# taz.de -- Ukrainische Literatur im Deutschen: Die Ukraine als Subjekt | |
> In der BRD und in der DDR hatte Literatur aus der Ukraine lange einen | |
> schweren Stand. Die Geschichte ihrer Übersetzung ist eine mit vielen | |
> Leerstellen. | |
Bild: Studierende in Odessa halten ein Porträt des ukrainischen Nationaldichte… | |
Als „terra incognita“ bezeichnete der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel | |
einmal die Ukraine und monierte damit auch die fehlende Ukraine-Kompetenz | |
in Deutschland – nicht nur im politischen, auch im kulturhistorischen | |
Bereich. Denn auch über ukrainische Literatur weiß man hierzulande wenig. | |
Wäre das anders, hätte man vielleicht früher die Ukraine als Subjekt und | |
nicht nur Objekt ihrer eigenen Geschichte begriffen und nicht | |
ausschließlich aus russischer Perspektive betrachtet. Und einige politische | |
Entscheidungen der letzten zehn Jahre wären sicher anders ausgefallen. | |
Die Geschichte der ukrainischen Literatur in deutscher Übersetzung ist vor | |
allem eine mit vielen Leerstellen. Denn was haben Taras Schewtschenko, | |
Lesja Ukrainka, Mykola Chwylowyj und Lina Kostenko gemeinsam? Sie zählen zu | |
den Klassikern ukrainischer Literatur – und sind in Deutschland so gut wie | |
unbekannt. Ukrainische Autor*innen – von einigen zeitgenössischen wie | |
[1][Serhij Zhadan] oder Juri Andruchowytsch abgesehen – wurden kaum ins | |
Deutsche übersetzt. Es fehlte an Interesse. Und da Ukrainisch | |
jahrzehntelang nicht an deutschen Unis unterrichtet wurde, auch an | |
Übersetzer*innen. | |
In der alten Bundesrepublik waren es zwei Übersetzerinnen, die ihr Leben | |
lang mit dem absoluten Desinteresse der literarischen deutschen | |
Öffentlichkeit an ukrainischer Literatur zu kämpfen hatten. Die eine war | |
Elisabeth Kottmeier. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war sie über den in | |
einem Lager für „displaced persons“ lebenden Schriftsteller Ihor Kostetzky | |
zur ukrainischen Literatur gekommen. 1956 erschien der „Trojanden-Roman“ | |
des Exil-Autors Wassyl Barka im Mannheimer Kessler-Verlag in ihrer | |
Übersetzung. Ein Jahr später gab sie die Lyrik-Anthologie „Weinstock der | |
Wiedergeburt“ heraus. Ukrainisch beherrschte sie dabei gar nicht aktiv, wie | |
Petra Köhler im Germersheimer Übersetzerlexikon schreibt: „Die Frage, wie | |
sie denn dann überhaupt übersetzen könne, wurde ihr oft gestellt. Sie | |
antwortete dann selbstbewusst:,Ich kann Deutsch'.“ | |
## Der Einfluss der Sowjetunion auf die deutschen Linken | |
Ihre Übersetzungen machte sie auf der Grundlage von | |
Interlinearübersetzungen, die sie mit Kostetzky gemeinsam erstellte. Sie | |
erschienen anschließend in ukrainischen Literaturzeitschriften | |
verschiedener Länder von Argentinien bis Kanada. In Deutschland hingegen | |
war man wenig interessiert: „Oft können oder wollen auch gebildete | |
Chefredakteure den Unterschied zwischen russischer und ukrainischer | |
Sprache und Dichtung nicht verstehen. Der Kalte Krieg einerseits und der | |
Einfluss der Sowjetunion auf die deutschen Linken tun ein Übriges“, so | |
Petra Köhler. | |
Eine aufschlussreiche Bemerkung, denn Sowjetunion wurde in der alten | |
Bundesrepublik häufig mit Russland gleichgesetzt. Und während in der UdSSR | |
diskreditierte Bücher russischer Autoren wie Alexander Solschenizyn und | |
Joseph Brodsky hohe Auflagen erreichten, blieb Olesj Hontschars | |
ukrainischer Roman „Der Dom von Satschipljanka“, 1970 in Kottmeiers | |
Übersetzung bei Hoffmann und Campe erschienen, fast unbemerkt. Dabei | |
gehörte er laut Klappentext zu den „meistumstrittenen Büchern der | |
Sowjetunion“. | |
Auch Anna-Halja Horbatsch kämpfte zeitlebens mit der Ignoranz nicht nur der | |
linken Bildungselite in der alten Bundesrepublik in Bezug auf ukrainische | |
Literatur. Die aus der Bukowina stammende Slawistin hatte seit den 1950er | |
Jahren mühsam einige Übersetzungen in deutschen und Schweizer Verlagen | |
untergebracht, als sie mit Beginn der deutschen Ostpolitik 1970 beauftragt | |
wurde, einen Sammelband ukrainischer Literatur zu übersetzen. („Ein Brunnen | |
für Durstige und andere ukrainische Erzählungen“, Erdmann-Verlag). Zum | |
ersten Mal zeigte der westdeutsche Buchmarkt Interesse an nichtrussischer | |
Literatur aus der UdSSR. Doch das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), | |
das den Band finanzierte, forderte, wie Horbatsch sich später erinnerte, | |
