# taz.de -- Rechte Hetze gegen Brosius-Gersdorf: Der lange vorbereitete Feldzug… | |
> Eine massive Kampagne von christlichen FundamentalistInnen hat die Wahl | |
> von Frauke Brosius-Gersdorf vorerst verhindert. Wer genau steckt | |
> dahinter? | |
Bild: Wo gegen das Recht auf Selbstbestimmung mobilgemacht wird, ist die AfD ni… | |
Berlin taz | Die Aufrufe aus der Anti-Choice-Szene an Politiker*innen | |
und Journalist*innen klingen dramatisch und teils wortgleich. „Sie | |
werden es nicht für möglich halten“, schreibt etwa die „Aktion SOS Leben�… | |
Anfang Juli per Mail über die Nominierung [1][der Juraprofessorin Frauke | |
Brosius-Gersdorf] zur Verfassungsrichterin: Eine „Ultra-Linke und | |
Abtreibungsaktivistin“ sei als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht | |
vorgesehen. Die SPD sei dabei, „einen links-grünen Putsch durchzuführen und | |
aus dem Bundesverfassungsgericht eine Zelle linker Agitation zu machen“. | |
Die Wahl von Brosius-Gersdorf wäre „katastrophal“, heißt es auch in einem | |
Brief der Aktion Lebensrecht für alle (ALfA) an Abgeordnete des Bundestags. | |
Brosius-Gersdorf, die Mitglied der Expert*innenkommission für die | |
Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen war, deute „ganz bewusst“ die | |
Verfassung um, um ideologische Ziele zu verwirklichen. So solle manchen | |
Menschen – Föten – Grundrechte abgesprochen werden. Ohne Kinder aber habe | |
ein „Staat keine Zukunft“. | |
Die Organisation 1000plus schreibt auf ihrer Website: „Das Unfassbare“ sei | |
eingetreten: Brosius-Gersdorf sei nominiert, obwohl sie sich „klar und | |
deutlich“ für die Legalisierung von Abtreibung ausgesprochen habe. Und die | |
internationale Kampagnenorganisation CitizenGo schreibt, die SPD versuche, | |
eine „radikale linke Lebensfeindin“ ins Bundesverfassungsgericht zu | |
bringen. | |
Das wollen die Vereine und Organisationen, die sich gegen | |
Schwangerschaftsabbrüche einsetzen, allerdings nicht hinnehmen – und | |
liefern die Instrumente, Brosius-Gersdorf zu verhindern, gleich mit. Grün | |
hinterlegt ist etwa auf der Seite von 1000plus ein Banner, auf dem steht: | |
„Schreiben Sie dem Unions-Abgeordneten Ihres Wahlkreises“. | |
## Druck auf Abgeordnete | |
Die Aktion SOS Leben lädt zum Klick auf eine Petition namens „Nein zu | |
Abtreibungsaktivisten im Bundesverfassungsgericht – Nein zu | |
Brosius-Gersdorf!“. Auf der Seite von CitizenGo heißt es: „Keine radikale | |
Lebensfeindin ins Bundesverfassungsgericht: Stimmen Sie gegen Frauke | |
Brosius-Gersdorf!“. Und die ALfA richtet sich per Brief förmlich und direkt | |
an die Abgeordneten des Bundestags: „Ich bitte Sie daher dringend, Frau | |
Brosius-Gersdorf nicht Ihre Stimme zu geben.“ | |
Die Stimmung, die die Vereine und Organisationen aus der Anti-Choice-Szene | |
gegen Brosius-Gersdorf gemacht haben, [2][zeigte bekanntermaßen Wirkung] – | |
flankiert noch durch Hetze etwa der AfD-Bundestagsabgeordneten Beatrix von | |
Storch. Die behauptete bei der Generaldebatte im Bundestag vergangene | |
Woche, Brosius-Gersdorf spreche einem neun Monate alten Fötus keine | |
Menschenwürde zu. Auf „Nius“, dem rechten Portal des ehemaligen | |
Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt, sind seit Anfang Juli mehr als 20 | |
Texte erschienen, die gegen die „Richterin des Grauens“ mobilmachten. | |
Bei Redaktionsschluss stand die Petition auf CitizenGo bei 146.000 | |
Unterschriften. 37.000 E-Mails, so die Organisation 1000plus, seien an | |
Unionsabgeordnete versandt worden. „Sie haben es geschafft!“, jubelt | |
deshalb der Vorsitzende Kristijan Aufiero, nachdem die Wahl der | |
RichterInnen am Freitag abgesagt wurde, obwohl sich die Koalition zuvor | |
