# taz.de -- Serhij Zhadan über seinen Erzählband: „Der Krieg bricht die Spr… | |
> Serhij Zhadan ist seit einem Jahr in der ukrainischen Armee und hat neue | |
> Erzählungen veröffentlicht. Hier spricht er über das Schreiben im Krieg. | |
Bild: Serhiy Zhadan, ukrainischer Dichter, Rockstar und jetzt Soldat, in der Re… | |
Der ukrainische Autor [1][Serhij Zhadan] hat ein neues Buch veröffentlicht, | |
das so ist wie keines seiner vorherigen Bücher. Der Erzählungsband „Keiner | |
wird um etwas bitten“ skizziert den Alltag in der Ukraine nach Beginn des | |
russischen Angriffskriegs im Februar 202. Zhadan erzählt von einem Land, in | |
dem „das Leben zerbrochen, […] die Zeit zerbrochen“ ist, „sich das Gef�… | |
des Atmens verändert“ hat, wie es in einer Short Story heißt. Zhadan hat | |
sich selbst den Streitkräften seines Heimatlandes angeschlossen, er ist für | |
Kommunikation zuständig und betreibt aus seiner Heimatstadt Charkiw Radio | |
Chartija, ein Frontradio. Er hat der taz schriftlich einige Fragen | |
beantwortet. | |
taz: Serhij Zhadan, Sie sind seit Frühjahr 2024 Mitglied der 13. Brigade | |
der ukrainischen Nationalgarde. Wie geht es Ihnen, wie ist Ihre Situation? | |
Serhij Zhadan: Die Lage in der Brigade ist stabil – unsere Einheit ist an | |
der Verteidigung der Region Charkiw beteiligt. Da viele Soldaten in der | |
Brigade aus Charkiw kommen, ist das für sie ein zusätzlicher Ansporn, ihre | |
Stadt und ihre Stadtteile zu verteidigen, die quasi unmittelbar hinter den | |
Schützengräben liegen. Die Brigade soll jetzt umstrukturiert werden – in | |
naher Zukunft wird ein ganzes Corps der Nationalgarde nach den Erfahrungen | |
unserer Brigade aufgebaut. Für uns bedeutet das eine neue Herausforderung, | |
neue Aufgaben, neue Arbeit. Wir wollen eine völlig neue Einheit aufbauen, | |
die sich vollkommen von den Prinzipien der Sowjetarmee löst und sich an den | |
Prinzipien der Nato ausrichtet. | |
taz: Wie ist Ihre bisherige Zeit beim Militär verlaufen? | |
Zhadan: Nach der Ausbildung auf dem Truppenübungsplatz habe ich zwei Monate | |
lang in einem Unterstützungsbataillon gedient. Dann wurde ich in die | |
Abteilung für zivil-militärische Kommunikation versetzt. Dort bin ich | |
derzeit tätig. Unser Team leistet Kommunikations- und Medienarbeit sowohl | |
innerhalb der Brigade als auch außerhalb, im nichtmilitärischen Bereich. | |
Wir schlagen kommunikative Brücken zwischen der Armee und dem Hinterland | |
und versuchen, die Soldaten der Brigade mit allem zu versorgen, was sie | |
brauchen – angefangen von der technischen Ausrüstung bis zur moralischen | |
und psychologischen Unterstützung. Wir sind eine innovative Brigade und | |
verfügen über eine fortschrittliche, gut ausgebildete Führung. Wir sind | |
fest davon überzeugt, dass man eine völlig andere Armee aufbauen kann, eine | |
Armee, in der Raum ist für Führung, Selbstverwirklichung und gegenseitigen | |
Respekt. Und vor allem, in der das Leben jedes einzelnen Soldaten den | |
größten Wert darstellt. | |
taz: Europa und die USA sind dabei, als westliche Einheit zu zerfallen. Wie | |
viel Sorge macht Ihnen die veränderte geopolitische Situation? | |
Zhadan: Ich persönlich habe eigentlich immer in erster Linie auf die | |
Ukrainer gehofft. Unsere Freiheit und unsere Zukunft sind zunächst einmal | |
vor allem für uns selbst wichtig, so viel steht fest. Natürlich rechnen wir | |
weiterhin mit unseren Verbündeten, vor allem mit den europäischen, aber es | |
ist unser Land, und niemand muss uns davon überzeugen, dass wir für unser | |
Land einstehen müssen. | |
taz: Ihre Prioritäten haben sich während Ihrer Zeit bei der Brigade völlig | |
verschoben, sagten Sie vor einigen Monaten in einem Interview. Wie | |
bedeutend ist es für Sie, Geschichten wie die in Ihrem neuen Buch „Niemand | |
wird um etwas bitten“ zu schreiben? | |
Zhadan: Für mich war es wichtig, diese Erfahrung festzuhalten – die | |
Erfahrung des ersten Kriegsjahrs. Für mich geht es in diesem Buch um die | |
Geschichten und Stimmen, deren Zeuge ich geworden bin, die ich persönlich | |
gehört habe. Es sind Geschichten über den Raum zwischen Krieg und zivilem | |
Leben, über das Leben in den ukrainischen Städten in Frontnähe. Ich wollte | |
diesen Grenzraum zwischen Leben und Tod, zwischen Verzweiflung und | |
Hoffnung, zwischen Liebe und Hass einfangen. | |
taz: Was hat sich in Ihrem Schreiben verändert, ist es momenthafter, | |
deskriptiver geworden? | |
Zhadan: Alles hat sich verändert – der Ton, der Stil, die Figuren, der | |
Rhythmus. Der Krieg bricht die Sprache. Er vereinfacht sie, macht sie | |
