| # taz.de -- Literatur gegen den Krieg: Lesezeichen setzen | |
| > Der Krieg hat das Bedürfnis nach einer eigenen kulturellen Identität | |
| > verstärkt – der Buchladen „Sens“ setzt ein klares Zeichen gegen | |
| > russischen Einfluss. | |
| Bild: Im „Sens“ sitzen vor allem junge Menschen an den Tischen | |
| Du kannst mit Hunden, Katzen oder Erdhörnchen zu uns kommen. Mit imaginären | |
| Freunden, aber natürlich auch mit echten. Kurzum: Bei uns kannst du | |
| wirklich alles machen – solange es nicht auf Russisch ist.“ So wirbt der | |
| Buchladen „Sens“ in Kyjiw auf der Plattform X. Und nennt sich provokant | |
| „russophobes Buchgeschäft“. | |
| Der hippe Laden hat im Februar 2024 direkt im Herzen der [1][ukrainischen | |
| Hauptstadt eröffnet] – an der Prachtstraße Chreschtschatyk. Mit über 1.500 | |
| Quadratmetern auf drei Stockwerken ist er weit mehr als der größte | |
| Büchertempel der Stadt. Wöchentlich finden hier Kulturveranstaltungen | |
| statt, eine kleine Galerie zeigt wechselnde Ausstellungen, im Erdgeschoss | |
| gibt es ein großes Café. Vor allem junge Menschen sitzen hier an runden | |
| Tischen, nippen an ihrem Orangen-Cappuccino, schmökern oder tippen auf | |
| ihren Laptops. Einige haben tatsächlich ihre Hunde dabei, andere sind mit | |
| Freunden da. Kaffeegeruch und leise Musik sorgen für entspannte Atmosphäre. | |
| Jeder Platz ist besetzt. An der Kasse bedient eine junge Frau mit | |
| angesteckten Elfenohren. | |
| Inhaber Oleksij Erinchak, ein kleiner drahtiger Mann mit schwarzem Undercut | |
| und Schnäuzer, erklärt das Konzept seines Ladens, übrigens schon der zweite | |
| in Kyjiw. Die erste Filiale gibt es schon seit 2021. „Sens“ solle Raum für | |
| ukrainischsprachige Literatur und Begegnungen bieten, mit Belletristik und | |
| Sachbüchern im Keller, einer großen Kinderbuchabteilung nebst Spielzimmer | |
| im Erdgeschoss sowie viel Raum für Veranstaltungen im Obergeschoss. | |
| „In der Ukraine gibt es nur wenige Kulturhäuser. Und in öffentlichen | |
| Büchereien mögen es die Mitarbeiter gerne ruhig. Man fühlt sich dort oft | |
| nicht sehr willkommen.“ Mit seinem Laden will Erinchak diese Lücke | |
| schließen. Das Konzept geht ganz offenbar auf. Der Laden brummt, auf Plätze | |
| im Café muss man warten, ständig klappt die Tür. Im Schnitt kommen 50.000 | |
| Besucher pro Monat. | |
| ## Vor allem aber profitiert die ukrainischsprachige Literatur | |
| [2][Der ukrainische Buchmarkt] erlebt aktuell gerade einen Aufschwung, was | |
| sich in der zunehmenden Zahl von neuen Buchläden und Neuerscheinungen in | |
| ukrainischer Sprache zeigt. Die Sprache, die Kultur, die sich auch über | |
| Bücher vermittelt, ist in dem Land identitätsstiftend geworden für viele | |
| Menschen seit dem russischen Angriffskrieg. Vor allem aber profitiert die | |
| ukrainischsprachige Literatur von dem Importstopp für russischsprachige | |
| Literatur aus Russland und Belarus, der im Juni 2022 per Gesetz beschlossen | |
| wurde. Dieses Gesetz verbietet den Verkauf von Büchern, die nach Beginn der | |
| Okkupation in diesen Ländern gedruckt wurden. Denn russische Bücher waren | |
| für gewöhnlich billiger, viele kamen auch illegal ins Land. Das ist nun | |
| vorbei – und darum stehen in den neuen, großen Buchläden Kyjiws jetzt fast | |
| ausschließlich Bücher in ukrainischer Sprache – darunter viele Klassiker, | |
| die im eigenen Land bislang nur wenig bekannt waren. | |
| Vor ein paar Tagen erst gab es hier eine Lesung mit dem amerikanischen | |