darauf verständigt hatte: Die Unionsfraktion habe angekündigt, | |
Brosius-Gersdorf nicht zu wählen. | |
Aufiero, das am Rande, war im Februar als Sachverständiger für die AfD | |
[3][bei einer Anhörung im Rechtsausschuss zu Schwangerschaftsabbrüchen | |
geladen]. Und auf CitizenGo heißt es: Dass die Wahl von Brosius-Gersdorf | |
verhindert worden sei, sei „ein großer Sieg für den Lebensschutz für die | |
nächsten zwölf Jahre“. | |
Die konzertierte Kampagne gegen Brosius-Gersdorf ist kein Zufall. | |
Ultrakonservative ChristInnen, die mit der autoritären und extremen Rechten | |
gemeinsame Sache machen, [4][arbeiten seit Jahren] an einem Rollback von | |
Frauenrechten und Rechten von LGBTIQ in Europa. | |
## Finanzstarkes Netzwerk | |
Erst Ende Juni hatte ein progressiver Thinktank, das Europäische | |
Parlamentarische Forum für sexuelle und reproduktive Rechte (EPF), einen | |
Bericht namens [5][„Die nächste Welle“] vorgelegt. Darin beschreibt | |
EPF-Geschäftsführer Neil Datta ein weit verzweigtes Netzwerk, dem unter | |
anderem AktivistInnen der sogenannten Lebensschutzszene, religiöse | |
ExtremistInnen, extrem rechte PopulistInnen und AristokratInnen angehören, | |
teils enorm finanzkräftig. | |
Zwischen 2019 und 2023, so der EPF-Bericht, wurden von 275 Organisationen | |
Mittel in Höhe von fast 1,2 Milliarden Dollar aufgebracht, die in Europa an | |
Anti-Gender-Initiativen beteiligt waren – also solchen, die gegen | |
Schwangerschaftsabbrüche und Rechte von LGBTIQ sowie gegen | |
Geschlechtergleichheit mobilmachen. Den AktivistInnen, so das EPF, gehe es | |
darum, „Jahrzehnte von hart erkämpften sexuellen und reproduktiven Rechten | |
in ganz Europa zu demontieren“. | |
Eine Organisation, deren Name dabei immer wieder fällt, ist CitizenGo – | |
eine derjenigen also, die auch gegen Brosius-Gersdorf mobilmachen. | |
CitizenGo ist nicht irgendeine Plattform. Schon 2013 schreibt der spanische | |
Anti-Abtreibungs-Aktivist Ignacio Arsuaga, Gründer von CitizenGo: Die | |
Plattform solle „die einflussreichste internationale christlich inspirierte | |
Mobilisierungswebsite“ werden. Eine, die „nationale Regierungen, Parlamente | |
und internationale Institutionen effektiv beeinflusst“. Über die Dokumente, | |
in denen Arsuaga das schrieb, zudem über Adresslisten, Finanzberichte und | |
Strategiepapiere von [6][CitizenGo berichtete die taz bereits 2021], sie | |
liegen ihr vor. | |
## Das Gute und das Böse | |
Rechtlich ist CitizenGo eine in Spanien eingetragene Stiftung. Sie setzt | |
sich ein für „Leben, Familie und Freiheit“, so steht es auf der Website. | |
Intern ist die Darstellung martialischer: Die Organisation sieht sich in | |
einem Kulturkampf, zwischen der Kultur des Lebens und der des Todes, Gut | |
gegen Böse. Das Böse sind für CitizenGo unter anderem Menschen, die sich | |
für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche einsetzen – das Gute sind die | |
„wahren“ ChristInnen, die den Kampagnen der globalen Linken etwas | |
entgegensetzen. Deshalb will CitizenGo „eine Generation von konservativen | |
Führern“ aufbauen, national und international. | |
Der Aktivismus von CitizenGo hat sich seit 2013 deutlich | |
professionalisiert. Dabei nutzt die Organisation Daten von | |
FundamentalistInnen und LGBTIQ-GegenerInnen als Währung, knüpft Kontakte zu | |
rechtsextremen Parteien und nimmt immer mehr Einfluss – unter anderem auf | |
das Europäische Parlament. Dort erinnert eine Aktion von CitizenGo schon | |
Ende 2013 frappierend an die konzertierte Kampagne gegen Brosius-Gersdorf | |
im Juli 2025. | |
Damals sollte nicht das deutsche, sondern das Europäische Parlament | |
abstimmen, nicht über eine Richterin, sondern über ein Papier: eines, in | |
dem sich das EU-Parlament dazu bekennt, dass allen Europäer*innen der | |
Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und Sexualaufklärung zusteht. Dreimal | |
steht das Papier zur Entscheidung, dreimal wird es abgelehnt – eine herbe | |
Niederlage für viele Sozialdemokrat*innen, Linke und Liberale im | |
EU-Parlament. | |
Die Strategie, mit der CitizenGo damals vorging, hat sich bewährt: | |
Christlich-fundamentalistische und rechte AktivistInnen fluten die Post- | |
und E-Mail-Eingänge von Abgeordneten mit Mails und Petitionen, innerhalb | |
kürzester Zeit sammeln sie Unterschriften. Bis 2013 ist eine solche | |
Mobilisierung für die europäische Rechte beispiellos. Heute übernehmen die | |
Strategie von CitizenGo längst Vereine und Organisationen wie ALfA, | |
1000plus und Aktion SOS Leben. | |
## Jens Spahn: Mittendrin statt nur dabei | |
Das Thema Geschlechterpolitik funktioniert dabei als Scharnier. Es ist zum | |
einen anschlussfähig an die gesellschaftliche Mitte, zum anderen Kernthema | |
der Rechten. Rechte Politik ist ohne die Kontrolle weiblicher Körper nicht | |
denkbar, schließlich geht es dabei auch um Reproduktion von Bevölkerung, um | |
eine „Willkommenskultur für Kinder“, wie etwa die AfD in ihrem Wahlprogramm | |
schreibt – deutsche Kinder, versteht sich. | |
Dabei erinnert der Kampf um die Besetzung von RichterInnenposten an die | |
USA, wo US-Präsident Donald Trump in seiner ersten Amtszeit | |
ultrakonservative RichterInnen für den Obersten Gerichtshof ernannte. | |
Dieser kippte in der Folge 2022 in einem Grundsatzurteil das Recht auf | |
Schwangerschaftsabbruch im Land. Auch hierzulande, [7][so der Soziologe] | |
und Antifeminismus-Experte Andreas Kemper, versuche die Bewegung, die | |
eigenen Ziele über konservative und rechte RichterInnen zu flankieren – und | |
liberale RichterInnen zu verhindern. | |
Fraktionschef Jens [8][Spahn musste in den vergangenen Tagen viel Kritik] | |
dafür einstecken, die Stimmung in der Fraktion entweder [9][falsch | |
eingeschätzt oder seine Fraktion nicht im Griff zu haben], vielleicht auch | |
beides. Interessant dabei ist allerdings auch Spahns eigene Positionierung | |
zu Schwangerschaftsabbrüchen. | |
2019 hatte er als Gesundheitsminister eine Studie in Auftrag gegeben, die | |
zunächst „die seelischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen“ untersuchen | |
sollte. Dieses sogenannte „Post-Abortion-Syndrom“ behauptet etwa, dass | |
Frauen von Abtreibungen krank werden, zum Beispiel schwere Depressionen | |
bekommen. Es gilt als Erfindung der US-amerikanischen Anti-Choice-Bewegung | |
aus den 1980ern Jahren und ist wissenschaftlich längst widerlegt. | |
Im Januar 2020 [10][postete zudem die Vorsitzende der ALfA], Cornelia | |
Kaminski, die nun Stimmung gegen Frauke Brosius-Gersdorf macht, ein Foto | |
auf Facebook. Man sieht Kaminski dort eng neben Jens Spahn stehen, beide | |
lächeln freundlich-beschwingt in die Kamera. | |
Während sich das Gesundheitsministerium damals nicht zu „einzelnen Fotos“ | |
äußern wollte, freute sich die ALfA offensichtlich über den Kontakt. „Beim | |
Künzeller Treffen der CDU Hessen in Fulda“, beschrieb Kaminski das Bild. | |
Und: „Ein gutes Gespräch.“ | |
14 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Wahl-der-VerfassungsrichterInnen/!6100685 | |
[2] /Wahl-von-Verfassungsrichterinnen/!6097091 | |
[3] /Liberaleres-Abtreibungsrecht/!6068994 | |
[4] /Europas-Antifeministisches-Netzwerk/!5498934 | |
[5] https://www.epfweb.org/node/1147 | |
[6] /Online-Petitionen-gegen-Abtreibung/!5786746 | |
[7] /Soziologe-ueber-AbtreibungsgegnerInnen/!6096111 | |
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## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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