Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über Indien unter britischem Empire: Geistig und moralisch un…
> Das Buch „Zeit der Finsternis“ des Autors Shashi Tharoor hat das Zeug zum
> Standardwerk über Indien. Es ist mit Wut im Bauch geschrieben.
Bild: Die britischen Kolonialherren waren brutal, arrogant und raffgierig, so S…
Als ich ein Kind war, murmelte mein indischer Vater angesichts der
ausgestellten Kronjuwelen im Tower of London: „Alles geklaut“. Das galt und
gilt auch für den prächtigen Diamanten Koh-i Noor, mit mehr als 108 Karat
einer der größten der Welt. Es dauert keine 10 Seiten, bis der Autor Shashi
Tharoor in seinem Buch über das britische Empire in Indien auf ihn zu
sprechen kommt. Auch andere Länder erheben Anspruch auf den Stein, doch
ganz egal an wen er jemals zurückgegeben wird, er bleibt funkelndes Symbol
einer jahrhundertelangen Ausbeutungsgeschichte.
In Bezug auf Indien erzählt sie der in London geborene und in Indien
aufgewachsene Jurist und Autor Shashi Tharoor auf- und anregend neu.
Tharoor ist Autor vielfältiger Sachbücher, hat sich aber auch als Romancier
einen Namen erschrieben („Bollywood“) und tritt zudem als Politiker in
Aktion, war etwa einige Jahre der Stellvertreter des UNO-Generalsekretärs
Kofi Annan in New York. Heute ist er Mitglied des indischen Parlaments.
Sein Buch mit dem programmatischen Titel „Zeit der Finsternis“ ist im
Original schon 2016 erschienen, jetzt ist es endlich auch auf Deutsch zu
lesen. Um es vorweg zu sagen: Niemand, der sich für Indien interessiert,
kommt an diesem Buch vorbei. Es hat das Zeug zum Standardwerk, und das,
obwohl es mit Wut im Bauch geschrieben wurde.
Rund 200 Jahre herrschten die Briten in Indien. Sie kamen in ein
prosperierendes Land und hinterließen einen heruntergewirtschafteten
„Dritte-Welt-Staat“. So lag der Anteil Indiens an der Weltwirtschaft zu
Beginn des 18. Jahrhunderts bei 23 Prozent und beim [1][Abzug der
Kolonialmacht im Jahr 1947] nur noch bei 3 Prozent. Hinzu kamen
Hungersnöte, Massaker und andere Verbrechen.
Während andere Staaten Kolonialverbrechen mit Entschädigungszahlungen
und/oder einer Entschuldigung zu sühnen versuchen, ging Indien
diesbezüglich leer aus. Bis heute kein Sorry vonseiten der britischen
Politik oder Krone. Das liegt auch an denjenigen, die immer noch von den
Vorzügen der britischen Fremdherrschaft in Indien überzeugt sind, von ihren
guten Seiten. Das erinnert an jene, die im Zusammenhang mit der deutschen
Geschichte Hitlers Autobahnen rühmen.
## Katastrophe der Teilung des indischen Subkontinents
Tharoors akribische Auseinandersetzung mit den Jahren des sogenannten Raj
(Herrschaft der Briten in Indien) kontert die Auslassungen der Apologeten
der Fremdherrschaft, und hat besonders den [2][britisch-US-amerikanischen
Historiker Niall Ferguson] („Empire. How Britain Made the Modern World“)
im Blick.
Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit, demokratische Strukturen und
Pressefreiheit nimmt Tharoor sich nacheinander vor und zeigt, wie sie in
erster Linie der Machtzementierung dienten und oft mehr schadeten als
nutzten. Was auch daran lag, dass die britischen Machthaber Indien ihr
eigenes System überstülpten, ohne auf die Besonderheiten ihrer Kolonie und
seiner Menschen zu achten. Das britische Wahlsystem etwa möge, so Tharoor,
für einen kleinen Inselstaat passen, für einen überbevölkerten
Vielvölkerstaat wie Indien gebe es bessere Alternativen.
Die Lektüre des Buchs ist naturgemäß erschütternd, auch weil die britischen
Kolonialherren in Sachen Brutalität, Arroganz und Raffgier schwer zu toppen
scheinen. Die Katastrophe der Teilung des indischen Subkontinents mit
seinen rund 1 Million Toten bucht Tharoor ebenso auf ihr Konto wie die
Spaltung der indischen Gesellschaft, vor allem die zwischen Hindus und
Muslimen.
## Prägend bis in die Gegenwart
Dass er sich gleich zweimal dazu hinreißen lässt, das Wort
„Kolonialholocaust“ zu verwenden, ist an sich unverzeihlich. [3][Mithu
Sanyal] spricht in ihrem Nachwort davon, dass der Holocaust unvergleichbar
sei, wir aber gleichzeitig Vergleiche anstellen müssten, wenn wir es ernst
meinten mit dem Satz: „Wehret den Anfängen!“. Tharoor benutzt das Wort, um
Größenverhältnisse deutlich zu machen und um aufzurütteln. Das, was in
Indien geschah, war mörderisches Unrecht.
Trotzdem hätte man das Wort, zumal in der deutschen Ausgabe, vermeiden
können. Es lenkt vom Eigentlichen ab. Denn auch wenn Tharoor zuweilen das
ursprüngliche Indien glorifiziert und die Frontlinien zwischen
Kolonisatoren und Kolonisierten sehr glatt zieht, veranschaulicht er immens
präzise und dabei locker im Ton, wie die Briten Indien nicht nur
ökonomisch, politisch und militärisch, sondern auch geistig und moralisch
unterjochten.
Das prägt die indische Gesellschaft bis in unsere Gegenwart hinein, wie das
Buch etwa [4][anhand der Alltagsbeispiele Tee und Cricket deutlich macht].
Nach beidem ist Tharoor laut eigener Aussage süchtig. Dass Inder vor der
Ankunft der Briten weder Tee tranken noch anbauten, mag manchen
überraschen, wie die Lektüre von „Zeit der Finsternis“ überhaupt viele
Lerneffekte beschert. Und viele zitierwürdige Zitate. So erwiderte Mahatma
Gandhi einst auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation halte:
„Sie wäre eine gute Idee.“ Das stimmt. Gestern wie heute.
11 Aug 2024
## LINKS
[1] /Filmstart-von-Der-Stern-von-Indien/!5433278
[2] /Interview-zum-Wettbewerb-der-Zivilisationen/!5107178
[3] /Mithu-Sanyal-ueber-Identitaet/!5749863
[4] /Indien-gewinnt-T20-Cricket-WM/!6019109
## AUTOREN
Shirin Sojitrawalla
## TAGS
Indien
Vereinigtes Königreich
Kolonialgeschichte
Kolonialismus
Politisches Buch
Literatur
Sprache
Indien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Geetanjali Shrees Debütroman „Mai“: Die schweigsame Mutter
Geetanjali Shrees feministischer Debütroman „Mai“ ist jetzt neu erschienen.
Er entwirft das Porträt einer indischen Frau, die sich unterordnen muss.
Rahman Abbas und die Sprache Urdu: Sechs Wörter für Haar
Rahman Abbas schreibt auf Urdu, einer Sprache mit islamischen und
hinduistischen Einflüssen. In Indien ist er ein Star – wird aber auch
angefeindet.
Filmstart von „Der Stern von Indien“: Spielball der britischen Kolonialpoli…
Gurinder Chadha erzählt von der indischen Teilung und der Kolonialzeit –
und scheut dabei keine Elemente des Bollywood-Kinos.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.