| Historiker Timothy Snyder, die Werbung dafür hängt noch im Schaufenster. | |
| „30 Minuten, nachdem wir die Anmeldefunktion freigeschaltet hatten, gab es | |
| schon 400 Anmeldungen“, erzählt Erinchak stolz. Der 40-Jährige verdient | |
| sein Geld eigentlich mit der Entwicklung von Onlinespielen, mit „Sens“ habe | |
| er sich einen Traum erfüllt, erzählt er. Der ukrainische Unternehmer, | |
| trendig gekleidet in schwarzem Sweatshirt, beiger Chinohose und | |
| orangefarbenen Sneakern stammt aus der Hafenstadt Mykolajiw am Schwarzen | |
| Meer und wuchs dort russischsprachig auf. Doch nach der Geburt seine Sohnes | |
| Orest 2015 entschied er sich, mit dem Kind Ukrainisch zu sprechen. Anfang | |
| 2022 wechselte er dann ganz zur ukrainischen Sprache. Ein recht häufiges | |
| Phänomen in der Ukraine. Selbst wenn viele Menschen weiterhin im Alltag | |
| Russisch sprechen. | |
| Früher sei das mit der Sprache nie so wichtig gewesen, meint Oleksij | |
| Erinchak. „Kakaja rasniza?“, hätten die Menschen auf Russisch gefragt. | |
| Also: Welchen Unterschied mache es, ob man nun Ukrainisch oder Russisch | |
| spreche oder lese? Doch schon nach den Maidan-Protesten 2014, spätestens | |
| aber 2022 hätten die Menschen in dem zweisprachigen Land begonnen, nach | |
| einer eigenen Identität zu suchen und sich dabei mehr und mehr mit | |
| ukrainischer Kultur beschäftigt. Bei „Sens“ wolle man zeigen: „Es ist ke… | |
| kleine oder tote Kultur. Aber der Laden will auch ein „Safe Space“ für | |
| Menschen sein, die durch die russische Sprache traumatisiert wurden, weil | |
| sie zum Beispiel Haft oder Folter unter russischer Besetzung erleben | |
| mussten.“ | |
| Erinchak sprudelt nur so vor Ideen: Im Buchclub „Sens“ werden jeden Monat | |
| neue Bücher vorgestellt. Die Veranstaltungen werden als Podcast | |
| mitgeschnitten und können von überall gestreamt werden. Bei ihrer Aktion | |
| „Befreit die Regale von russischer Literatur“ konnten Menschen ihre | |
| russischsprachigen Bücher abgeben; 40.000 Kilogramm seien zusammengekommen | |
| und wurden zum Recyceln gegeben. „In der Sowjetzeit mangelte es an vielem. | |
| Nur Bücher gab es immer und sie waren billig. Aber viele Ukrainer möchten | |
| jetzt keine russischsprachigen Bücher mehr zu Hause haben“, erklärt | |
| Erinchak. Solche Aktionen gibt es in der ganzen Ukraine, sie haben großen | |
| Zuspruch. In einem Land, das fast jede Nacht russische Luftangriffe erlebt, | |
| ist das vielleicht auch nicht besonders verwunderlich. Eines stellt | |
| Erinchak dann aber doch klar: „Wir sind proukrainisch, nicht | |
| antirussisch.“ | |
| Auch drei Jahre nach Beginn des russischen Großangriffs sprechen viele | |
| Ukrainer*innen überwiegend Russisch, die Sprache mit der sie | |
| aufgewachsen sind und in der sie sich zu Hause fühlen. Eine | |
| „Zwangsukrainisierung“ der russischsprachigen Bevölkerungsteile gibt es in | |
| der Ukraine bis heute nicht, entgegen russischer Propaganda. | |
| Auch in den anderen Kyjiwer Buchläden gibt es keine russischsprachigen | |
| Bücher mehr zu kaufen. Lange Zeit war für den ukrainischen Buchmarkt die | |
| Existenz russischsprachiger Literatur ein großes ökonomisches Problem. | |
| Anfang der 1990er Jahre wurden bis zu 85 Prozent aller in der Ukraine | |
| verkauften Büchern aus dem Ausland eingeführt, noch 2021 stammten offiziell | |
| etwa 35 Prozent der im Land verkauften Bücher aus Russland, die Zahl der | |
| illegal eingeführten Bücher dürfte weitaus größer gewesen sein. Russische | |
