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# taz.de -- Buchmesse in Kyjiw: Verlangen nach Lesen im Krieg
> Ein Land, das sich nicht besiegen lässt, eine Literatur, die widerständig
> ist: In Kyjiw fand die derzeit größte Buchmesse der Ukraine statt.
Bild: Kriegsnormalität und Festivalnormalität auf dem Book Arsenal in Kyjiw
Kaum ist man aus dem Zug gestiegen, ertönt auf dem Vorplatz des zentralen
Bahnhofs Kyjiw-Pasazhyrskyi das lang anhaltende, gellende Sirenengeräusch,
das für die Bewohner:innen Kyjiws zum Begleitsound ihres Lebens
geworden ist. Luftalarm. Sicherheitskräfte treiben Menschen aus der
Bahnhofshalle: „Suchen Sie einen Bunker auf!“, schreien sie. Menschen eilen
Richtung Metrostation, bringen sich unter der Erde in Sicherheit.
Viele richten den Blick dabei aufs Handy, Telegram-Chats geben
Bewohner:innen Auskunft darüber, welche Geschosse an welchen Orten
gesichtet werden. Vadim, ein junger Mann, etwa dreißig Jahre alt, hastet
neben dem Reporter in die Metro, er gibt gleich mal ein Beispiel für
ukrainischen Humor in Kriegszeiten: „Just arrived? –Welcome to Ukraine!“,
sagt er, als sei der Alarm eine Begrüßungsfanfare.
Kriegsnormalität in Kyjiw. Es ist die letzte Maiwoche, erst wenige Tage
zuvor hat Russland einen weiteren Großangriff gestartet, das Land mit über
1.000 Drohnen und Raketen übersät, die Region beschossen, dabei allein hier
vier Menschen getötet, viele verletzt. Man spürt die Nachwehen, viele
Menschen reden noch darüber, viele sind übernächtigt. Bei dem merkwürdig
paradoxen Kompositum „Kriegsnormalität“ würden viele Kyjiwer die Betonung
aber wohl auf den zweiten Teil des Worts legen: Normalität.
## Die Normalität im Krieg
In der Hauptstadt geht von den Cafés und Bars, in denen die Menschen bis
spätestens zur Sperrstunde um Mitternacht sitzen, von Open-Air-Raves am
Nachmittag, von Filmfestivals und vielem mehr ein trotziges Signal aus: Wir
leben weiter, wie wir weiter leben wollen. Wobei man, wie sich zeigen wird,
in der Ukraine von Kriegsnormalitäten im Plural sprechen muss. Je nach
Region herrschen andere Realitäten und Normalitäten.
Weitermachen. Widerstandsgeist demonstrieren. Diese Zeichen gehen auch vom
Festival Book Arsenal aus. Zum dritten Mal seit Beginn des russischen
Angriffskriegs findet die wichtigste ukrainische Buchmesse nun wieder
statt, vier Tage lang. Am Donnerstag jener Woche ist in den Hallen des
Kulturkomplexes Mystezkyj Arsenal („Kunstarsenal“) Eröffnung.
Militär und Polizei stehen vor dem prächtigen klassizistischen Gebäude
gegenüber dem golden glänzenden Kyjiwer Höhlenkloster, es gibt
Security-Checks mit Detektoren an vier Eingängen, lange Schlangen. Drinnen
stellen unter den steinernen Gewölbebogen über 100 Verlage aus, die meisten
sind ukrainisch. Ausstellungen, Konzerte, Panels, Filme sind Teil des
Programms. Am Samstag und Sonntag sind die Reihen dicht gedrängt, die
Hallen sind voll, 30.000 Besucher:innen kommen insgesamt.
Festivalnormalität.
Und doch auch hier Kriegsnormalität: Die Brigade Khartiia, in der Region
Charkiw aktiv, wirbt um Spenden. Die Initiative „Free Azovstal Defenders“
hat einen Stand, sie setzt sich für die Befreiung der Soldaten ein, die bei
der Verteidigung des Azovstal-Stahlwerks im Frühjahr 2022 in Mariupol in
russische Kriegsgefangenschaft gerieten.
Riesige Märchengemälde von Schulkindern aus dem kriegsgebeutelten Charkiw
säumen mehrere Wände. Die Bedeutung des Festivals zeigt sich auch an seinen
Gästen: [1][Ukrainische Literaturstars wie Oksana Sabuschko] und [2][Juri
Andruchowytsch] sind gekommen, am Samstag besuchen Wolodymyr Selenskyj und
Olena Selenska die Messehallen.
