| # taz.de -- Forscher über Galizien: „Den Blick gen Osten richten“ | |
| > Marcin Wiatr über die wieder hoch aktuelle Bedeutung des Mythos Galizien | |
| > – besonders für die Ukraine und ihren SelbstverteidigungsKampf. | |
| Bild: Zum zweiten Mal gefährdet: Lviv, das einst galizische Lemberg | |
| taz: Herr Wiatr, ist Galizien ein Mythos oder eine Realität? | |
| Marcin Wiatr: Das mitteleuropäische Galizien – nicht zu verwechseln mit dem | |
| spanischen Galicien – ist beides. Von [1][Auschwitz] über Krakau bis | |
| [2][Lemberg/Lviv,] also von Ostpolen bis in die Westukraine reichend, war | |
| Galizien von 1772 bis 1918 eine multiethnische Region, die als Brennglas | |
| der europäischen Idee gelten kann. Polen, Litauer, Deutsche, Juden, | |
| Ruthenen beziehungsweise Ukrainer und Russischsprachige lebten dort während | |
| der Habsburger-Monarchie weitgehend harmonisch. | |
| taz: Aber Galizien wurde nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Polen und der | |
| Sowjetunion aufgeteilt. Wo liegt da das Vorbildhafte? | |
| Wiatr: Darin, dass es zuvor 150 Jahre lang eine – im Zuge der Teilungen | |
| Polen–Litauens zwar von Österreich annektierte – Verwaltungseinheit war, wo | |
| es aber freier zuging als im von Russland besetzten Teil Polen-Litauens. | |
| Die bis dahin marginalisierten Ukrainer etwa konnten sich nun gegenüber dem | |
| polnischen Adel behaupten und sogar einflussreiche Posten erlangen. | |
| taz: Trägt diese Erfahrung bis heute? | |
| Wiatr: Ja. Jener Widerstandsgeist gegen Fremdherrschaft stärkt die Ukrainer | |
| auch im aktuellen Kampf gegen die [3][russische Invasion]. Die Literatur | |
| spielt dabei eine wichtige Rolle: AutorInnen wie [4][Jurij und Sofia | |
| Andruchowytsch] beziehen sich bewusst auf Galizien und werden sogar [5][im | |
| Bunker gelesen], wie ich hörte. | |
| taz: Der Mythos Galizien war und ist also ein Politikum? | |
| Wiatr: Ja – wobei er für Unabhängigkeitsbestrebungen stand, aber auch für | |
| die Anbindung an Westeuropa. In Polen begann man ihn in den 1960ern zu | |
| pflegen, als kosmopolitischen Gegenentwurf zum Menschenbild des | |
| aufgezwungenen [6][Kommunismus]. In Krakau gibt es ein Galizisches Museum | |
| und galizische Gerichte in den Kneipen. In der Ukraine wiederum besinnt man | |
| sich im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung seit den 1990ern auf Galizien. Es | |
| wurde Teil einer Identität stiftenden Erzählung. | |
| taz: Und das Scheitern Galiziens blendet man aus? | |
| Wiatr: Nein, denn auch das spiegelt die reichhaltige, auf Polnisch, | |
| Jiddisch, Deutsch, Ukrainisch und Russisch verfasste Literatur Galiziens. | |
| Neben dem Gelungenen – etwa der Aufnahme Abertausender jüdischer | |
| Flüchtlinge nach Pogromen in Russland 1882 – beschrieben AutorInnen wie | |
| Joseph Roth, [7][Karl Emil Franzos], Józef Wittlin, Bruno Schulz und Mascha | |
| Kaléko die lange vor dem Ersten Weltkrieg sichtbaren Zerfallserscheinungen. | |
| Sie schrieben über das Versagen einer Gesellschaft, die nicht mehr über | |
| alle Unterschiede hinweg zusammenstand. Und hierin besteht die historische | |
| Lektion der galizischen Literatur: zu vermeiden, dass die heutigen | |
| europäischen Demokratien wieder scheitern – an Kurzsichtigkeit, Sorglosig- | |
| und Bequemlichkeit angesichts äußerer Bedrohung. | |
| taz: Was wäre zu tun? | |
| Wiatr: Einander als Europäer nicht aus den Augen zu verlieren und auch im | |
| Schulunterricht den Blick nicht nur gen Westen zu wenden, sondern die | |
| [8][historischen Erfahrungen] der Länder Ostmitteleuropas ernst zu nehmen. | |
| taz: Ihr „Literarischer Reiseführer Galizien“ beginnt mit Passagen aus dem | |
| Kriegstagebuch des ukrainischen Journalisten Juri Durkot. Verschwindet | |
| Galizien gerade erneut? | |
| Wiatr: In der Tat wäre ohne die Literatur wenig von Galizien überliefert. | |
| Und genau deshalb wird es als Phänomen überdauern. Real besteht die | |
| Möglichkeit durchaus. Noch kann man es aber bereisen. Wir haben das Buch in | |
| Lemberg/Lviv und in Drohobytsch vorgestellt. Es kamen Menschen jeden | |
| Alters. Für sie war unsere Lesung ein wichtiges Zeichen dafür, dass wir | |
| ihren Kampf nicht vergessen. Aber das reicht nicht. Europa braucht eine | |
| neue [9][Sicherheitsarchitektur], die ohne die Ukraine nicht mehr denkbar | |
| ist. Das erfordert ein Ende der Bequemlichkeit und die Bereitschaft, etwas | |
| preiszugeben, um etwas Wertvolles zu retten, das für die demokratische | |
| Verfasstheit unserer Gesellschaft unabdingbar ist: ein weltoffenes Europa | |
| des friedlichen Miteinanders. | |
| 30 Aug 2025 | |
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