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# taz.de -- Geetanjali Shrees Debütroman „Mai“: Die schweigsame Mutter
> Geetanjali Shrees feministischer Debütroman „Mai“ ist jetzt neu
> erschienen. Er entwirft das Porträt einer indischen Frau, die sich
> unterordnen muss.
Bild: Geetanjali Shree erhielt als erste auf Hindi schreibende AutorIn den Book…
Jemanden ein Leben lang zu kennen, bedeutet noch lange nicht, diese Person
auch zu verstehen. Das gilt auch für die eigenen Eltern. Mai, die
Titelgeberin des Romans von [1][Geetanjali Shree], ist die Mutter der
Ich-Erzählerin Sunaina und die Hauptfigur des Romans. Aber obwohl praktisch
ununterbrochen von ihr die Rede ist, kommt sie lediglich in Außensicht vor
und bleibt bis zum Schluss ein Rätsel.
Der Roman erschien im Original erstmals 1993 und sorgte damals beim
indischen Lesepublikum für großes Aufsehen. „Mai“ ist der seltene Fall
eines Romans aus Indien, der es erfolgreich nach Europa geschafft hat,
obwohl er nicht auf Englisch, sondern auf Hindi verfasst wurde.
In der deutschsprachigen Welt war es der kleine, auf indische Literatur
spezialisierte Draupadi-Verlag, der Geetanjali Shrees Debütroman vor ein
paar Jahren erstmals in deutscher Übersetzung herausbrachte; die aktuelle
Ausgabe aus dem Unionsverlag ist eine Neuausgabe. Übrigens bekam Shree
letztes Jahr als erste Hindi schreibende AutorIn den Booker Prize (für ihr
letztes Buch „Tomb of Sand“, wie der englische Titel lautet).
## Ein despotischer alter Herr
Vom Twist-Tanzen ist einmal die Rede, später von einem der
Indisch-Pakistanischen Kriege; wahrscheinlich spielt ein Großteil des
Romans in den siebziger Jahren. Er erzählt vom Aufwachsen und
Erwachsenwerden des Mädchens Sunaina und ihres zwei Jahre jüngeren Bruders
Subodh in einem wohlhabenden Haushalt. Die Familie gehört zur
Brahmanenkaste, und der Großvater war einst Großgrundbesitzer, hat jedoch
als überzeugter Anhänger Gandhis seine Ländereien aufgegeben.
Aber das Anwesen, das die Familie bewohnt, ist immer noch riesig, und der
Großvater ist auch ohne Ländereien ein despotischer alter Herr, der sein
Leben unter anderen alten Herren lebt, ohne seine Familie groß zur Kenntnis
zu nehmen – die Frauen ohnehin nicht.
Die Großmutter, scharfzüngig, eitel und vom Gatten ignoriert, betet ihren
einzigen Sohn an und lebt die Bitternis ihres Daseins in spitzen
Bemerkungen gegen die Schwiegertochter aus. Das ist Mai. Und Mai schweigt
zu allem, geht in die Küche und kocht, was auch immer von wem auch immer
gewünscht wird.
## Ihr konsequentes Schweigen
Sunaina und Subodh wachsen in so engem Kontakt zur Mutter heran, dass Mai
auch später immer das Wichtigste in ihrem Leben sein wird. Sie wohnen und
schlafen mit ihr in einem Zimmer; und als sie älter werden, sind sie
zunehmend erbost darüber, wie die Mutter von den anderen behandelt wird,
und versuchen sie aus der erstickenden Enge des „Parda“ – des auch
metaphorisch zu verstehenden Schleiers, der die Frauen aus der
Öffentlichkeit fernhält – zu befreien.
Doch Mai selbst setzt diesen Versuchen stoische Passivität entgegen, lässt
sich von einem einzigen Blick ihres Mannes davon abhalten, mit den Kindern
auch nur ins Theater zu gehen, erreicht mit ihrem konsequenten Schweigen
und Nicht-Eingreifen in anderen Situationen aber auch, dass diese Kinder
über ihre eigenen Leben frei zu entscheiden lernen.
Am Ende müssen die Geschwister einsehen, dass die Mutter ihnen in ihrem
innersten Wesen auf immer verborgen bleiben wird. Sunaina aber, die
Ich-Erzählerin, erkennt etwas noch viel Wichtigeres.
## Für ihren Bruder gelten andere Regeln
Tatsächlich ist die Person der Ich-Erzählerin kaum weniger rätselhaft als
die der Mutter. Von sich selbst erzählt sie nur so nebenbei, während die
Ereignisse in der Familie und Mais Situation stets im Mittelpunkt stehen.
Sunaina wird zwar früh bewusst, dass für ihren Bruder andere Regeln gelten
als für sie selbst. Doch Brüche und andere wichtige Ereignisse in ihrem
eigenen Leben bleiben praktisch unkommentiert und müssen oft aus dem
Kontext erschlossen werden. Freundschaften oder Beziehungen zu Männern
werden nur kurz erwähnt und verschwinden ohne Erklärung wieder aus dem
Text.
Dass Sunaina, die unbedingt Biologie studieren und Ärztin werden will,
statt dessen an die Kunsthochschule wechselt, ist einigermaßen
überraschend; erklärt wird es mit keinem Wort. Als Künstlerin malt sie fast
nur Bilder, auf denen Interieurs des Familienanwesens und geisterhafte
Gestalten zu sehen sind.
## Emotionale Abgründe
Damit kanalisiert Sunaina all ihre eigene Mai-Haftigkeit, also ihr mentales
Gebundensein an das, was für ihr Leben vorgegeben wurde, in ihre Malerei,
wandelt es um in einen kreativen Prozess, ohne es dabei jemals zu
überwinden. Dass sie selbst – und nicht Mai – es ist, die sie befreien
muss, erkennt sie erst nach dem Tod der Mutter.
Bis dahin liegt unendlich viel Unausgesprochenes unter der Oberfläche des
Romans. Doch Sunaina, die nicht analysiert, sondern „nur“ erzählt, legt
dabei das komplexe Sozialgefüge der Familie in seinen Grundzügen
vollständig bloß.
Die durch starre Konventionen bedingte Entfremdung ihrer Mitglieder
voneinander wird geradezu schmerzhaft sichtbar, aber nie explizit
ausgesprochen. Der gelassene, fast heiter plaudernde Tonfall der Erzählung
gleitet über emotionale Abgründe hinweg, die stets nur sehr kurz sichtbar
werden, weil sie eigentlich nicht sein dürfen. Sie hallen aber lange nach.
12 Sep 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Granzin
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Literatur
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