## Begegnung, Austausch – das ist wichtig
„Wir alle gehen das Risiko ein, diese Messe auszurichten, aber das Risiko
ist in Kyjiw ohnehin unser ständiger Begleiter“, antwortet Yuliia Kozlovets
auf die Frage, inwieweit ein derartiges Festival in Kriegszeiten ein
Vabanquespiel ist. Yuliia Kozlovets ist die Festivalleiterin des Book
Arsenal, seit 2012 arbeitet sie für das Festival, sie sitzt am Tag vor der
Eröffnung in einem Besprechungssaal im Nachbarhaus des Mystezkyj Arsenal.
Sie wirkt positiv angespannt, schaut öfter aufs Handy, ob wichtige
Nachrichten kommen.
Was das Book Arsenal leistet? „Als wir das Festival 2023 erstmals nach
Beginn des russischen Angriffskriegs wieder veranstaltet haben, stand ich
auf der Bühne und sah in die Gesichter der Besucher“, erzählt sie. „Ich s…
Tränen in den Augen mancher Menschen, ich sah Leute, die sich umarmten und
küssten. Sie genossen es sichtlich, das Gefühl von Gemeinschaft zu spüren
und wieder Kultur zu erleben.“
An den Festivaltagen in diesem Jahr wird man wieder sehen: Begegnung,
Austausch, das Sprechen über das Dasein im Krieg ist für die
Besucher:innen vielleicht das Wichtigste. Im Zentrum des Book Arsenal
steht – ähnlich wie bei den deutschen Buchmessen – der Diskurs.
„Everything is Translation“ steht auf mehreren Plakaten in den Messehallen
geschrieben, es ist das Motto, das die Kuratorinnen, die
Yale-Osteuropahistorikerin Marci Shore und die ukrainische Verlegerin und
Schriftstellerin Oksana Forostyna, gewählt haben. Dieser Satz gilt
zweifelsohne auch im Hinblick auf die Ukraine: Das Land muss dem Rest der
Welt den Krieg übersetzen (gegen massive und erfolgreiche Desinformation),
sie muss sich und ihre Kultur übersetzen. Innerhalb ihrer Gesellschaft muss
die Ukraine vielleicht so viel übersetzen wie nie: Die Soldat:innen an
der Front, die Bewohner:innen von Charkiw, die Bewohner:innen von
Kyjiw, die Westukrainer:innen, die Diaspora-Ukrainer*innen, sie alle andere
haben andere Kriegsrealitäten. Sie müssen einander erklären, übersetzen.
## Verantwortung für kritisches Denken
Marci Shore erzählt beim Interview im malerischen Innenhof des
Messegebäudes, den Mottosatz habe sie einem Gespräch mit dem ebenfalls
eingeladenen ukrainischen Psychoanalytiker und Kulturwissenschaftler Jurko
Prochasko entnommen. Die Widerstandsfähigkeit der Menschen, denen sie
begegne, gebe ihr Hoffnung, sagt Shore. „Ich schöpfe aus den Begegnungen
Kraft. Es macht Mut zu sehen, dass so viele Menschen hier an Büchern, an
Ideen, am Denken interessiert sind.“
Shore spricht später auf der Bühne über Hannah Arendts „Bericht von der
Banalität des Bösen“, setzt es in Beziehung zum heutigen Totalitarismus.
„Die vorderste Verantwortung des Menschen ist das kritische und
unabhängige Denken“, sagt sie, und zitiert dann Arendt: „Evil comes from a
failure to think.“
Der unfreiwillige Mottogeber Jurko Prochasko, Professor am
Psychoanalytischen Institut von Lwiw, sagt im Gespräch, der Angriffskrieg
habe der Ukraine neue „Übersetzungsaufgaben“ gestellt. „Wir sind davon
ausgegangen, dass ein Angriffskrieg einer Großmacht auf ein Land, das den
Krieg mit nichts provoziert hatte, dass eine solche himmelschreiende
Ungerechtigkeit eindeutig bewertet werden würde“, sagt er. „Wir haben aber
festgestellt, dass die Möglichkeiten der Relativierung sehr flexibel sind.
Die Ukraine muss sich also ständig erklären, in Echtzeit und live.“
Alles in der Ukraine sei durchdrungen vom Krieg, so Prochasko. „Es gibt
keine Stelle in der Seele, die frei wäre vom Krieg. Der Krieg bestimmt die
ganze psychische Struktur, auch die unbewusste. Alles wird im Hinblick auf
den Krieg getan, gedacht, gefühlt.“
Das Erscheinungsbild der Hallen bestätigt dies. Die „Books to the
Front“-Initiative hat einen Stand, sie sammelt Bücherspenden, um sie an die
Soldat:innen an der Front weiterzugeben. Viele Soldat:innen in
Armeekleidung sind gekommen, einige nehmen an Podiumsdiskussionen teil, wie
die ganze Stadt ist auch das Book Arsenal von Camouflage durchzogen. Und
gleich in der ersten Halle hat das ukrainische Veteranenministerium drei
Tische mit Büchern von Armeeangehörigen aufgebaut. Veteranenliteratur ist
angesagt im Land, es existieren eigene Verlage für diese Bücher.