| Bücher waren in der Regel sehr viel billiger als die ukrainischen und damit | |
| eine große Konkurrenz. Für Menschen, die in beiden Sprachen lesen, gab dann | |
| oft der Preis den Ausschlag. Durch das im Juni 2022 verabschiedete Gesetz | |
| entstand eine große Lücke, die muss jetzt gefüllt werden. Und das ist gar | |
| nicht so leicht, denn noch immer gibt es im Land zu wenige Verlage, zu | |
| wenige Übersetzer und zu wenige Buchläden. | |
| Das Konzept des „russophoben“ Buchladen kommt allerdings nicht bei allen | |
| Ukrainern gut an. Ruslan, der seinen richtigen Vornamen nicht in einer | |
| deutschen Zeitung lesen will, ist russischer Muttersprachler aus der | |
| Ostukraine. Seit Kriegsbeginn 2014 lebt der 32-Jährige in Kyjiw, mit seiner | |
| schwarzen Hornbrille wirkt er ernst, nur selten verzieht sich sein Mund zu | |
| einem Ansatz von Lächeln und immer wieder rettet er sich in Sarkasmus. Zum | |
| Gespräch über Literatur haben wir uns in einem Café verabredet. Zu „Sens“ | |
| gehe er nicht, sagt Ruslan. „Mir gefällt nicht, wie sie die Diskriminierung | |
| der russischen Sprache zu Werbezwecken nutzen.“ | |
| Ruslan hat ukrainische Literatur auf Lehramt studiert. Bereitwillig | |
| schreibt er die seiner Meinung nach wichtigsten ukrainischsprachigen | |
| Autor*innen auf: Taras Schewtschenko, Pantelejmon Kulisch, Marko | |
| Wowtschok, Panas Myrnyj, Iwan Franko, Olha Kobyljanska, Mychajlo | |
| Kozjubynskyj, auch Exilautoren wie Wolodymyr Wynnytschenko oder Iwan | |
| Bahrjanyj und den allgemein als russischen Autoren bekannten, aber aus der | |
| Ukraine stammenden Mykola Hohol (russ. Nikolai Gogol). Auf die Frage, was | |
| er denn selber gerade lese, sagt Ruslan trocken: „Tschernyschewski“. Der | |
| russische Autor und Revolutionär aus dem 19. Jahrhundert ist bei uns vor | |
| allem für seinen Roman „Was tun?“ bekannt. Zum Treffen hat er ein | |
| antiquarisches Buch von Wassyl Stefanyk mitgebracht: Der aus Galizien | |
| stammende Autor gilt mit seinen expressionistischen Kurzgeschichten als | |
| Klassiker der ukrainischen Literatur. „Den kennt jedes Schulkind“, erklärt | |
| Ruslan. | |
| Auch die 27-jährige Juliia ist kein besonderer Fan von „Sens“. Dabei liest | |
| sie viel, besonders ukrainische zeitgenössische Literatur. „Lesen entspannt | |
| mich, besonders während der Luftangriffe. Aber für Bücher über den Krieg | |
| bin ich noch nicht bereit. Und russische Bücher lese ich auch nicht, wir | |
| haben genug an russischen Drohnen und Raketen“, sagt sie ernst. „Sens“ sei | |
| ihr allerdings zu groß, zu voll – „und die Bücher stehen im Keller, da | |
| denke ich immer gleich an Luftschutzraum“, fügt sie hinzu. Wir treffen uns | |
| stattdessen in ihrem Lieblingsbuchladen „Readeat“ an der Metrostation | |
| „Olimpiiska“. | |
| Das zweistöckige Geschäft ist luftig und gemütlich. Im Erdgeschoss gibt es | |
| ein kleines Café, Kuchen und Getränke darf man sich auch mit nach oben | |
| nehmen. Bei unserem Besuch am Samstagvormittag geht es gerade hoch her: | |
| Eine Schar Vorschulkinder drängelt sich um die Plätze in einem Stuhlkreis. | |
| Wie jedes Wochenende findet hier eine Bilderbuchlesung statt. Ein etwa | |
| Fünfjähriger fischt gedankenverloren die Marshmallows aus seinem Kakao, | |
| während er der Geschichte zuhört. | |
| Die Auswahl in diesem übersichtlichen Laden scheint noch etwas größer als | |
| im „Sens“ zu sein. Ukrainische Klassiker in Neuausgaben stehen neben | |
| zeitgenössischer Literatur. Daneben zahlreiche Sachbücher und eine große | |
