| # taz.de -- Russische Buchbranche in Bedrängnis: Die Angst ist überall | |
| > Weil sie „Aktivitäten der LGBT-Bewegung propagiert“ haben sollen, sind | |
| > drei Verlagsmitarbeiter in Moskau unter Hausarrest. Bis zu zwölf Jahre | |
| > Haft drohen ihnen. | |
| Bild: Der große Bruder hört mit: Kun d:Innen im Moskauer Kaufhaus GUM beim Bu… | |
| Moskau taz Der 16-jährige Jura trifft 1986 in Charkiw, damals noch | |
| sowjetisch, auf den 19-jährigen Wolodja. Es ist Sommerzeit, | |
| Pionierlagerzeit. Strenges Regiment. Alles ist durchgetaktet, frühes | |
| Aufstehen, Sport, Fahnenappell, liebliche Lieder von der „hellen Zukunft“. | |
| Jura und Wolodja aber interessieren sich nur füreinander. Es entwickelt | |
| sich eine jugendlich zarte Liebesgeschichte. Eine Geschichte, die nicht | |
| sein darf in der Sowjetunion. Die auch im heutigen Russland nicht sein | |
| darf, da das Oberste Gericht des Landes im November 2023 die | |
| [1][„internationale LGBT-Bewegung“] – was das sein soll, erläuterten die | |
| Richter nicht – für „extremistisch“ erklärt hatte. | |
| Als die beiden jungen Autorinnen Katerina Silwanowa, mittlerweile lebt sie | |
| in der Ukraine, und Jelena Malissowa, die im Exil in Berlin ist, die | |
| Geschichte von Jura und Wolodja 2010 unter dem Titel „Ein Sommer im | |
| Pionierhalstuch“ im Internet veröffentlichten, galt Homosexualität in | |
| Russland zwar weiterhin als „anrüchig“, doch Gesetze gegen | |
| „LGBT-Propaganda“ gab es noch nicht. | |
| ## Queerer Bestseller 2021 in Russland | |
| 2021 publizierte der Moskauer Verlag Popcorn Books die Geschichte über die | |
| Liebe der beiden Pioniere als Jugendbuch. Es wurde zum Bestseller. | |
| Mittlerweile ist es unter dem Titel „Du und ich und der Sommer“ in der | |
| Verlagsgruppe Penguin Random House auch auf Deutsch erschienen, weitere | |
| Erzählungen der Liebestrilogie folgten. | |
| In Russland findet sich [2][„Ein Sommer im Pionierhalstuch“] in keiner | |
| Buchhandlung mehr. Es liegt auf Polizeistationen und in Gerichten, als | |
| Beweisstück in einem weiteren kafkaesken Gerichtsprozess, mit dem das | |
| russische Regime jeden Bereich im Land auf Linie zu bringen versucht. | |
| Angefangen hatte es Mitte Mai, als Polizist*innen den Moskauer Verlag | |
| Eksmo durchsuchten. Mehrere Mitarbeiter*innen, auch ehemalige, wurden | |
| abgeführt und stundenlang verhört. Der Verlag – er gehört zum zweitgrößt… | |
| in Russland – hatte kurz zuvor die beiden kleineren Verlage Popcorn Books | |
| und Individuum gekauft. „Wir haben immer im Rahmen des Gesetzes | |
| gearbeitet“, schrieben Mitarbeiter*innen des Individuum-Verlags an dem | |
| Durchsuchungstag auf Telegram. Seitdem sind sie still. | |
| Ihr einstiger Verkaufsleiter Pawel Iwanow, aber auch der jetzige | |
| Geschäftsführer Dmitri Protopopow und der Verkaufsleiter Artjom Wachljajew | |
| stehen derzeit unter Hausarrest. Weil sie angeblich „aus Eigennutz“ Bücher | |
| veröffentlicht und verkauft hätten, die die „Aktivität der LGBT-Bewegung | |
| propagieren“, drohen ihnen bis zu zwölf Jahre Haft. | |
| ## Noch mehr Selbstzensur | |
| Als schwarze Zeit für unabhängige Verlage bezeichnen Kenner*innen der | |
| russischen Buchbranche die Festnahme. Sie rechnen mit der Verschärfung der | |
| Risikobewertung von Büchern und mit noch mehr Selbstzensur in den | |
