| # taz.de -- Leipziger Literaturtage: Konkurrierende Gedächtnisse | |
| > Die Erinnerungen an Osteuropa sind umkämpft. Wie kann Literatur trösten, | |
| > wenn Geschichte zur Waffe wird? Darüber wurde bei den Leipziger | |
| > Literaturtagen diskutiert. | |
| Bild: Gedenken in Warschau 2023: Demo zum 80. Jahrestag des Wolhynien-Massake… | |
| Auch nach 35 Jahren reißen die Erzählungen über die unterschiedlichen | |
| Erfahrungen in Ost- und Westdeutschland in der Literatur nicht ab. Doch | |
| läuft man dabei hierzulande auch Gefahr, das Erleben nach dem Mauerfall | |
| jenseits der deutsch-deutschen Grenzen aus dem Blick zu verlieren. | |
| Immerhin ging mit ihm auch der Zusammenbruch des Ostblocks und der | |
| Sowjetunion einher. Und damit auch eines Vielvölkerstaates, dessen | |
| kurzzeitige Aufbruchstimmung schnell ein jähes Ende fand – allerspätestens | |
| mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. | |
| Bei der fünften Leipziger Debatte im Literaturhaus Leipzig kamen nun fünf | |
| Menschen ins Gespräch, die als Übersetzerinnen, Schriftstellerinnen und | |
| Wissenschaftlerinnen ihre ganz eigenen Perspektiven auf diesen | |
| osteuropäischen Erfahrungsraum mitbringen. Die Devise von Ingo Schulze, der | |
| die Veranstaltung als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und | |
| Dichtung ins Rollen gebracht hat: „Sprechen statt schreien, zuhören, statt | |
| die Ohren zu verschließen, zusammentreffen, statt den Dialog zu | |
| verweigern.“ | |
| ## Sprechen statt schreien | |
| Die als Debatte ausgewiesene Veranstaltung kommt eher als Fragerunde daher, | |
| die von den Übersetzerinnen Olga Martynova und Margherita Carbonaro | |
| geleitet wird. So gleichen die Beiträge der Podiumsgäste eher kleinen | |
| Inputs, was der Runde aber in Anbetracht der vielen Perspektiven und | |
| Hintergründe, die es zu verstehen gilt, keinen Abbruch tut. Es ist eine | |
| ruhige, eine nachdenkliche, aber auch eine inspirierende Runde, die hier zu | |
| Wort kommt und sich zunächst der eigenen Arbeit im Zeichen des russischen | |
| Angriffskriegs widmet. | |
| Denn der sorgt auch in Polen für reale Ängste. Davon bleibt die Arbeit des | |
| polnischen Lyrikers Tadeusz Dąbrowski nicht unbeeinflusst. Seine Arbeit | |
| begreift er dennoch als unpolitisch, besser „überpolitisch“. [1][Gedichte | |
| seien schließlich Orte], an denen sich die Kleinen und die Großen, die | |
| Armen und die Reichen, die Rechten und die Linken die Hände reichen. | |
| Der Schriftstellerin Marica Bodrožić hingegen verschlägt der derzeitige | |
| Anblick der Welt samt der permanenten „Umkehrungen von Wahrheit und Lüge | |
| und dem Verlust eines Liebesblicks“ die Sprache. Was einst bei der | |
| Belagerung von Sarajevo passierte, setzte sich auch in Mariupol fort. | |
| Orientierung in diesen Zeiten bieten Bodrožić die Gedächtnisse der | |
| Menschen, denn sie sind für die Autorin „ein Ort, der die Zeiten | |
| miteinander verbindet“. | |
| Doch wie steht es um diejenigen, deren Arbeit nicht zwangsläufig im | |
| Schreiben, sondern im Erforschen der Literatur besteht? Wie sieht die | |
| Kultur- und Literaturwissenschaft [2][über den ostslawischen Kulturraum in | |
| Zeiten] aus, in denen die Deutungshoheit eng an nationale Grenzen und | |
| Identitäten geknüpft ist? | |
| ## Die Unfreiheit der Wissenschaft | |
| Slawistin Tatjana Hofmann sieht dies als eine Herausforderung. Ihr Traum | |
| wäre es, mehr mit Kolleg*innen aus anderen Ländern zusammenzuarbeiten. | |
| Doch was das anbelangt, „sind die Strukturen sehr einschränkend, ist die | |
| Wissenschaft eben doch nicht so frei“. Allein schon, weil man viel Zeit mit | |
| dem Schreiben von Anträgen verbrächte. | |
| Vielleicht auch deshalb hat Hofmann angefangen, die Form des | |
| wissenschaftlichen Aufsatzes ein wenig aufzulockern und Essays, | |
| beispielsweise über die Halbinsel Krim, zu schreiben – einem nicht nur | |
| politisch, sondern auch kulturell umkämpften Gebiet. | |
| Doch nicht nur die Krim, nicht nur die Ukraine, ganz Osteuropa ist zu einem | |
| Raum konkurrierender Gedächtnisse geworden, wie Übersetzerin Margherita | |
| Carbonaro feststellt. Kann man deshalb auch schon konkrete Veränderungen in | |
| Sprache und Landschaften wahrnehmen? | |
| Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Ievgeniia Voloshchuk, die zu | |
| Transkulturalität forscht, hält das für verfrüht. Selbst die besten | |
| [3][Bücher über den Ersten Weltkrieg] seien zeitlich viel später | |
| entstanden: „Es braucht zuerst Abstand.“ Wie schwer die Veränderungen im | |
| Gedächtnis der Menschen auch mit Blick auf die Landschaften sind, zeigt | |
| laut Voloshchuk die Region Galizien. | |
| Bis heute gelte sie als Wiege des ukrainischen Nationalismus, dies | |
| überdecke aber die historische Multikulturalität der Region. Denn Galizien | |
| war bis zum Zweiten Weltkrieg ein multiethnischer Raum, in dem Ukrainer, | |
| Polen, Juden und Deutsche lebten und wirkten. | |
| [4][Was kann Literatur in diesen Zeiten also ausrichten?] Das Schöne an ihr | |
| sei „das gemeinsame Gedächtnis“, dieses Gedächtnis der Emotionen, wie die | |
| russische Übersetzerin Tajana Baskakova es nennt. Mit der Literatur können | |
| man den Dingen entgegenwirken, den Menschen aber auch lehren, andere | |
| Menschen zu verstehen. | |
| 12 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Hoffmeister | |
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