# taz.de -- Hoffnung für ukrainische Kinder: „Es gibt ein ganzes System der … | |
> Russland hat Tausende ukrainische Kinder entführt, um sie putintreu zu | |
> erziehen. Die Anwältin Kateryna Rashevska ist auf die Fälle | |
> spezialisiert. | |
Bild: 19. Februar 2024 in der Botschaft von Katar in Moskau: Marija Lwowa-Below… | |
taz: Frau Rashevska, die Ukraine hat Russland bei der Verhandlungsrunde in | |
Istanbul eine Liste mit Namen von entführten Kindern übergeben und deren | |
Rückkehr zu einer Bedingung erklärt. Wie sehen Sie diesen Vorstoß? | |
Kateryna Rashevska: Ich bin sehr dafür, dass die Rückkehr aller | |
ukrainischen Kinder vor einem Waffenstillstandsabkommen und einem | |
Friedensabkommen erfolgen sollte, denn Kinder sind keine Kriegsgefangenen | |
oder zivile Häftlinge. Wir könnten so auch herausfinden, ob die Russen | |
wirklich in der Lage sind, Abkommen einzuhalten. Leider ist derzeit nicht | |
davon auszugehen, dass sie sich darauf einlassen. | |
taz: Die Ombudsstelle für Kinderrechte in der Ukraine hat knapp 20.000 | |
Fälle von Kindesentführungen in die Russische Föderation dokumentiert, doch | |
es dürften noch weit mehr sein. Wie werden die Kinder verschleppt? | |
Rashevska: Oft ist es so: Russische Eltern kommen in die besetzten Gebiete, | |
wählen Kinder aus Internaten aus und adoptieren sie. Diese Internate hat | |
Russland geschaffen, dort befinden sich Waisenkinder oder Kinder, die die | |
Behörden aus den Familien genommen haben, mit der Begründung, dass sie dort | |
schlecht behandelt wurden. Der letzte Fall einer solchen Verschleppung | |
wurde von meiner Organisation im April 2025 dieses Jahres dokumentiert. Es | |
geht also weiter mit den Deportationen. Rechtlich wird es an dieser Stelle | |
kompliziert: Russland verletzt das humanitäre Völkerrecht nicht, wenn sie | |
„schlechte“ Eltern ihrer Rechte beraubt. | |
taz: Lässt sich überhaupt prüfen, was genau passiert ist? | |
Rashevska: Nein. Wir haben keinen Zugang zu den besetzten Gebieten, um zu | |
überprüfen, ob es zu Verschleppungen oder Misshandlungen gekommen ist oder | |
ob Russland die Entziehung der elterlichen Rechte als Mittel eingesetzt | |
hat, um Druck auf die Eltern auszuüben. Die Russische Föderation hat kein | |
Recht, solche Kinder in russischen Familien unterzubringen. Russland wäre | |
verpflichtet, sich mit der Ukraine, dem Herkunftsland des Kindes, in | |
Verbindung zu setzen, um die Frage der weiteren Unterbringung des Kindes zu | |
klären. Das passiert aber natürlich nicht immer. | |
taz: Wann begannen diese Verschleppungen? | |
Rashevska: Bereits mit der Annexion der Krim. Laut OSZE sind allein von | |
dort seit 2014 über 1.000 Kinder nach Russland gebracht worden, nach | |
Sibirien oder in den fernen Osten. Kaschiert wurden diese Transporte von | |
Beginn an, indem man vorgab, Kindern zu helfen oder zu evakuieren. Ende | |
2014 fuhr medienwirksam der erste „Zug der Hoffnung“ von der Krim ab, zwölf | |
ukrainische Kinder wurden nach Russland gebracht. | |
taz: Was hat Russland getan, um die Taten zu legitimieren? | |
Rashevska: Zum Beispiel legte die Russische Föderation für die Waisenkinder | |
von der Krim fest, dass alle ukrainischen Waisenkinder zu russischen | |
wurden. Und begann später, diese Gesetzgebung auf die anderen besetzten | |
Gebiete auszuweiten. Wichtig zu wissen dabei: [1][Eine umfangreiche | |
Recherche hat unter anderem gezeigt], dass neun von zehn Waisenkindern aus | |
den besetzen Gebieten keine „biologischen Waisen“ waren, sondern soziale | |
Waisen. Sie haben also identifizierbare Eltern. | |
taz: Was macht Russland mit den Kindern? | |
Rashevska: Sie geben sie zum Beispiel in russische Familien mit | |
