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# taz.de -- Neuer Krimi von Wolf Haas: Ist menschliches Herz Biomüll?
> „Müll“ heißt der neunte Fall von Privatdetektiv Brenner. Er beschäftigt
> sich mit abfallwirtschaftlichen und transplantationsjuristischen Fragen.
Bild: Das menschliche Herz als Biomüll? Brenner unterwegs in der Transplantati…
Und schon ist man wieder drin im wohlvertrauten Brenner-Sound. Das Hirn
ergeht sich erfreut in Imitationen wie „wohlvertraut Hilfsausdruck“ oder
„Wobei. Brenner-Sound. Was heißt das jetzt?“ Auch in „Müll“, [1][Wolf
Haas]’ neuem, nunmehr neunten Krimi um den Ex-Polizisten und Ex-Detektiv
Simon Brenner, spielt die Lust an Sprache und Stil wieder eine mindestens
so große Rolle wie die an der Lösung verquerer Verbrechen.
Die wieder einmal an einem makabren Fundort beginnen. Diesmal liegen
Leichenteile auf einem Recyclinghof, österreichisch: Mistplatz. In einer
furiosen Eröffnungsszene führt der Erzähler penibel die Fundstellen von
Knie, Kopf und weiteren Einzelteilen des toten Franz Schall auf, um sich
dann in ökologisch korrekten Überlegungen zu Recyclingverfahren zu ergehen:
„Knie in Wanne 4, da kannst du von einem Kreislauf nur träumen.
Menschliches Knie wäre natürlich, wenn schon, Biomüll. Wanne 19. Oder zur
Not, zur äußersten Not von mir aus Kompost. Wanne 12.“
Bei den „Mistler“ genannten Müllwerkern hat auch Simon Brenner mittlerweile
sein berufliches Unterkommen gefunden. Als Wohnungsloser fristet er ein
Dasein als „Bettgeher“ – er lebt in Wohnungen, deren Bewohner im Urlaub
weilen –, wobei ihm seine alten Polizeikenntnisse über Einbrüche hier sehr
praktisch zur Hilfe kommen. Auch praktisch, dass die Leichenteile direkt
vor seiner Nase gefunden werden. Geliefert wurden sie in Kartons der
Transportfirma Tobias, die damit irritierenderweise von Franz Schall
beauftragt wurde.
Obwohl die Tochter des Ermordeten sofort die „Organmafia“ hinter der Tat
vermutet, bietet sich nicht nur statistisch – 95 Prozent aller
Tötungsdelikte sind Beziehungstaten –, sondern auch symbolisch – unter den
Leichenstücken fehlte das Herz – die verlassene und nun unauffindbare
Ehefrau des Ermordeten als Mörderin an.
## Unerwartete Wendung
So gestaltet es sich eingangs eher krimitechnisch überschaubar, und gerade
als man denkt, dass man sich in des Erzählers Parlando gemütlich einrichten
kann, nimmt der Text neu Fahrt auf und biegt in eine ganz andere Richtung
ein. Die Nutzung von Organen spielt doch noch eine Rolle, aber ganz anders
als gedacht und vor allem viel tragischer.
Eingebaut ist der Fall in Problemlagen, die nicht nur in
abfallwirtschaftlicher, sondern auch in transplantationsjuristischer
Hinsicht Fragen aufwerfen. Angesichts unterschiedlicher Rechtslagen –
[2][in Deutschland muss man einer Organentnahme aktiv zustimmen,] in
Österreich hingegen aktiv widersprechen – stellt sich die Frage, ob ein
Organ eigentlich nationalstaatlich eingebunden ist: „Ein Deutscher stirbt
in Österreich. Gilt dann das österreichische Recht oder das deutsche für
seine Organe?“
Doch angesichts des Mangels an Transplantationsorganen werden solche Fälle
wohl eher pragmatisch gelöst: „Durch die Zustimmungsregel haben wir eben
oft einen Engpass bei den Organen. Auf der deutschen Seite, verstehst. Auf
der anderen Seite der Grenze liegen die Organe auf der Straße, und in
Deutschland ist der Engpass. Natürlich ist alles europäisch geregelt, weißt
du. Zentrale Organverwaltung. Aber wenn es schnell gehen muss, bleibt einem
oft nur der kurze Dienstweg.“
Die Geschichte führt schlussendlich in den „toten Winkel“ einer Biografie,
und dass das darin Verborgene durch einen Autounfall mit Todesfolge
entstand und nun während einer Autofahrt ans Licht geholt wird, bringt die
Überblendungskünste von Haas – den metaphorisch aufgeladenen
Alltagsrealismus – schön auf den Punkt.
Es ist eine der großen Fertigkeiten dieses Autors, eine abgrundtief
traurige Geschichte um Schuld und Sühne, Mord und Moral so lustig zu
erzählen, dass sich zur Spannung eines dann zunehmend windungsreichen Plots
noch eine Achterbahnfahrt der Gefühle gesellt.
## Aberwitzige Grotesken
Die literarische Leistung des Haas’schen Universums zeigt sich vielleicht
am ehesten im Kontrast zum „skandinavischen“ Thrillerunwesen: Während
dieses gerne durch bestialisch-sadistisches Ausweiden und Abschlachten zu
seinen Leichenteilen kommt und mittels abstruser Körperdekorationen
schwerblütig Bedeutung erzeugen will, bewegt man sich bei Haas wieder
zwischen aberwitzigen, Lachanfällen erzeugenden Abgründen und Grotesken,
die den sogenannten guten Geschmack noch nicht einmal ignorieren.
Im Unterschied zu den Thrillern, die zumeist ohne jedes sprachliche
Erbarmen auf die Nervenenden der Leserschaft einhämmern, kommt hier wieder
die Mimesis ans mündliche Erzählen zum Tragen – die singuläre,
hochstilisierte Kunstform „Haasisch“, denen die Brenner-Krimis ihren Erfolg
verdanken.
Im Verlauf der langen Anti-Karriere seines Protagonisten Simon Brenner
hatte Wolf Haas diesen schon sterben lassen und dann zur Freude seiner Fans
wieder exhumiert. „Müll“ fügt sich damit ein in eine gelungene literarisc…
Kreislaufwirtschaft, denn: Einen Brenner lesen heißt einen Brenner
wiederlesen.
17 Mar 2022
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## AUTOREN
Elke Brüns
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