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# taz.de -- Neuer Roman von Wolf Haas: Das letzte Zuhause
> In seinem neuen Roman „Eigentum“ schreibt Wolf Haas gegen das Vergessen
> an. Er erzählt von der Tragik eines arbeitsreichen Mutterlebens.
Bild: In einem Zimmer im Altersheim
Wenn er nicht auch noch eine Poetik-Vorlesung halten müsste! Seine Mutter
liegt in den letzten Zügen, im Altersheim des Ortes, in dem er selbst
aufgewachsen ist, und der Erzähler, der wohl in groben Zügen identisch ist
mit dem [1][Autor Wolf Haas] oder ihm jedenfalls einigermaßen ähnelt, hat
die Befürchtung, dass mit dem Ableben der 95-Jährigen ihre Erinnerungen
sein Hirn übernehmen könnten.
Es gilt daher, diese Erinnerungen schnell aufzuschreiben, möglichst solange
die Mutter noch lebt. Gleichzeitig aber steht eben die Anforderung im Raum,
diese Poetik-Vorlesung vorzubereiten. Es fällt ihm ein, dass deren Titel
lauten könnte „Kann man vom Leben schreiben?“
Und während er darüber hinaus nur einige sinnlose Punkte notiert und nicht
in der Lage scheint, strukturierte Gedanken zur akademischen Lehre zu
fassen, entsteht gleichzeitig wie von selbst eine angewandte Poetik. Indem
er vom Leben der Mutter schreibt, versucht er sich an einer Antwort auf die
selbst gestellte Frage.
Das wäre, kurz zusammengefasst, das Rahmensujet dieses Romans, der sehr
viel komischer ist, als diese trockene Analyse und vor allem sein Thema
vermuten ließen. Man kann der Trauer, zeigt sich, unter Umständen mit
angewandter Poetologie beikommen, indem man vom Leben das abschreibt, was
sich zu Literatur machen lässt. Und das gewinnt, wenn es präzise genug
geformt wird, oft eine Qualität von schöner Absurdität oder auch von
Tragikomik.
Nicht das Sterben der Mutter ist der eigentliche Gegenstand dieses Romans,
und daher ist er nicht grundsätzlich traurig. Er geht zwar von ihrem
(zuerst zu erwartenden, dann eingetretenen) Tod aus, handelt aber ganz im
Gegenteil von ihrem Leben, das teils vom Erzähler selbst kommentiert, teils
von ihm in Ich-Form aus Mutterperspektive gebracht wird.
## Lebenslang vergebliches Streben
Die Darstellung folgt einer einigermaßen linearen Chronologie, ungefähr so:
eine harte, arbeitsreiche Kindheit und Jugend in den Bergen, die verpasste
Chance auf eine Berufsausbildung wegen Kriegsausbruchs, acht in der Schweiz
verbrachte Nachkriegsjahre, in denen die junge Frau das als Serviererin
verdiente Geld den Eltern für den Bau eines Hauses schickt, das irgendwann
der Bruder erbt.
Der Schwester, inzwischen schwanger, bleibt nach ihrer Rückkehr für sich
und ihre Familie nur eine winzige Einliegerwohnung in jenem Haus. Diese
Familie sind zwei Söhne und ein Ehemann, der nur als Randnotiz im Roman
auftaucht.
Es gehört zur Tragik des Mutterlebens, dass ihr lebenslang vergebliches
Streben nach eigenem Wohneigentum erst erfüllt wird, als sie tot ist.
„Unser Grab“ nennt der Erzähler die Begräbnisstätte [2][in der Mitte des
Friedhofs,] in der bereits sein Vater liegt und in der auch Vater und
Bruder der Mutter einst begraben wurden.
Dort gibt es nun 1,7 Quadratmeter, wie er ausrechnet, ganz allein für die
Mutter, ein Eigentum, in das sie einziehen und das ihr niemand streitig
machen kann. „Ich war nicht traurig, dass sie gestorben war. Im Gegenteil,
ich konnte zum ersten Mal in meinem Leben glauben, dass es ihr gut ging.“
Die Mutter muss eine begnadete Erzählerin gewesen sein, wenn sie es
geschafft hat, das Hirn des Sohnes so mit ihren Erinnerungen zu besetzen,
dass er in der Lage ist, sie in ihrem eigenen Tonfall nachzuerzählen – oder
ihr „zurückzuerzählen“, wie er einmal formuliert –, komplett mit den da…
enthaltenen Redundanzen, die auch viele musikalische Qualitäten tragen.
## Sparen, sparen, sparen
Rhythmus gehört dazu, das Prinzip der Wiederholung ist grundlegend (das
gilt für alle Textebenen), ebenso wie das wichtige Prinzip der semantischen
Verstärkung durch die dreifache Bekräftigung einfacher Phrasen, auch in
Variation. Arbeiten, arbeiten, arbeiten, und sparen, sparen, sparen sind
die grundlegenden Mantren, die sich durch dieses Leben ziehen: „Die drei
Phasen des Bausparvertrages (Sparphase, Zuteilungsphase, Darlehensphase)
hielt ich für einen Kinderreim.“
Was das [3][Verhältnis der Literatur zur Realität,] der Dichtung zur
Wahrheit, betrifft, so pflockt der Autor gleich in der Eingangsszene des
Romans einen wichtigen Zaunpfahl ein, der das Prinzip der fantasievollen
Ausschmückung repräsentiert. Die Mutter, auch das ist ja eigentlich
poetisch, bittet den Sohn, ihre Eltern anzurufen, um ihnen zu sagen, dass
es ihr gut gehe.
Der Sohn sinnt im Folgenden anhaltend darüber nach, was er antworten solle,
und kommt zu dem Schluss, dass es angemessen sei, zu behaupten, er habe mit
ihren Eltern gesprochen, sie ließen grüßen und es gehe ihnen gut. Als er
die Mutter das nächste Mal besucht, sagt er genau dies, kann sich aber
nicht verkneifen, hinzuzufügen: „Nur dein Vater hat einen Schnupfen“,
obwohl er sich vorgenommen hatte, das nicht zu tun. Aber: „Ich war ein
unbeherrschter Mensch. Diese schlechte Eigenschaft hatte ich von ihr.“
## Changierend zwischen Dur und Moll
Wir können wohl voraussetzen, dass es dieselbe Eigenschaft ist, die diesen
Roman als Ganzes geformt hat. Es ist alles sehr sinn- und bezugsreich
komponiert, ausnehmend lakonisch im Tonfall, macht Spaß zu lesen und ist
dabei traurig in Maßen, eben genau so changierend zwischen Dur und Moll,
wie ein integrierter musiktheoretischer Exkurs es nahelegt.
Ein kleines Unbehagen nur bleibt: Da es sich bei der Mutter des Erzählers
um eine Frau handelte, die es, wie er schreibt, gehasst habe, auch nur
fotografiert zu werden, ist es doch eher fraglich, ob sie begeistert wäre,
sich nun ungefragt posthum in diesem Roman verewigt zu wissen.
23 Sep 2023
## LINKS
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[3] /Debatte-um-autofiktionale-Romane/!5905454
## AUTOREN
Katharina Granzin
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Maxim Biller
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