Kinderwunsch. Die Pflegefamilien für Kinder von der Krim haben sie sehr gut | |
ausgewählt, da kamen sie zum Beispiel in Familien, die eigene Kinder | |
verloren hatten und sich sehnlichst neue Kinder wünschten. Das ist sehr | |
ähnlich zu dem, was die Nazis zum Teil während des Zweiten Weltkriegs in | |
osteuropäischen Ländern im Rahmen des „Lebensborn“-Programms gemacht habe… | |
Sie raubten dort Kinder, um sie überzeugten Nationalsozialisten zur | |
Adoption anzubieten. Auch sie haben die Kinder oft in Familien gegeben, die | |
sie gut behandelten. Putin zwangsrussifiziert all diese Kinder, gibt ihnen | |
die russische Staatsbürgerschaft, was die mögliche Rückkehr weiter | |
erschwert. | |
taz: Was bekommen die Adoptiveltern vom Staat dafür? | |
Rashevska: Adoptiveltern bekommen einmalig und monatlich etwas Geld | |
ausgezahlt. Putin vergibt aber den Status der „Mutterheldin“ heute auch an | |
Adoptivmütter, die zehn Kinder und mehr aufziehen. | |
taz: Alles mit dem Ziel, dass die Kinder ideologisch geformt werden? | |
Rashevska: Ja. Putin will diese Kinder und Jugendlichen umerziehen und zu | |
Feinden der Ukraine machen. Anfangs waren die Pflegeeltern oft Lehrer, aber | |
mittlerweile sind es zunehmend Vertreter der russischen Armee oder andere | |
Personen, von denen Loyalität gegenüber dem Staat erwartet wird. Putin will | |
diese Kinder auch der Ukraine entreißen: Laut unseren Daten bilden Jungen | |
im Alter von 14 bis 17 Jahren die größte Gruppe von Kindern, die nach 2022 | |
in russische Familien gebracht wurden. Ich nehme an, dass Russland | |
vielleicht gar nicht vorhat, alle diese Jungen nach Erreichen der | |
Volljährigkeit in die russische Armee zu schicken, sondern dass sie vor | |
allem der Ukraine diese Möglichkeit nehmen wollen. | |
taz: Die ukrainischen Behörden [2][haben 19.564 Fälle von | |
Kindesentführungen in den besetzten Gebieten registriert, von denen 1.345 | |
Kinder – auch dank Organisationen wie Save Ukraine und der SOS-Kinderdörfer | |
– zurückkehren können]. Wie kommen die Zahlen zustande? | |
Rashevska: Sie stammen aus verschiedenen Quellen. In circa 3.000 Fällen | |
haben die Eltern oder Großeltern sie den Angaben zufolge als vermisst | |
gemeldet und dies bei der ukrainischen Polizei angezeigt. Dann gab es auch | |
noch rund 4.000 Kinder, die Waisen waren oder ohne elterliche Fürsorge | |
aufgewachsen sind. Die Einrichtungen, in denen sie waren, kamen unter | |
russische Kontrolle, die Russen selbst meldeten, dass die Kinder | |
fortgebracht wurden. Manchmal kennen Kinder, die zurückkehren konnten, auch | |
andere Kinder in Russland, können sich an deren Namen und Nachnamen | |
erinnern und dann wird ermittelt. Und es werden Informationen aus offenen | |
Quellen genutzt, um Kinder zu identifizieren, zum Beispiel Fotos aus | |
ukrainischen Registern oder andere Instrumente. Man kann davon ausgehen, | |
dass die tatsächliche Zahl weit höher liegt. | |
taz: Sie sind Juristin beim Regional Center for Human Rights in Kyjiw. Was | |
können Sie für die verschleppten Kinder tun? | |
Rashevska: Aktuell können wir nicht mehr machen, als Beweise zu sammeln. | |
Wir haben keinen Zugang zum russischen Staatsgebiet und den besetzten | |
Gebieten. Aber wir können nicht resignieren oder davon ausgehen, dass diese | |
Kinder ohnehin nicht zurückkehren werden. Wir brauchen Beweise, damit wir | |
Strafverfahren auf nationaler Ebene in der Ukraine eröffnen können und | |
Fälle vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen können. | |
taz: Welche Beweise liegen Ihnen vor und wie sichern Sie diese? | |
Rashevska: Einige Beweisquellen können wir nicht offenlegen. Wir nutzen | |
