| # taz.de -- Neuer Roman von Maxim Biller: Die Giftmorde der Sicherheitsorgane | |
| > Eine Familie aus Odessa wird in Deutschland von der Vergangenheit | |
| > eingeholt. Maxim Biller variiert in „Mama Odessa“ virtuos seine | |
| > Familiengeschichte. | |
| Bild: Pulsierende Metropole: Straßenszene aus dem Odessa der 1970er | |
| Mama Odessa“ nennen die Bewohner ihre Stadt am Schwarzen Meer seit jeher | |
| liebevoll. „Mama Odessa“ heißt auch Maxim Billers neuer Roman, der eine | |
| weitere Variation der Geschichte ist, die uns der Autor schon oft erzählt | |
| hat. Mischa, der Ich-Erzähler, ist ein Schriftsteller. Er entstammt einer | |
| Familie, die aus dem Ostblock nach Deutschland auswanderte. Mischas Vater | |
| Gena musste und wollte die Sowjetunion verlassen, weil er ein Refusenik, | |
| ein glühender Zionist war. Nun ist er, der doch immer nach Israel wollte, | |
| in Deutschland hängengeblieben und träumt weiter vom Gelobten Land. | |
| Wie immer gelingt es Maxim Biller, eine meist einfache Story mit so vielen | |
| Wendungen und aus so vielen immer wieder neuen, immer anderen Perspektiven | |
| zu erzählen, dass einem beim Lesen schwindlig werden kann. Als wäre das | |
| nicht genug, zieht Biller in seine Romane aber gern noch eine weitere Ebene | |
| ein. Die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers gleicht in mancher Hinsicht | |
| derjenigen seines Autors, aber eben nur in mancher. Fakten und Fiktionen | |
| vermischen sich und lassen die an Romane gern gestellte Frage, wie viel vom | |
| Leben des Autors denn in ihnen stecke, elegant und oft humorvoll ins Leere | |
| laufen. | |
| In „Mama Odessa“ lesen wir unter anderem Auszüge aus den Geschichten von | |
| Mischas Mutter. Mischa selbst berichtet im Lauf der Geschichte immer wieder | |
| über die Romane, die er zu dieser oder jener Zeit gerade schrieb oder | |
| schreibt. Einer von ihnen ist ebenjener Roman, den der Leser gerade vor | |
| sich hat. | |
| Was Mischa über seine schreibende Mutter schreibt, ist, so könnte man | |
| vermuten, ein Hinweis des Autors auf sein eigenes Schreiben, vielleicht | |
| sogar auf gelingendes Schreiben überhaupt: „Erfinden konnte meine Mutter | |
| beim Schreiben nie – nur ab und zu dabei etwas verschweigen.“ Mögen die | |
| Details einer Geschichte auch noch so verfremdet sein, sie erzählt doch | |
| zuerst von der Person, die sie aufgeschrieben hat. | |
| ## Dem Journalismus näher als dem Tagebuch | |
| Nein, das ist nicht „autofiktional“, das ist moderne Literatur, dem | |
| Journalismus näher als dem Tagebuch oder der Instagramstory des | |
| Normalnarzissten. Doch die Frage, was in einem Biller-Roman authentisch und | |
| [1][was ausgedacht ist, ist trotz allem irrelevant] – und auch kein Gericht | |
| sollte sie zu beantworten versuchen: Im April jährte sich zum zwanzigsten | |
| Mal das Publikationsverbot von Billers Roman „Esra“. | |
| Mischas Mutter Aljona realisiert ihre Berufung zur Schriftstellerin erst | |
| spät. Ein Buch kann sie noch schreiben, bevor sie sterben muss, weil sie | |
| ein unsichtbares, im berüchtigten Ort Schichany in einer „geheimen | |
| Giftfabrik der roten Faschisten“ hergestelltes Kontaktgift über ihre Hände | |