| englischsprachige Abteilung. „Bücher sind in Mode“, meint Juliia. „Wir | |
| entdecken unsere Klassiker, viele davon kannten wir früher gar nicht, viele | |
| Bücher kommen gerade neu auf den Markt.“ Diese Neuentdeckung der eigenen | |
| Kultur ist ein großes Thema. Die sowjetischen Lehrpläne hatten den Fokus | |
| sehr auf eher unpolitischen Klassikern. Gerade die Schriftsteller der | |
| 1920er, 1930er Jahre, die nach einem kurzen, von der Moskauer Regierung | |
| stark beförderten Boom ukrainischsprachiger Literatur, deportiert wurden, | |
| in Lagern starben und die heute unter dem Begriff der „erschossenen | |
| Wiedergeburt“ subsumiert wurden, sind ein großes Thema. | |
| So sieht das auch Oksana. Die 37-Jährige ist Projektmanagerin bei einer NGO | |
| für Osteuropaberichterstattung. Bei unserem Gespräch im „Sens“ erzählt s… | |
| dass sie früher in der Schule neben „Ukrainischer Literatur“ auch die | |
| Fächer „Russische Literatur“ und „Weltliteratur“ hatte. In den ukraini… | |
| Büchern sei es meistens um Dorfleben, Natur und Armut gegangen. „Ich fand | |
| das als Jugendliche langweilig und konnte mich mit den Protagonisten dieser | |
| Bücher nicht identifizieren“, erinnert sie sich. „Jetzt kommen alte Bücher | |
| heraus, von denen ich noch nie gehört habe. Und die sind ganz anders, ich | |
| lese sie gern.“ Dann notiert sie für mich ihre aktuellen literarischen | |
| Entdeckungen: Natalena Korolewa, Natalja Romanowytsch-Tkatschenko, Walerjan | |
| Pidmohylnyj, Iryna Wilde. „Wir entdecken gerade so viel Neues aus unserer | |
| Kultur, durch Literatursendungen, Podcasts und Online-Buchclubs“, sagt | |
| Oksana. Russische Literatur wird an ukrainischen Schulen jetzt übrigens | |
| nicht mehr unterrichtet. | |
| [3][Zu einer Podiumsdiskussion ins „Sens“ ist auch Wolodymyr] Jermolenko | |
| gekommen. Der promovierte Philosoph mit der kleinen runden Brille ist nicht | |
| nur einer der bekanntesten Essayisten der Ukraine, sondern auch Präsident | |
| der Schriftstellervereinigung PEN Ukraine und ein ausgesprochen | |
| freundlicher Mensch. Nur bei einem Thema wird er sehr deutlich: „Ausländer | |
| fragen oft, warum Ukrainer keine russische Kultur mehr wollten“, sagt er. | |
| Das sei eine komische Frage: „Die russische Kultur hat doch ein eigenes | |
| Land, sie ist nicht bedroht. Vor allem muss sie nicht durch die Ukraine | |
| repräsentiert werden, sie kann sich selbst repräsentieren“, sagt | |
| Jermolenko. „Die russische Kultur wird nicht leiden, wenn wir sie in | |
| unserem Land nicht mehr überall haben. Wenn wir aber unsere eigene Kultur | |
| nicht fördern, dann wird es niemand tun.“ Der Philosoph wird durchaus | |
| leidenschaftlich in seinem Plädoyer: „Warum müssen wir mit der russischen | |
| Kultur in unserem Land brechen? Weil wir unsere eigene Kultur haben und sie | |
| zeigen und fördern müssen. Das Verbot von russischen Büchern hat uns die | |
| Möglichkeit gegeben, mehr über die ukrainische Kultur zu erfahren.“ | |
| Das heißt nicht, dass Ukrainer in diesem Krieg, der seit über zehn Jahren | |
| in ihrem Land tobt, nur noch um sich selber kreisen. Die meistverkauften | |
| Bücher bei „Sens“ sind im Februar 2025 die Autobiographie des ehemaligen | |
| Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, „Über | |
| Freiheit“ von Timothy Snyder. Und ein Sammelband mit Liebesgedichten. Denn | |
| die Welt dreht sich weiter. Trotz Krieg. | |
| 24 Feb 2025 | |
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| Gaby Coldewey | |
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