## Wichtige Stimme der Ukraine
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist das Verlangen nach Büchern
eher größer als kleiner geworden. Die in Kyjiw beliebten Buchcafés wie das
Sens und das Syaivo Knyhy, der älteste noch existierende Buchladen Kyjiws,
sind voll. Das Land erlebt zudem einen Lyrik-Boom. „Lyrik ist ein Genre,
das sehr schnell auf die Realität reagiert, auf kreative und präzise Art
und Weise“, erklärt Festivalleiterin Kozlovets. „Es werden jetzt auch
Gedichtbände von Autor*innen gedruckt, die im Krieg gestorben sind.“
Deren Werke seien auch eine Form, an sie zu erinnern.
Eine wichtige Stimme in der Ukraine ist die Lyrikerin,
Literaturwissenschaftlerin und Militärsanitäterin Jaryna Tschornohus
geworden; sie war in Mariupol und Bachmut im Einsatz. Ihr Gedichtband, der
übersetzt „Dasein: Verteidigung des Seins“ heißt, hat 2024 hat sie den
Taras-Schewtschenko-Preis bekommen. Auch die (Kriegs-)Lyrik und Essays von
Halyna Kruk sind in der Ukraine bekannt; leider liegt von beiden Autorinnen
bislang wenig auf Deutsch vor.
Der Kultursektor ist dabei Bestandteil des Kriegs und ein russisches
Angriffsziel. „Wir haben es mit einem sehr aggressiven Feind zu tun, der
unsere Identität, der die ukrainische Kultur und Geschichte vernichten
will“, so Kozlovets. Im Mai 2024 zerstörte das russische Militär Factor
Druk, eine der größten Druckereien der Ukraine, in Charkiw. Die Druckerei
des Ranok Publishing House, auch einer der großen ukrainischen Verlage, ist
erst Ende Februar 2025 beschossen und beschädigt worden. In beiden Fällen
gelang die schnelle Wiederherstellung des Produktionsbetriebs. Mehr als 700
Bibliotheken sind laut PEN Ukraine im Krieg beschädigt oder zerstört
worden.
Bei den (wenigen) englischsprachigen Podiumsdiskussionen des Book Arsenal
werden oft Parallelen zwischen Nationalsozialismus, Stalinismus und
Putinismus gesucht. Der britische Autor Peter Pomerantsev, der sich in
mehreren Büchern mit russischer Propaganda auseinandergesetzt hat, hat sich
für sein neues Buch mit dem britischen Journalisten Sefton Delmer
beschäftigt. Delmer hat zu Zeiten Hitlerdeutschlands Radiosender gegründet,
um in Deutschland (auf teils subtile Weise) Gegenpropaganda zu lancieren,
erreichte damit viele deutsche Soldaten.
## Propaganda bekämpfen
Das russische Propaganda- und Desinformationssystem sei schwer zu
bekämpfen, so Pomerantsev, die ukrainische Zivilgesellschaft leiste mit
ihren Informatiker:innen und Social-Media-Expert:innen schon
Außergewöhnliches. Die russischen Soldaten würden, sobald sie in der
Ukraine seien, sicher nicht mehr das billige Märchen von dem Volk, das nach
Befreiung lechze, glauben. Bei ihnen wirke Propaganda anders: „Durch die
Propaganda wird das Böse legitimiert. Man erlaubt ihnen, die Sadisten zu
sein, die sie sind.“
Abseits des Geländes herrscht auf den Straßen von Kyjiw das irritierende
Nebeneinander von Krieg und dessen scheinbarer Abwesenheit. Panzersperren,
Sandsäcke, MGs, dann Yoga im Park, Eiskaffee, laute Musik, die aus Autos
schallt. Reklametafeln zeigen an, wie dringend die ukrainische Armee neue
Soldat:innen sucht. Brigade Asov sucht, Brigade 35 sucht, Brigade 61
sucht und so weiter. Dann wieder: Skateboarder, Metal-Fans, die zu einem
Konzert gehen, High-Society-Events.
Am Sonntagabend starren alle auf ihre Handys. In den Telegram-Chats
überschlagen sich die Nachrichten und Videos, das ukrainische Militär hat
mit einem Drohnenangriff zahlreiche russische Militärflugzeuge mit Drohnen
zerstört. Es herrscht Feierstimmung in den Kanälen. Viele Passant:innen
auf den Straßen grinsen oder johlen. Ein weiteres Kapitel einer
Kriegsgeschichte, die nun schon seit drei Jahren und drei Monaten andauert.
6 Jun 2025
## LINKS
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[2] /Essays-des-Ukrainers-Juri-Andruchowytsch/!5972515
## AUTOREN
Jens Uthoff
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