| aufnahm. KGB-Agenten hatten es auf das Lenkrad des Autos ihres Mannes | |
| gesprüht, das sie steuerte. | |
| Mit erzählerischen Elementen wie diesen verbindet Biller die Vergangenheit | |
| mit der Gegenwart, haben doch die Nachfolger des KGB dessen Taktiken nicht | |
| vergessen. Bis heute gehört der Giftmord zum Arsenal der sogenannten | |
| Sicherheitsorgane – „auch so ein typischer Sowjetmenschenausdruck“, wie | |
| Mischa festhält. | |
| Biller surft in diesem Text wild durch die Zeitebenen. In der Erzählzeit | |
| der Gegenwart ist Mischas Mutter Aljona schon lang von ihrem Mann | |
| geschieden. Wer daran schuld war, ist die Frage, die im Zentrum des Romans | |
| steht. Wer hat zuerst den anderen betrogen, war es ihr Ehemann Gena mit | |
| einer deutschen Volontärin in einem israelischen Kibbutz, in den der er | |
| allein gefahren war, oder war sie es? Hat der älteste und, wie sie sagt, | |
| falscheste Freund ihres Manns den Stein ins Rollen gebracht? Wer hat wen | |
| verraten? Kann es auf diese Frage je eine Antwort geben? Das Böse kommt in | |
| den Romanen Billers in die Welt, wenn der Mensch zu sehr mit sich selbst | |
| beschäftigt ist. | |
| Was den Menschen widerfährt, welche Entscheidungen sie treffen, übersteigt | |
| dabei oft das Individuelle. Dass Vater Gena, der doch immer nach Israel | |
| auswandern wollte, dort eine Deutsche trifft, mit der er in Deutschland | |
| eine Affäre haben wird, ist auch eine Metapher für das Verhältnis von | |
| Deutschen und Juden. | |
| ## Von Einwanderern, die ihre Heimat vermissen | |
| „Mama Odessa“ ist eine Geschichte von Einwanderern, die ihre Heimat | |
| vermissen, wie die Mutter, oder sich anderswohin sehnen, wie der Vater. | |
| „Wir hätten in Odessa bleiben sollen“, sagt die Mutter, „dort ginge es d… | |
| wirklich viel besser.“ Ihr Sohn kann sich an seine Kindheit im alten Land | |
| erst erinnern, als die Mutter im Sterben liegt. Vorher gelingt ihm das | |
| nicht: „Da war nichts, gar nichts. Meine Erinnerungen bestanden fast nur | |
| aus alten Fotos und den Bildern, die mein Großvater nach ihnen gemalt | |
| hatte.“ | |
| Seine eigenen Erinnerungen sind blass, aber er kennt die Geschichten der | |
| Erwachsenen. „Alles fing am 21. Oktober 1941 an, als die Deutschen und | |
| Rumänen jeden Juden von Odessa, den sie finden konnten, in die verlassenen | |
| Baracken des alten Munitionslagers am Tolbuchinplatz hineintrieben, die | |
| Baracken mit Benzin übergossen und anzündeten. Einer der wenigen, der das | |
| überlebte, war ausgerechnet mein melancholischer armenischer Großvater, den | |
| die neuen Herren bei ihrer Treibjagd auch eingesammelt hatten, weil sie ihn | |
| für einen Juden hielten.“ | |
| Den „neuen Herren“ gelang es nicht, 25.000 Menschen zu erschießen, wie sie | |
| es überall in den besetzten Gebieten der Sowjetunion machten, also zündeten | |
| sie sie an. In der Sowjetunion, die unter Stalin eine antisemitische | |
| Kampagne erlebte, wurde der Charakter dieses Verbrechens verfälscht, indem | |
| nur von getöteten „Sowjetbürgern“ gesprochen wurde, die doch deswegen | |
| ermordet wurden, weil sie Juden waren. Das aber war laut Mischa nichts | |
| Besonderes in einem Land, „in dem man keine Juden mehr haben wollte“. | |
