weiter, wenn man zwei Dinge | |
unterscheidet: Eine gewisse Krisenhaftigkeit gehört immer zu einer | |
lebendigen Demokratie dazu – daher sind Krisendiagnosen überhaupt nicht | |
neu. Die Demokratie ist ein Spiel, bei dem immer auch zugleich über die | |
Spielregeln diskutiert wird. Aber daneben gibt es echte Existenzkrisen. Die | |
Zunahme politischer Gewalt ist hierfür ein Indiz. Das deutlichste Beispiel | |
ist natürlich der [1][Sturm aufs Kapitol]. Wir wissen, dass dieser Tag auch | |
ganz anders hätte ausgehen können. Was mich hingegen in meinem Buch | |
beschäftigt hat, ist die stille, die unscheinbare Krise: Die politische | |
Apathie, die wachsende Wahlenthaltung, eine unproduktive Form der | |
Entfremdung. Manche Leute entscheiden für sich, dass sie mit diesem Staat | |
nichts mehr zu tun haben wollen. | |
Dagegen spricht: Die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen ist in | |
Deutschland 2017 und 2021 jeweils gestiegen. Sie nennen Frankreich als | |
Beispiel für Politikmüdigkeit. | |
Ja, das stimmt, in Deutschland ist die Lage nicht so finster wie in anderen | |
Ländern, zumindest nicht auf Bundesebene. Bei Landes- und Kommunalwahlen | |
wird das Bild schon grauer. In Frankreich aber sind selbst bei der zweiten | |
Runde der Präsidentschaftswahlen, als es darum ging, ob eine mehr oder | |
weniger offene Neofaschistin oder ein etwas nerviger Demokrat die Wahlen | |
gewinnt, 27 Prozent nicht wählen gegangen. Ich fürchte, de facto stehen wir | |
in Deutschland strukturell vor ähnlichen Herausforderungen. | |
Woran machen Sie das fest? | |
Dazu muss man nur mit Lokalpolitikern sprechen. Ihnen gegenüber gibt es so | |
viel Hass, verbunden mit einer Anspruchshaltung, die aus meiner Sicht | |
besorgniserregend ist. Die Einstellung dahinter, ist folgende: der Staat | |
soll liefern, aber ich bin nicht bereit, auch nur einen Finger zu krümmen, | |
um daran mitzuwirken. | |
Das ist eine zentrale These Ihres Buches: Sie gehen davon aus, dass der | |
Bürger heute zum Politikkonsumenten geworden ist und die Politiker zum | |
Dienstleister. | |
Ich betrachte die ökonomische Beschreibung politischer Vorgänge kritisch. | |
Die Parteien sind heute die Anbieter, die Bürger sind die Kunden. Das mag | |
ja als Heuristik in der Wissenschaft sinnvoll sein, aber wenn sich dieses | |
Denken als normatives Politikverständnis durchsetzt, wird es problematisch. | |
Denn bei der Politik geht es nicht nur um das „Who gets what“, sondern auch | |
um Zumutungen: Erstens um Zumutungen, die die Verhandlungsprozesse der | |
Demokratie selbst mit sich bringen, und zweitens schlicht um die | |
Zumutungen, die die Realität uns diktiert. Zuvorderst ist das heute der | |
Klimawandel. Für die Demokratie zu werben mit dem Argument, sie mache | |
„Spaß“ oder sie „liefere“, ist aus meiner Sicht fatal. | |
Man könnte auch sagen: Die Zumutung, sich mit komplexen Fragen und | |
komplexer Politik zu beschäftigen, hat die Bürger erst von der Demokratie | |
entfremdet und populistische Parteien so erfolgreich gemacht. | |
Ich weiß natürlich, dass den meisten Menschen sehr viel, vielleicht zu | |
viel, zugemutet wird: Prekäre Arbeitsverhältnisse, ein kaputter Mietmarkt, | |
eine völlig heruntergewirtschaftete Bahn – die Liste ist lang. Es gibt also | |
gute Gründe für Frust und Entfremdung. Aber man könnte sich ja auch | |
Zumutungen vorstellen, die Mut machen, die uns besser machen. | |
Aber nicht jeder will sich politisch einbringen. | |
Das stimmt, und das ist auch verständlich. In modernen, liberalen | |
Gesellschaften gibt es natürlich ein Recht auf Desinteresse: Ich muss mich | |
weder für Kunst noch für Sport interessieren. Aber gilt das wirklich im | |
selben Maße für die Politik? Liberale würden wohl so argumentieren und | |
behaupten, es sei totalitär, Menschen die Politik aufzudrängen. In meinem | |
Buch habe ich versucht zu zeigen, dass das Einbeziehen und Rekrutieren von | |
Bürgerinnen und Bürgern jedoch zur Geschichte und zum Wesen der Demokratie | |
gehört. Es gibt Länder wie Belgien, die die Wahlpflicht haben, oder die | |
Schweiz, wo es eine Pflichtfeuerwehr gibt. Wenn also gesagt wird, eine | |
Wahlpflicht sei „unzumutbar“ und mit der Demokratie nicht vereinbar, ist | |
