# taz.de -- Was bleibt von der Literatur?: Schreibend die Welt ein bisschen zus… | |
> Das neue Buch von Maxim Biller erzählt vom Leben des tschechischen | |
> Schriftstellers Jiří Weil. Unsere Autorin hat eine ganz spezielle | |
> Beziehung zu ihm. | |
Bild: Maxim Biller erzählt in seinem neuen Buch die Geschichte des tschechisch… | |
Ich weiß nicht mehr, worauf wir gewartet hatten. Ich weiß nur, dass | |
plötzlich etwas nicht mehr stimmte. Ein Mann war an uns vorbeigelaufen, | |
etwas an seiner Haltung, seinem Blick, ließ mich aufstehen. Auch mein | |
Tschechischlehrer folgte ihm – erst wortlos, dann mit einem aufgeregten | |
„Entschuldigung“. Wenige Minuten später war alles anders. Der Mann war | |
nicht mehr. | |
In unserem kleinen Tschechischkurs, in mir, war nichts mehr wie vorher. Für | |
mich ist die Sprache, die wir lernten, das Tschechische, bis heute mit | |
diesem Erlebnis verbunden. | |
Ich erinnere mich an die Tage danach, in denen ich mich wie aus der Welt | |
gefallen fühlte. Ich lief einsam durch die Hamburger Innenstadt, in einen | |
Buchladen, und griff, ohne zu wissen warum, zu einem Roman von Jiří Weil: | |
[1][„Mendelssohn auf dem Dach“]. Ein Name, der mir bis dahin nichts sagte. | |
Ich nahm das Buch mit, da ich mich zum Tschechischen hingezogen fühlte, | |
weil es mich in diesem Ausnahmezustand irgendwie berührte, noch bevor ich | |
eine Seite gelesen hatte. | |
Jiří Weil: jüdisch-tschechischer Schriftsteller, überzeugter Kommunist, | |
während der stalinistischen Säuberungen verbannt, unter deutscher Besatzung | |
entrechtet. Die Nationalsozialisten zwangen ihn in die Identität Georg | |
Israel, seine Scheinehe schützte ihn nicht mehr. Um der Deportation zu | |
entgehen, täuschte Weil einen Suizid vor – und lebte anschließend versteckt | |
in Prag, halb verhungert, zwischen Leben und Tod. | |
## Ruhm verweigert | |
Damals, im Buchladen, wusste ich all das nicht. Und doch schließt sich | |
rückblickend ein seltsamer Kreis. Ein Zufall, der sich in mir festgesetzt | |
hat. Sein Roman, seine Geschichte – sie heilten nicht, aber sie hielten | |
mich. | |
Viele Jahre später begegnete mir Weil wieder, als Figur in Maxim Billers | |
neuer Novelle [2][„Der unsterbliche Weil“.] | |
Ein poetisches Kunstwerk, durchbrochen von melancholischen Fotografien. Wir | |
begleiten einen Mann in seinen Erinnerungen, der kurz vor seinem Tod steht. | |
Biller bringt einen Vergessenen zurück, einen, dem zu Lebzeiten wie posthum | |
Ruhm verweigert blieb. Eine literarische Reflexion über das Überleben eines | |
Schriftstellers und die Frage: Warum überhaupt schreiben? Für mich hat sie | |
eine Zeit wiederbelebt, in der Sprache für mich selbst zum Riss wurde. | |
Was bedeutet Schreiben also in unmenschlichen Zeiten? | |
[3][Biller] schrieb nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, er wolle | |
keine Literatur mehr schreiben, seine Arbeit erscheine ihm nutzlos. Ich | |
dachte an ukrainische Autoren, mit denen ich nach dem 24. Februar sprach. | |
Viele sagten, sie konnten nicht schreiben, weil das Grauen alles | |
überlagerte. Auch die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev berichtete | |
nach dem 7. Oktober, das Schreiben sei ihr abhandengekommen. Nur Schmerz. | |
Und Sprachlosigkeit. | |
Es gibt Menschen, die Schreiben als Widerstand sehen, als politischen Akt. | |
In Billers Novelle glaubt Weils ehemaliger Freund Julius Fučík daran, „dass | |
man die Welt mit Worten verändern kann“. Solche Menschen sind vielleicht | |
weniger Schriftsteller als Aktivisten. | |
Auch Weil hat den Drang zu schreiben, will zurück zu seinem „neuen | |
Manuskript“. Aber er glaubt nicht an Veränderung. Nur daran, dass man die | |
Welt „ein bisschen zusammenhalten“ könne. Und „erzählen, wie schön all… | |
ist, auch wenn es schrecklich ist“. Ein ehrlicher, melancholischer Gedanke. | |
Jiří Weil hat mich damals begleitet. Ein Zufall, wahrscheinlich, dass ich | |
genau ihn fand. Vielleicht habe ich aber auch unbewusst nach Literatur | |
gesucht, die hält, wenn sonst nichts mehr trägt. Schreiben ist keine | |
politische Demonstration. Es geht nicht darum, perfekte Lösungen zu finden, | |
sondern darum, das Aushalten zu teilen. Schreiben ist, glaube ich, ein | |
großes Ringen mit sich selbst. Und für manche: das Einzige, was bleibt. | |
9 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Wenn-Baeume-starben-starben-sie-aufrecht/!5588583&s/ | |
[2] https://felixjud.com/news/5plus-edition-maxim-biller-der-unsterbliche-weil/ | |
[3] /Neuer-Roman-von-Maxim-Biller/!5950708 | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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