| Wie jeder gute Roman ist „Mama Odessa“ auch Literatur über Literatur. Die | |
| Liebe zur russischen Sprache ist ihm eingeschrieben. Mutter Aljona verehrt | |
| Anna Achmatowa, auch der singende Dichter Wladimir Wyssozki hat seinen | |
| Auftritt. | |
| Sohn Mischa hat Heinrich Böll gelesen, unter anderem dessen Geschichte | |
| „Damals in Odessa“. Deren Held ist ein trauriger deutscher Soldat, der sich | |
| mit seinen Freunden in jenem Viertel betrinkt, in dem Mischas Großvater | |
| lebte. Am nächsten Tag muss er an die Front und stirbt. Mischa hält sie für | |
| eine „unglaublich gute Geschichte“, allerdings gibt es ein Problem: „Dass | |
| in der traurigen Böll-Geschichte mit keinem Wort die Leute erwähnt werden, | |
| die einmal in diesem Viertel gelebt haben und ein paar Monate vorher von | |
| anderen traurigen deutschen Soldaten erschossen oder verbrannt wurden.“ | |
| ## Opake Geschichten | |
| Billers Geschichten sind opak, schwer durchschaubar und wie die Werke aller | |
| großen Moralisten radikal unmoralisch. Das Handeln ihrer Charaktere wird | |
| zugleich verständlich gemacht und bleibt doch rätselhaft, so wie wir unsere | |
| Gefühle nur selten im Griff haben, gerade wenn sie stark sind. Freud hat | |
| behauptet, wir seien nicht Herr im eigenen Haus. Billers Romane spielen | |
| immer wieder durch, was das für den Einzelnen bedeutet. Starke Gefühle | |
| neigen dazu, andere hervorzubringen, und oft sind diese verschiedenen | |
| Gefühle nicht in Einklang zu bringen. | |
| Eben glaubte man also, einen der Protagonisten eines Biller-Romans | |
| verstanden zu haben, schon zeigt er eine neue Facette. Diese Romane sind so | |
| verwirrend wie das Leben selbst, das sich dem menschlichen Wunsch nach Sinn | |
| und Folgerichtigkeit und dem Streben danach, im Einklang mit sich selbst zu | |
| sein, gerne einen Strich durch die Rechnung macht. | |
| Die Menschen, die in Biller-Romanen leben, hassen diejenigen, die sie | |
| lieben, und begehren diejenigen, die sie hassen. Sie sind so kompliziert | |
| und widersprüchlich, wie sich manche real existierende Exemplare der | |
| Gattung es selbst nicht zu sein erlauben. Das wiederum geht uns nichts an, | |
| solange sie nicht auf die Idee kommen, moralisierende Romane zu schreiben, | |
| was leider nicht selten vorkommt. Billers Romane dagegen sind wahr, | |
| insofern sie von den Menschen und der Geschichte handeln. Wahre Bücher gibt | |
| es so viele nicht. | |
| „Mama Odessa“ wirft ständig neue Fragen auf. Die Frage etwa, warum sich die | |
| Personen dieser Story so verhalten, wie sie es tun, führt unweigerlich zu | |
| der Frage, wie ihr Verhalten zu bewerten ist, was wiederum zu einem | |
| Zwiegespräch des Lesers mit sich selbst führt. Ist dieser scheinbare Verrat | |
| wirklich ein Verrat, wie würde ich darauf reagieren, und überhaupt, warum | |
| verhalte ich selbst mich so, wie ich es tue? Die Romane Billers legt man | |
| nicht deswegen ungern aus der Hand, weil man sich in ihrer Welt so schön | |
| verlieren kann, sondern weil einen ganz im Gegenteil aus den Spiegeln | |
| seiner Labyrinthe immer wieder das eigene Selbst anschaut. | |
| 20 Aug 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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