dass die „vorzubereitende Anthologie auf keinen Fall die Originalität der | |
ukrainischen Literatur betonen dürfe. Es solle unbedingt der Eindruck | |
vermieden werden, dass die Publikation separatistische Bestrebungen | |
innerhalb der SU unterstütze.“ | |
## Klassiker und Dissidenten | |
Mitte der 1990er gründete Horbatsch den nach ihrem Geburtsort Brodina | |
benannten Verlag, bei dem sie 17 Bücher in eigener Übersetzung | |
herausbrachte. Darunter sowohl ukrainische Klassiker als auch Werke | |
ukrainischer Dissidenten wie des Lyrikers Wassyl Stus, der noch 1985 in | |
einem sowjetischen Lager starb. Ein größeres Lesepublikum erreichte sie | |
damit allerdings nicht. | |
Auch in der DDR wurde Ukrainisch nicht an Hochschulen unterrichtet. Doch | |
sowohl beim Aufbau Verlag als auch bei Volk und Welt erschienen ab den | |
1960er Jahren einige vor allem zeitgenössische ukrainische Bücher. Die | |
Slawistin Antje Leetz war bei Volk und Welt zwischen 1970 und 1985 Lektorin | |
für russische und ukrainische Literatur. Eigentlich hatte sie zur | |
Vorbereitung auf den Job ein Semester lang Ukrainisch in Kyjiw lernen | |
sollen. Doch dort war man der Meinung, dass sich die Sprache nicht | |
innerhalb weniger Monate erlernen ließe, und so kam Leetz nach Moskau. | |
Vorschläge für die Bücher bekam Volk und Welt, anders als im Westen, nicht | |
von den Übersetzern, sondern vom ukrainischen Schriftstellerverband. | |
Außerdem bezog man zwei ukrainische Literaturzeitschriften, die von | |
externen Gutachtern ausgewertet wurden. Einer von ihnen war der Slawist und | |
Übersetzer Rolf Göbner, der Ukrainisch offenbar bei wiederholten | |
Aufenthalten in Kyjiw gelernt hatte. Der andere, Oleg Kolinko, war | |
Journalist aus Kyjiw, der mit seiner Frau Ingeborg zahlreiche Bücher | |
übersetzte. Weitere DDR-Übersetzer*innen waren die aus der Ukraine | |
stammende Larissa Robiné sowie das Ehepaar Traute und Günter Stein. | |
## Keine regimekritische Literatur in der DDR | |
Die meisten ukrainischen Bücher, die in der DDR erschienen, waren im | |
ländlichen Milieu angesiedelt oder bezogen sich auf den Zweiten Weltkrieg. | |
Damit wurde das Bild einer eher bäuerlichen Kultur vermittelt, das auch in | |
der Sowjetunion gepflegt wurde. Regimekritische Literatur wurde in der DDR | |
nicht gedruckt. Leetz und Kolinko hatten auch keine Kontakte in diese | |
Literaturszene. Klassiker erschienen so gut wie keine. Und nicht zuletzt | |
wurden einige Werke der ukrainischen Literatur über den Umweg aus dem | |
Russischen übersetzt, weil es schlicht an Ukrainisch-Übersetzer*innen | |
mangelte. So blieb auch in der DDR die Auswahl an ukrainischer Literatur | |
überschaubar, allerdings mit höheren Auflagen als im Westen. | |
Nach der Unabhängigkeit der Ukraine entstand in Deutschland an der | |
Universität Greifswald 1992 erstmals ein Lehrstuhl für Ukrainistik. Doch | |
ukrainische Bücher kamen so gut wie keine mehr auf den Markt. Das änderte | |
sich allmählich, als die Lektorin Katharina Raabe bei Suhrkamp begann, das | |
osteuropäische Verlagsprogramm aufzubauen. Von ukrainischer Literatur | |
erfuhr sie über den Umweg Polen, wo bereits einige Werke in polnischer | |
Übersetzung erschienen waren. Den Anfang machte 2003 [2][Juri | |
Andruchowytschs] „Das letzte Territorium“, ihm folgten Werke von Serhij | |
Zhadan, Ljubko Deresch und anderen. | |
Mittlerweile erscheinen ukrainische Bücher auch in anderen Verlagen, gibt | |
es in Deutschland mit Claudia Dathe, Sabine Stöhr, Alexander Kratochvil und | |
Lydia Nagel, später dann auch mit Beatrix Kersten, Annegret Becker, Lukas | |
Joura und Jakob Wunderwald längst eine neue Generation von qualifizierten | |
Übersetzer*innen. | |
Doch trotz des großen Krieges, den Russland seit Februar 2022 gegen die | |
Ukraine führt, ist für die meisten großen deutschen Verlage ukrainische | |
Literatur noch immer ein weißer Fleck im Programm. Oder, wie es die | |
Schriftstellerin Oksana Sabuschko schreibt: „Es dreht sich immer noch um | |
Russland. Die Ukraine als vollwertiges Subjekt ihrer Geschichte und des | |
Geschehens ist auch in den Kriegsjahren nicht zum Gegenstand eines | |
gesteigerten Interesses oder einer gründlichen Revision geworden“. | |
Der Text entstand im Rahmen eines Stipendienprogramms des | |
Pilecki-Instituts. | |
26 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Gaby Coldewey | |
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