# taz.de -- Interview zum Wettbewerb der Zivilisationen: "Es geht nicht immer u… | |
> Der Historiker Ferguson, Autor von "Der Westen und der Rest der Welt", | |
> redet nicht so gerne vom Kampf der Kulturen. Seine Beobachtung: Oft wird | |
> kooperiert, manchmal gibt es einen Mix. | |
Bild: Komplexe Beziehungen: US-Marinesoldaten chinesischer Abstammung auf der U… | |
taz: Herr Ferguson, in Ihrem neuen Buch beschreiben Sie eine andere Welt | |
als Samuel Huntington in seiner berühmten Studie "Kampf der Kulturen". Nach | |
dem Ende des Kalten Krieges diagnostizierte Huntington eine Verlagerung des | |
Konfliktes zwischen Ideologien hin zu Zivilisationen. Worauf gründet Ihre | |
Sicht? | |
Niall Ferguson: Mein Konzept von Zivilisation ist weniger kulturell | |
bestimmt. Und ich sehe auch nicht, dass Zivilisationen zwangsläufig | |
aufeinanderprallen. Ihre Beziehung ist komplexer. | |
Inwiefern? | |
Huntington hat vor allem den Zusammenstoß zwischen dem christlichen Westen | |
und der islamischen Zivilisation beschrieben. Ein Blick in die Geschichte | |
zeigt, dass Zivilisationen mitunter relativ unabhängig nebeneinander | |
existierten, ohne dass es zum Konflikt kommt. Es entstehen eher | |
Irritationen. Mein Argument lautet: Obwohl die Europäer zu Beginn des 20. | |
Jahrhunderts ihre Zivilisation mit Waffengewalt auszudehnen versuchten, vor | |
allem während der beiden Weltkriege, hat sich die westliche Zivilisation | |
maßgeblich ohne Zwang ausgebreitet. Weil sie attraktiv ist. Deshalb | |
entschieden sich nichtwestliche Völker, sie zu kopieren. Siehe Japan. | |
Im Buch beschreiben Sie den unaufhaltsamen Aufstieg des Westens seit dem | |
15. Jahrhundert und das Versinken der chinesischen Hochkultur im | |
Dämmerschlaf der Jahrhunderte. Gleichzeitig schildern Sie das aktuelle | |
Wiedererstarken Chinas und, relativ dazu, den Verfall der westlichen | |
Gesellschaft. Was ist die Ursache? | |
Ich habe sechs Institutionen oder Erfindungen ausgemacht, die die weltweite | |
Überlegenheit des Westens begründet haben. Dazu gehören neben dem | |
Wettbewerb und dem Privateigentum die Wissenschaft, die Medizin sowie der | |
Konsum und die Arbeit. Die Chinesen haben nun aufgeholt, weil sie sich | |
Teile dieser Erfindungen angeeignet haben, vor allem den Wettbewerb. | |
Und nun sind sie eben in einen Wettbewerb eingetreten? | |
Ja. Ich erzähle eine Geschichte vom Wettbewerb zwischen Zivilisationen. | |
Manchmal kooperieren sie auch, oder es gibt einen Mix von Zivilisationen. | |
Es geht also nicht immer um Konflikt. Wir sollten sehr vorsichtig sein mit | |
Theorien, die ein Zusammenprallen zwangsläufig postulieren. So ist es | |
einfach nicht. Die Welt ist komplexer. | |
Weshalb? | |
Wenn Sie schauen, was nach 1993 passierte, dann spielten sich die meisten | |
Konflikte innerhalb von Zivilisationen ab, nicht zwischen ihnen. Ich habe | |
selbst gezählt. Der Befund ist eindeutig. Wenn man schaut, wie viele | |
Menschen gewaltsam starben, nachdem Huntington seinen ersten Artikel zu | |
diesem Thema veröffentlichte, dann fand Gewalt in der überwältigenden | |
Mehrheit innerhalb von Zivilisationen statt. Was in Zentralafrika passiert, | |
ist kein Kampf zwischen Zivilisationen. Auch im Nahen Osten ereignet sich | |
die meiste Gewalt zwischen Moslems, zwischen Schiiten und Sunniten. | |
Aber Sie beschreiben in Ihrem Buch doch einen Kampf zwischen China und dem | |
Westen. Einen ökonomischen, politischen, ethischen. | |
Natürlich gibt es Irritationen zwischen China und den USA. Aber insgesamt | |
passiert gerade ein außerordentlicher Wandel. Er wird getrieben von | |
chinesischen Exporten und westlichen Importen. Gleichzeitig borgen die | |
Chinesen dem Westen Geld. In jüngster Zeit sind die Europäer Peking | |
gegenüber unterwürfig, und gleichzeitig geht unser intellektuelles Eigentum | |
in Form von Direktinvestitionen nach China. Das ist ganz klar kein Kampf. | |
Aber eine harmonische Partnerschaft ist es auch nicht. | |
Harmonisch ist sie nicht, aber sehr intim und symbiotisch. Wenn man sich | |
allerdings den virtuellen Raum anschaut - dort findet eindeutig ein Kampf | |
statt. Eines der auffälligsten Merkmale unserer Zeit ist der nachhaltige | |