| Verlagshäusern. | |
| Gleich nach den Durchsuchungen verschickte Eksmo eine Liste an Buchläden, | |
| welche Bücher diese am besten aus den Regalen „entsorgen“ sollten. „Ein | |
| Sommer im Pionierhalstuch“ stand da genauso drauf wie Alice Osemans | |
| Webcomicserie „Heartstopper“, Benjamin Alire Sáenz’ „Aristoteles und D… | |
| entdecken die Geheimnisse des Universums“ oder Becky Albertallis | |
| „Creekwood“-Buchreihe. Alles Erzählungen über die Liebe zwischen Jungen. | |
| Die Verlagsbranche war aufgeschreckt. Anzeichen aber, dass auch ihre Arbeit | |
| ins Visier der Behörden geraten würde, gab es bereits Monate vorher zuhauf. | |
| Mal durchsuchten Ermittler einen unabhängigen Buchladen in Nowosibirsk in | |
| Sibirien, mal einen in Sankt Petersburg und immer wieder Buchläden in | |
| Moskau. Polizisten übergaben Listen an die Betreiber*innen, welche Werke | |
| aus ihren Regalen zu verschwinden hätten. | |
| ## Grauzone der „unzuverlässigen Bücher“ | |
| Es gibt längst eine Grauzone der „unzuverlässigen Bücher“. Von den Behö… | |
| gibt es keine klaren Vorgaben. So versucht jeder/r, sich selbst zu | |
| schützen, weil alle zu wissen glauben, was lieber im Verborgenen bleiben | |
| sollte. Denn die Angst ist überall, niemand will denunziert werden, niemand | |
| will sich dafür vor Gericht verantworten müssen, einmal das „falsche“ Buch | |
| in der Öffentlichkeit aufgeschlagen zu haben. | |
| Seit Russland die Ukraine überfallen hat und Regimekritiker*innen zu | |
| „ausländischen Agenten“, „unerwünschten Organisationen“ und „Extrem… | |
| abstempelt, verschwinden in den Buchläden ganze Bücherregale. Manche Bücher | |
| werden in undurchsichtiges Papier gepackt, mit einem dickem | |
| „Agenten“-Stempel versehen und so doch noch verkauft. Das aber dürfte nach | |
| dem „Fall Eksmo“ immer seltener vorkommen. | |
| In den Bibliotheken wird seit Monaten manches – von „Agenten“, oder | |
| „Extremisten“, wegen „LGBT-Propaganda“ oder „Childfree-Propaganda“ … | |
| „Sonderlager gebracht. Sie werden mit dem sogenannten „Status 5“ versehen | |
| und dürfen nicht mehr an Leser*innen ausgegeben werden. | |
| Es ist eine Realität, an die sich die Menschen im Land angepasst haben. | |
| „Welches Buch schlage ich in der Metro noch auf? Welches kann ich noch | |
| verschenken?“, fragen sie sich. Derweil füllen sich in den Läden die Regale | |
| mit Büchern von sogenannten Z-Autor*innen, die den Krieg gegen die Ukraine | |
| verherrlichen. | |
| ## Kapitel geschwärzt in Pasolini-Biographie | |
| Verleger*innen bewerten längst jedes einzelne Buch juristisch auf | |
| vermeintlich heikle Stellen. Vor einem Jahr hatte der AST-Verlag ein ganzes | |
| Kapitel von Roberto Carneros Pasolini-Biografie geschwärzt, weil es auf den | |
| Seiten um die Homosexualität des italienischen Regisseurs ging. | |
| Der Verlag Samokat hatte vor einigen Wochen verschiedene Buchläden gebeten, | |
| mehr als 20 seiner Werke aus dem Verkauf zu nehmen. Es sind Geschichten | |
| über queere Liebe, über Krieg, über Feminismus. Aus manchem Verlag heißt es | |
| mittlerweile, klare Vorgaben, was erlaubt sei und was verboten, wären | |
| hilfreich. Das würde letztlich zu einer Zensurbehörde führen. | |
| 5 Jun 2025 | |
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| Inna Hartwich | |
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