aber öffentlich zugängliche Informationen und verfügen über ein | |
umfangreiches Netzwerk von Partnern – Journalisten, Aktivisten, Freiwillige | |
und Cyberspezialisten –, die uns Daten weitergeben können, die die | |
russische Seite zu verbergen versucht. Die Russen dokumentieren ihre Taten | |
zum Teil auch selbst, wenn sie offen über die Verschleppung ukrainischer | |
Kinder und deren Russifizierung sprechen. Alle öffentlich zugänglichen | |
Beweise werden aufbewahrt. Ebenso werden alle anderen Informationen | |
unverzüglich an nationale Ermittlungsbehörden und internationale | |
Organisationen weitergeleitet. | |
taz: Der IstGH hat 2023 Haftbefehl gegen Wladimir Putin und die russische | |
Präsidialkommissarin für Kinderrechte, Marija Lwowa-Belowa, erlassen. | |
Beiden werden „Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation der | |
Bevölkerung“ vorgeworfen. Hat das etwas bewirkt? | |
Rashevska: Ja. Zum Beispiel gab es Kinder, die in den sogenannten | |
Umerziehungslagern festgehalten wurden. Einige konnten zurückkehren. Die | |
Russen haben zwar aktiv nichts dafür getan – sie stellten den Familien, die | |
den Mut hatten in diese Lager auf der Krim oder in Russland zu reisen, um | |
ihre Kinder zurück in die Ukraine zu holen, sogar zusätzliche Hindernisse | |
in den Weg. Es gelang den Eltern trotzdem. Rechtlich sollten die | |
Deportationen aber aufgrund des Ausmaßes auch als Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit anerkannt werden. Denn es handelt sich um koordinierte und | |
staatlich gestützte Deportationen in vielen Tausend Fällen. | |
taz: Welche Rolle spielt Marija Lwowa-Belowa? | |
Rashevska: Eine sehr aktive. Sie ist mehr als nur mitverantwortlich. | |
Zeitweise hat sie selbst auch einen Jungen aus Mariupol bei sich | |
aufgenommen und gefördert, sie instrumentalisiert die Kinder und setzt sie | |
für Propaganda ein. Aber Putin ermöglicht natürlich die Praxis des | |
Kinderraubs, bereits 2022 hat er den Erwerb der russischen | |
Staatsbürgerschaft für ukrainische „Kinder ohne elterliche Fürsorge und | |
geschäftsunfähige Personen“ vereinfacht. Dies macht die Deportationen | |
möglich. | |
taz: Hat sich die Strategie in Bezug auf die Kinderentführungen im Laufe | |
der Zeit verändert? | |
Rashevska: Neu ist, dass das Putinregime in den besetzten Gebieten | |
inzwischen ein ganzes System der Indoktrination organisiert hat, das das | |
gesamte formale Bildungssystem – Schulen, Kindergärten und Universitäten – | |
einschließt. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, Kinder in | |
Umerziehungslagern festzuhalten. | |
taz: Einige Kinder leben seit über zehn Jahren bei russischen Eltern. Wie | |
realistisch ist es, dass sie zurückkehren? | |
Rashevska: Darüber muss die ukrainische Gesellschaft dringend sprechen. | |
Wäre es in Ordnung, die Kinder, die 2014 deportiert wurden, zurückzuholen? | |
Sie sind inzwischen integriert, sie sind aufgewachsen als Russ*innen. Es | |
wäre wahrscheinlich gegen das Kindeswohl, sie zurückzuholen. Das ist ein | |
sehr sensibles Thema. Die Antwort auf diese Frage liegt nicht nur im | |
rechtlichen und moralischen Bereich, sondern auch im Bereich der nationalen | |
Interessen und der Sicherheit der Ukraine. Wir können nicht einfach sagen, | |
dass die Kinder den Russen überlassen werden sollten. Allerdings müssten | |
wir uns eingestehen, dass ein Teil unserer entführten Kinder für immer in | |
Russland bleiben wird. | |
8 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.reuters.com/graphics/UKRAINE-CRISIS/ORPHANS/dwpkrxzwwvm/ | |
[2] https://www.bringkidsback.org.ua/ | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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