das schlicht empirisch falsch. | |
Sollten sich die Bürger auch wieder stärker mit dem Gemeinwesen | |
identifizieren? | |
Wenn immer mehr Menschen denken „Das ist nicht mein Staat“, ist das fatal. | |
Für das linke, progressive Lager war das lange eine gewisse | |
Herausforderung. Von Michel Foucault gibt es einen schönen Aufsatz über | |
‚Staatsphobie‘, in dem er zu zeigen versucht, dass die Neoliberalen und die | |
Anarchos etwas verbindet: eine ablehnende Haltung dem Staat gegenüber. Es | |
geht mir aber um die Ambivalenz, sich als Teil dieses Staates zu begreifen | |
und gleichzeitig die Fähigkeit zu behalten, den Staat zu hinterfragen und | |
infrage zu stellen. Sinnvoll scheint doch eine Beziehung loyaler | |
Opposition: weder populistischer Einklang noch Desinteresse oder Ablehnung, | |
sondern eine Art produktive Entfremdung. | |
Frank-Walter Steinmeier hat kürzlich einen „sozialen Pflichtdienst“ | |
gefordert, Sie schlagen einen „Nachhaltigkeitsdienst“ vor. Wie stellen Sie | |
sich das vor? | |
Für mich ist das eine Frage der Ansprache: Wenn Zumutungen plausibel und | |
kohärent formuliert und zugleich fair verteilt werden, werden sie meist | |
auch gemeinsam angepackt. In der Pandemie war etwa zu Beginn die | |
Bereitschaft sehr groß, sich einzuschränken. Ich glaube, dass wir gerade | |
beim Thema Nachhaltigkeit eine Riesenchance vergeben. Ein Bürgerdienst oder | |
Nachhaltigkeitsdienst würde die Gemeinwohlorientierung zur Routine werden | |
lassen. Die Rolle der citoyenne und des citoyen könnte anschaulich werden. | |
In Irland ist ein solcher Dienst schon länger in der Diskussion. | |
Winfried Kretschmann hat im Zusammenhang mit der Impfpflicht in der taz | |
gesagt, vielleicht müsse man den [2][„Hyperliberalismus überdenken“]. Er | |
sagte, „republikanische Freiheit“ beinhalte „neben Rechten immer auch | |
Pflichten, etwa Selbstbeschränkung, Solidarität, Verantwortung“. Ganz Ihre | |
Agenda, oder? | |
Da bin ich mir gar nicht so sicher. Beides ist republikanisch gedacht, aber | |
ich glaube, Appelle an die Tugend und die individuelle Verantwortung | |
reichen nicht aus. „Selbstbeschränkung“ könnte ja auch bedeuten, dass die | |
Probleme individualisiert werden. Mir geht es aber gerade um die | |
Institutionalisierung von Solidarität, um Verfahren der sozialen | |
Durchmischung, um die routinierte Orientierung am Gemeinwohl. | |
Als mögliche strukturelle Änderungen des demokratischen Prozesses werfen | |
Sie das von [3][David Van Reybrouck] entwickelte Modell des Losverfahrens | |
auf. Zudem diskutieren Sie Bürgerräte als aktuelle Entwicklung. | |
Die Idee ist natürlich älter, aber Van Reybrouck ist in der Tat der | |
energischste Befürworter. In Frankreich sehe ich die „Convention citoyenne | |
pour le climat“, die Beteiligungsplattform für mehr Nachhaltigkeit, als ein | |
Positivbeispiel. Die Vorschläge, die dort entstanden sind, sind wirklich | |
interessant, zum Beispiel soll Werbung für klimaschädliche Produkte | |
eingeschränkt und verboten werden. Zugleich sehe ich die Gefahr, dass der | |
Bürgerrat auch der Ort werden könnte, an dem die Bürgerinnen und Bürger | |
ihre „Politikbestellung“ besonders präzise aufgeben können. | |
Sie machen sich für Bürgerversammlungen stark, auch als Gegenentwurf zum | |
anonymen und unübersichtlichen Dialog im Netz. | |
Aus meiner Sicht ist das Framing dieser Veranstaltungen entscheidend: Sind | |
es Aufeinandertreffen, bei denen Menschen ihre Bestellung an die Politik | |
aufgeben? Oder werden sie mit Zumutungen konfrontiert? In dem Zusammenhang | |
finde ich die Haltung von Fridays for Future (FFF) der Politik gegenüber | |
sehr interessant. FFF ist eine globale Jugendbewegung, die sich nicht gegen | |
das Regiertwerden wendet, sondern das genaue Gegenteil einfordert. Foucault | |
meinte, zentral sei die Formel „Wir wollen nicht so regiert werden!“ Nun | |
aber hören wir: „Regiert uns endlich! Mutet uns etwas zu!“ Das ist ein | |
spannendes politisches Momentum, scheint mir. Zum ersten Mal werden nicht | |
weitere Liberalisierungen gefordert, sondern gewissermaßen | |
„Republikanisierungen“. | |
14 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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