Cyberkrieg der Chinesen gegen westliche Firmen und Regierungen. | |
Sie meinen die weitgehende Computerisierung und Vernetzung fast aller | |
militärischer Bereiche. | |
Ja, genau. Die Chinesen bestreiten das auch nicht ernsthaft. Erst im August | |
war ich in China. Dort traf ich einen professionell angestellten | |
Computerhacker. Die Beziehung zwischen China und dem Westen ist also | |
ausgesprochen komplex. Im wirtschaftlichen Bereich ist sie jedenfalls von | |
gegenseitiger Abhängigkeit geprägt. Vom Standpunkt der Chinesen aus ist das | |
fraglos Wettbewerb in der ökonomischen und strategischen Sphäre. Aber | |
daraus kann ziemlich schnell ein Konflikt werden, zum Beispiel über die | |
Taiwan-Frage oder Nordkorea. Wir sollten diese Gefahr wirklich nicht | |
unterschätzen. | |
Dennoch teilen Sie nicht das konflikthafte Weltbild? | |
Im internationalen System existiert nicht irgendein eingebauter Konflikt. | |
Es gibt kein historisches Gesetz, das Großbritannien und Deutschland in den | |
Krieg trieb. Und es gibt kein historisches Gesetz, das die USA und China in | |
den Krieg zwingt. Solche Dinge passieren oft, weil die Welt durch | |
Missverständnisse und sogar Zufallsereignisse kompliziert ist. Gavrilo | |
Princip wusste nicht, dass er den Ersten Weltkrieg auslösen würde, als er | |
Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo tötete. Mit meiner Sicht auf die | |
Geschichte kann man einfach nachvollziehen, dass eine kleine terroristische | |
Attacke wie diese schwerwiegende Folgen haben kann. Wenn man die Welt wie | |
ich als ein ganzes Bündel interagierender und komplexer adaptiver Systeme | |
versteht, dann erwartet man, dass Konflikte plötzlich und unerwartet | |
auftreten und nicht nach Jahren der Vorbereitung. Oft sagen Historiker: | |
Ahhh, dieses bestimmte Ereignis hat seine Wurzeln 20 Jahre zuvor. Diese | |
Sicht teile ich nicht. | |
Momentan stehen in der westlichen Welt die ökonomischen Konflikte im | |
Vordergrund. Für sie ist die Finanzkrise Ausdruck einer systemischen | |
Funktionsstörung der Konsumgesellschaft, weil die Kauftherapie auf Pump | |
langfristig nicht funktioniert. | |
Richtig. Im Gegensatz zu den Historikern vergangener Zeiten beginnen wir | |
diese Zusammenhänge gerade zu verstehen. Inzwischen sind die Probleme in | |
Europa größer als in den USA. Die europäische Krise gehört mit dem | |
Arabischen Frühling zu den beiden großen Geschichten des Jahres 2011. Die | |
Krise der EU ist ja seit einiger Zeit keine rein finanzielle mehr, sondern | |
institutionell bedingt. Momentan passiert das Gegenteil von Integration, | |
weil trotz der gemeinsamen Währung die Divergenz zwischen den | |
Volkswirtschaften der Mitgliedsländer zu groß ist. Aus historischer Sicht | |
ergibt das keinen Sinn. | |
Das heißt, der Euro könnte zu einer kurzen Episode in der Geschichte | |
werden, wenn die EU-Politiker nicht endlich aufwachen? | |
Nein, der Euro wird überleben. Es wäre zu hart für alle, ihn aufzugeben. | |
Trotz der vielen Probleme. | |
Wird die EU überleben? | |
Das Risiko eines Zusammenbruchs ist größer als das eines schleichenden | |
Niedergangs. Plötzliche Zusammenbrüche finden in der Geschichte öfter statt | |
als graduelle. Der Wind der Geschichte weht nicht sanft. Es ist ein Sturm, | |
und der ist nicht vorbei, weder finanziell noch politisch. | |
Was schlagen Sie als Historiker vor? | |
Kurzfristig erfordert die Finanzkrise eine echte Reform der öffentlichen | |
Finanzen in der gesamten westlichen Welt. Man kann nicht erwarten, dass | |
eine Erholung auf der Grundlage eines exorbitanten Anstiegs der | |
öffentlichen Verschuldung stattfindet. Außerdem können wir das Problem der | |
finanziellen Volatilität nicht durch immer neue Regulierungen lösen. Jede | |
komplexe Regulierung schafft neue und noch absurdere Wege, Finanzkrisen | |
auszulösen. Notwendig ist ein transparentes System einfacher Marktregeln. | |
Ohne diese beiden Reformen wird es weitere Finanzkrisen geben. Und jede | |
wird größer sein als die vorherige. | |
19 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Uli Müller | |
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