farblos. Das ist ein schwieriger psychologischer Prozess. Ich habe noch | |
keine Vorstellung davon, wie ich nach dem Krieg schreiben werde. | |
taz: In einer Geschichte spazieren Vater und Sohn durch das verlassene | |
Charkiw und sehen sich eine Aufzeichnung des legendären Fußballspiels an, | |
in dem Maradona das Handtor erzielt hat. Ist diese Geschichte eine Art | |
Parabel für die Situation in der Ukraine? | |
Zhadan: Die Kinder stehen für mich in diesem Krieg einfach an erster Stelle | |
– sie sind am verletzlichsten, sie sind am wenigsten geschützt. Und | |
gleichzeitig sind sie es, denen die Zukunft gehört, an ihnen hängen | |
Hoffnung und Optimismus. Die Kinder, die im Land geblieben sind, machen den | |
Glauben und die Stärke aus. | |
taz: Betreiben Sie weiterhin das „Frontradio“ Radio Chartija? | |
Zhadan: Ja, wir haben das erste Brigade-Radio in der ukrainischen Armee | |
gegründet – Radio Chartija (dt.: „Radio Charta“, benannt nach der Einheit | |
Zhadans). Es ist ein Onlinemedium, mit dem wir versuchen, das Leben und die | |
Aktivitäten der Brigade abzubilden, ihre Philosophie und ihre Grundsätze | |
vorzustellen. Wir sind auf unserem Youtube-Kanal oder über unseren | |
Radio-Button zu hören und zu sehen. Wir lassen auch Kulturschaffende und | |
Vertreter der Gemeinden, die direkt an der Front liegen, zu Wort kommen und | |
versuchen, aktuelle Themen und Diskussionen zu begleiten. Wir wollen | |
spüren, wie sich die Töne und Stimmen der Gesellschaft verändern, wie das | |
Land heute klingt, was es sagen – und was es hören will. | |
taz: Wie sieht die Arbeit der Journalist:innen bei Radio Chartija aus? | |
Zhadan: Wir nehmen viele Podcasts auf und berichten direkt von den | |
Positionen, wo unsere Soldaten stehen. Wir haben aber auch ein Studio, aus | |
dem wir live senden, in das wir viele interessante Gäste einladen, die | |
heute in Charkiw leben, Armeeangehörige, aber auch Zivilisten. Wir möchten | |
die Stadt porträtieren, die seit mehr als drei Jahren die Stellung hält und | |
versucht weiterzuleben und sich selbst zu erhalten. Die Studio-Mitarbeiter | |
sind auch unterwegs, sie fahren in Orte und Dörfer, die an der Front | |
liegen, und senden live von dort. Der Radiosender ist nicht mein | |
persönlicher Arbeitsschwerpunkt, aber ein wichtiger Teil dessen, was ich im | |
vergangenen Jahr getan habe. | |
taz: Wie ist Ihr Tagesablauf derzeit? | |
Zhadan: Jeden Tag gibt es zahlreiche Aufgaben, Sitzungen, Gespräche und | |
Absprachen. Das ist eine Menge Arbeit, aber sie kommt der Brigade und | |
meinen Kollegen zugute, so dass niemand motiviert werden muss. | |
Was gibt Ihnen Kraft nach mehr als drei Jahren Krieg? | |
Zhadan: Die eigene Verantwortung und die große Liebe zu den Menschen, mit | |
denen ich Zeit und Ort teile. | |
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe | |
31 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Friedenspreis-2022-fuer-Serhij-Zhadan/!5889668 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Armee | |
Alltagsleben | |
Kurzgeschichte | |
Front | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Charkow | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025 | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tamara Dudas Roman „Donezk Girl“: Die Farben sind plötzlich andere | |
Die ukrainische Autorin Tamara Duda hat einen Roman über die Russifizierung | |
des Donbass ab 2014 geschrieben. Sie selbst half als Freiwillige der Armee. | |
Ausstellung des Literaturmuseums Charkiw: Im Verborgenen weiterleben | |
Eine Wanderausstellung aus Charkiw zeigt derzeit in Berlin die Folgen des | |
russischen Imperialismus auf die ukrainische Literatur. | |
Umweltschutz in Ukraine: Wie sich die Zivilgesellschaft für einen Wald einsetzt | |
In Charkiw in der Ostukraine leisten Bewohner:innen Widerstand gegen | |
eine Kiesgrube. Sie wollen ihr Land ökologisch wieder aufbauen. | |
Kurzgeschichten von Serhij Zhadan: Den Siegern verzeiht man | |
Die Sprache durchdringend: Wie sich der Krieg in alle Bereiche des Lebens | |
einschreibt, davon erzählt der ukrainische Autor Serhij Zhadan in zwölf | |
Short Storys. | |
Literatur gegen den Krieg: Lesezeichen setzen | |
Der Krieg hat das Bedürfnis nach einer eigenen kulturellen Identität | |
verstärkt – der Buchladen „Sens“ setzt ein klares Zeichen gegen russisch… | |
Einfluss. | |
Gedichte aus dem Krieg von Serhij Zhadan: Die Sprache versagte, erst langsam ke… | |
Über den Krieg muss geschrieben werden: Serhij Zhadan, bedeutender | |
Intellektueller der Ukraine und zurzeit auch Soldat, veröffentlicht neue | |
Gedichte. |